Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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all dem, was man hörte? Wie würde so jemand mit einer wie ihr umgehen? Jürgen behauptete, er sei toleranter, als man gemeinhin von ihm anzunehmen bereit war. Sie war nicht bereit, dem zu folgen. Nicht nach alldem, was sie gehört hatte.

      Nun lag sie in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Es wäre ihre letzte Chance, in ihrem ach so geliebten Beruf arbeiten zu können. Ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief war, dass Angst ein schlechter Ratgeber wäre.

      Zwei Wochen später hatte sie ihren Termin. Sie machte sich keine großen Hoffnungen. Sie hatte sich als Svenja Ariel beworben, in ihrem Lebenslauf stand, dass sie als Sven Ariel geboren worden war. Wenn Wulvsen oder einer seiner Adlaten diese Zeilen gelesen hätte, wäre die Sache gelaufen, davon war sie überzeugt.

      Svenja hatte mit ihren nächtlichen Überlegungen recht und auch wieder nicht. Denn Wulvsen, um das mal sehr euphemistisch auszudrücken, wusste, was er wollte, und das setzte er gemeinhin auch durch. Das, was die gemeine Öffentlichkeit, der sogenannte Mann auf der Straße über ihn in Erfahrung bringen konnte, reichte meistens, um ihn mit Begriffen wie Kotzbrocken, Menschenschinder, Heuschrecke oder Tyrann zu charakterisieren. Doch es gab noch eine andere Seite Wulvsens, da wiederum hatte Link nicht danebengelegen. Diese andere Seite jedoch führte bisher eine Existenz eher im Verborgenen, blitzte nur sehr gelegentlich auf und durch die abweisende Schale, die seine Person umgab. Doch Dr. Roger Wulvsen hatte vor ein paar Tagen eine folgenschwere Bekanntschaft gemacht.

      Die Flurbeleuchtung verlosch automatisch, so dass Tanja nun im Dunkeln vor der Wohnungstür ihrer Nachbarin stand. Für die paar Stufen vom Dachgeschoss hinunter hatte sie zehn Minuten gebraucht, immer wieder wollte sie Kehrt machen, hatte es sich dann aber anders überlegt, entsprechend oft war das Licht ausgegangen, und sie hatte sich vorsichtig bewegen müssen, um nicht zu stürzen, schließlich hatte sie Erziehungsverantwortung. Den Zettel des Arztes hielt sie krampfhaft in beiden Händen. Normalerweise erklärte der Arzt die Dosierung der Medikamente. Mündlich. Diesmal hatte er es nicht getan, und Tanja hatte einfach nicht nachgefragt, deshalb stand sie nun hier, auch auf die Gefahr hin, dass sie morgen der Spott der Hausgemeinschaft und der ganzen Straße wäre. Sie drückte entschlossen den Klingelknopf und betätigte den Lichtschalter, schließlich ging es um Martha.

      „N’abend, Frau Schulz. Entschuldigen Sie die Störung, aber ich habe ein Problem.“ Tanja sah zu Boden, in den sie am liebsten versunken wäre und hielt sich an dem Zettel mit der ärztlichen Anleitung mit beiden Händen fest. Frau Schulz sah die nicht mehr ganz junge, schöne Frau mit den langen, schwarzen Haaren und dem dunklen Teint, der den Anschein erweckte als wäre die Frau gerade erst aus dem Sommerurlaub gekommen, neugierig an, die nicht wagte, ihren Blick zu erwidern und sich ganz offensichtlich schämte. Tanja war eine hilfsbereite Person und hatte Frau Schulz schon so manchen Dienst erwiesen; dafür passte Frau Schulz hin und wieder auf Martha auf, aber das tat sie sehr gerne, denn Martha, das wusste auch schon jemand anderes, den die Frauen in diesem Augenblick gar nicht im Focus hatten, war herzallerliebst.

      „Na, dann kommen Sie mal rein.“, lächelte die alte Dame und hielt Tanja die Wohnungstür auf. Sie gingen in Frau Schulz‘ gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer.

      „Nehmen Sie doch Platz, Frau Kiel. Möchten Sie etwas trinken?“ Tanja erbat ein Wasser, denn ihr Mund war ziemlich trocken und der Kloß im Hals ließ sich einfach nicht ohne weiteres runterschlucken. Nachdem Frau Schulz, die nette Nachbarin, sie versorgt und sich gesetzt hatte, fragte sie freundlich: „Was kann ich für Sie tun?“ Zögernd und mit zittrigen Fingern legte Tanja den Zettel auf den Couchtisch. Es war ein A-6-Blatt mit einer Arzneireklame darauf.

      „Ich war heute mit Martha beim Arzt, sie hatte Magenschmerzen.“, flüsterte die Frau. „Er hat ihr Tropfen verschrieben und hier aufgeschrieben, wie sie sie einnehmen soll.“

      „Ja?“, sagte die Rentnerin und sah ihre Nachbarin fragend und auffordernd an. Etwas stimmte da nicht. Tanja strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und trank noch einen Schluck Wasser.

      „Ich …“, begann sie stockend. Sie senkte den Kopf und Frau Schulz sah, wie sich der schmächtige Körper der jungen Frau, die ihre Nichte alleine großzog, stoßweise bewegte. Als Frau Schulz merkte, dass ihre Nachbarin weinte, erschrak sie. Sie legte eine Hand auf die schmale Schulter der Schwarzhaarigen und meinte:

      „Was ist denn, ist etwas mit Martha?“ Tanja schüttelte den Kopf und wischte sich mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht.

      „Nein, ich … ich … ich kann nicht lesen.“ Frau Schulz bewegte sich nicht und sagte nichts, ließ aber ihre Hand, wo sie war. Dann stand sie entschlossen auf, öffnete eine Klappe im Wohnzimmerschrank, entnahm ihm zwei kleine Gläser und eine Flasche, füllte die Gläser mit einer klaren Flüssigkeit und stellte Gläser und Flasche neben den Zettel.

      „Es ist so demütigend, als erwachsener Mensch nicht lesen zu können.“, schluchzte Tanja. Frau Schulz tat ihre Nachbarin leid und so sann sie nach tröstenden Worten und weitergehenden Vorschlägen.

      „Aber, ich meine … Sie sind doch eine hübsche … Frau … wenn vielleicht ein Mann …“, machte Frau Schulz unvollkommene Vorschläge. Aber Tanja schüttelte resignativ den Kopf.

      „Welcher vernünftige Mann lässt sich mit jemandem wie mir ein?“, entgegnete Tanja mutlos und musste an einen gewissen Drews denken, der sich zwar mal mit ihr eingelassen hatte, aber alles andere als vernünftig gewesen war.

      Was sie nicht wusste – es hätte schon einen gegeben.

      Eine halbe Stunde und einige Gläser weiter hatten die beiden Frauen eine, wenn auch nur als vorübergehend anzusehende, Lösung für Tanjas Problem erarbeitet und verabredet, und Tanja war ein dicker Stein laut polternd von der Seele gefallen.

      „Also, so machen wir das: wenn Sie Probleme haben, kommen Sie einfach zu mir. Aber langfristig müssen Sie lesen lernen.“, sprach Frau Schulz resolut, aber sanft. Tanja strahlte sie an.

      „Ja, langfristig, wenn ich es zeitlich einrichten kann; aber im Augenblick kann ich das kaum. Ich muss arbeiten und Martha fordert auch ihre Zeit. Vielleicht nächstes Jahr, wenn Martha zur Schule geht. Wir könnten dann zusammen lernen.“ Frau Schulz nickte wohlwollend und die beiden Frauen stießen noch einmal miteinander an.

      „Die Zahlen stimmen nicht.“, sagte Tanja im Hinausgehen.

      „Welche Zahlen?“, fragte Frau Schulz.

      „Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Papier. Eine Rechnung oder so. Ich kenne die Zeichen. Es ist eine Multiplikation, eine Division und eine Addition. Sie haben falsch multipliziert und dividiert.“ Frau Schulz hielt inne.

      „Kommen Sie doch noch einmal herein.“

      Und so kam es, dass die leseunkundige Tanja ihrer zwar mathematisch nicht untalentierten, aber auf diesem Feld nicht genialen Nachbarin Hilfe zurückgeben konnte, was einerseits dazu führte, dass Frau Schulz von einem Staunen ins andere fiel, weil Tanja, ohne technische Hilfsmittel zu bemühen, weitere versicherungsmathematische Ungenauigkeiten auf ihrem Bescheid entdeckte und dass andererseits Tanja von einem wohligen Gefühl heimgesucht wurde, das sie wohl seit dem Tod ihrer Schwester nicht gehabt hatte.

      Ein Firmenwagen holte sie am Gästehaus ab und sie sahen sich zum ersten Mal. Sie gaben sich höflich die Hände und stellten sich einander vor. Hubert war den beiden Frauen auf Anhieb unsympathisch. Er wirkte bis zur Arroganz selbstsicher und herablassend. Die Mittelamerikanerin und die Skandinavierin hingegen gaben sich so, wie sie waren. Elegant und zart die eine, natürlich und robust die andere. Wie selbstverständlich nahm Hubert folgerichtig neben dem Fahrer Platz. Ella setzte sich sorglos nach hinten, doch Tonia warf Hubert einen bösen Blick zu und gab beim Einsteigen acht, dass ihre Kleidung nicht zerknitterte. Arrogante Zicke, dachte Ella. Hubert hatte sie ohnehin schon als Macho eingeordnet. Langsam, viel zu langsam fuhren sie nach Ansicht der drei leicht nervösen jungen Leute durch den morgendlichen Verkehr und hielten dann vor dem imposanten Portal der Zentrale. Hubert sprang forsch aus dem Auto, Ella stieg langsam aus und sah die Fassade des Glaspalastes hinauf. Tonia tastete