Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


Скачать книгу

in die Jackentasche, dann gab er Rehbein ein Zeichen, die daraufhin aufstand, die Tür öffnete und einen Namen rief. Wulvsen gefiel das nicht.

      „Alle zugleich.“, sagte er ins Mikrofon. Er sah Dornhege stutzen und Rehbein Anweisung geben, die die Tür schon fast hinter einer kleinen, eleganten, schwarzhaarigen Frau Mitte zwanzig mit Brille geschlossen hatte. Sie rief zwei weitere Namen. Es erschien ein Schlacks in Anzug und mit Krawatte, der sofort auf die Kommissionsmitglieder zustürmte und diese wortreich, aber nichtssagend persönlich begrüßte, sowie eine rotblond Gelockte in Pullover und Jeans, deren einziges Zugeständnis an die Wichtigkeit dieses Termins ein sportliches Sakko zu sein schien. Der Schlacks hatte sich mittlerweile soweit beruhigt, die Damen hatten ohnehin nur schweigend in die Runde genickt, dass er zwischen seinen Konkurrentinnen Platz nehmen und Dornhege die ob der stürmischen Begrüßung durch den jungen Mann leicht benommenen Kommissionsmitglieder vorstellen konnte.

      Ella Olsson aus Schweden, Tonia Esteban aus Mexiko, Hubert Kahl aus Deutschland. Alle drei Mitte zwanzig, alle drei seit mindestens fünf Jahren im Konzern. Alle drei waren überdurchschnittlich intelligent und hatten Bestbeurteilungen erhalten und arbeiteten, gemessen an ihrem Alter, in verantwortungsvollen Positionen. Fremdsprachenkenntnisse vorhanden; sie sprachen Englisch und Französisch, Deutsch und die beiden Damen eben auch ihre Muttersprache. Wulvsen hatte persönlich mit den Vorgesetzten der Kandidaten gesprochen. Wirklich ans Herz gelegt worden war ihm nur Kahl, der sehr flexibel und loyal sei. Wulvsen übersetzte das für sich mit ‚stromlinienförmig‘. Man würde sehen.

      „Kommt Herr Wulvsen nicht selbst?“, wollte Hubert Kahl, der seine Enttäuschung nicht verbergen konnte, wissen. Die Blicke der Damen verrieten, dass auch sie an einer Antwort auf diese Frage interessiert waren. Dornhege wirkte unsicher.

      „Nun, es ist so … Es handelt sich ja nicht um die Besetzung einer Führungsposition.“, fiel ihm dann ein.

      Der Anzugträger sackte etwas in sich zusammen und sah auf den Tisch.

      „Aber die Sekretärin ist doch die Person, die am nächsten an ihm dran ist.“, wandte die Schwarzhaarige mutig und berechtigt ein. Die Lockige warf ihr einen raschen Seitenblick zu. Recht hat sie, dachte Ella.

      „Sie können sicher sein, dass wir kompetent genug sind, eine solche Auswahlentscheidung zu treffen.“, beschied der Personalchef die Bebrillte, die die Belehrung regungslos entgegennahm, während die Gelockte sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und der Krawattenträger sich straffte. Wulvsen gefiel die kecke Art der jungen Damen.

      „Was soll das, Dornhege? Gehen Sie inhaltlich darauf ein.“, sagte Wulvsen ins Mikro.

      „Äh, ja. Herr Wulvsen vertraut uns. Ja.“, schob Dornhege mit rotem Kopf knapp hinterher, und es war gut für ihn, dass er Wulvsens Gesicht in diesem Moment nicht sehen konnte.

      „Beruhigend.“, flüsterte Ella.

      „Also, ich bin Teamplayer.“, trompetete Kahl ungefragt in die Runde. „Ich spiele Fußball und Handball, übernehme aber auch gerne eine Führungsrolle.“ Der Kommission fielen die Kinnladen herab. Zumindest hätten sie es können, denn so eine Eröffnung hatte sie noch nicht erlebt, und sie kannte natürlich den Mann in dem kleinen Nebenraum.

      „Ja, äh.“, stotterte Dornhege. Er konnte nicht sehen, was in dem kleinen, fensterlosen Raum hinter ihm geschah. Aber ein Teil davon war gut zu hören.

      Wulvsen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und zerknüllte wutentbrannt den Lebenslauf des Knaben.

      „Wer ist eigentlich Vorsitzender? Sie, Dornhege? Oder macht hier jeder, was er will?“, zischte er ins Mikro. „Sie werden den Raum jetzt verlassen! Und nehmen Sie den Milchbart mit! Sie können ihm die Tränen trocknen, er ist nämlich raus! Und Sie auch! Holen Sie sich zum Feierabend Ihre Papiere bei Rehbein!“ Dornhege drehte sich um und sah sich selbst im Spiegel. Er schüttelte den Kopf und machte protestierende Gesten, außerdem war er aschfahl geworden.

      „Eine Stunde vor Feierabend!“, schrie der Alte, mit dem Erfolg, dass der ehemalige Personalchef aufgab, sich mit zitternden Fingern den Knopf aus dem Ohr nahm, den Empfänger auf den Tisch legte, aufstand, „Kommen Sie bitte mit, Herr Kahl.“, sagte und mit dem verwirrten jungen Mann den Raum grußlos verließ.

      Der Betriebsratsvorsitzende und die Gleichstellungsbeauftragte wirkten ratlos, während die noch amtierende Chefsekretärin erleichtert aufatmete. Tonia und Ella hatten das Ganze mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, und hofften darauf, dass sich in der nächsten Zeit eine Erklärung für das Geschehene präsentieren würde. Sie ahnten jedenfalls zumindest, dass jemand hinter diesem Spiegel saß, und der dürfte nicht ganz unmaßgeblich sein. Und da es hier um die Funktion einer Chefsekretärin ging, konnte das nur bedeuten, dass …

      Ein paar Minuten lang geschah nichts und niemand sagte ein Wort, dann öffnete sich die Tür neben dem Spiegel und der Mann mit der Mappe, aber diesmal ohne Pullover, erschien, nickte kurz und nahm dann hemdsärmlig und mit zerzausten Haaren Dornheges Platz ein.

      Rehbein wusste nicht, was sie davon halten sollte. Es wäre zwar völlig normal, wenn der Chef seine Sekretärin persönlich aussuchte, aber was war bei Wulvsen schon normal. Oder wollte der Alte aus lauter Ärger über Dornhege ein Exempel statuieren? Ausgerechnet an den beiden unschuldigen Damen? Oder war sein Erscheinen ausnahmsweise mal ein gutes Zeichen? Die Vertreter der Belegschaft jedenfalls wurden eindeutig nervös. Wulvsens Kopf war immer noch leicht gerötet. Er beugte sich zu Rehbein und meinte flüsternd: „Hönnes soll mich früh nach Hause bringen, muss laufen.“

      Den beiden jungen Damen stellte er sich nicht vor, aber die machten sich so ihre Gedanken, und die waren ziemlich zwiespältig. Mindestens.

      Wenn das Wulvsen wäre, warum hatte er nicht gleich von Anfang an ganz souverän und rollenkonform den Vorsitz übernommen? Warum hatte er Dornhege von seiner Rolle suspendiert? Dass Kahl hatte gehen müssen, konnten sie nachvollziehen, denn dessen Benehmen war der Situation, und die war ein Vorstellungsgespräch für eine nicht ganz unwichtige Position in dem weltgrößten Konzern, völlig unangemessen gewesen. Wenn das Wulvsen wäre, gälte es, jetzt besonders vorsichtig zu sein. Eigentlich. Aber hierin waren sich die Damen unabgesprochen einig: sie würden sich nicht verbiegen lassen, auch nicht von einem Wulvsen.

      Als der sich gesetzt hatte, schob Rehbein ihm einen kleinen Zettel hinüber, auf dem nur

      Kahl und Dornhege sind verwandt

      stand. Er nickte grimmig. Das hatten wir doch schon mal, dachte er. Schon wieder Dornhege. Dann hatte er mal wieder intuitiv die richtige Entscheidung getroffen. Wollte der Kerl ihm doch glatt Verwandtschaft ins Sekretariat setzen.

      Ella erkannte den Pullovermann von eben, Tonia die Schuhe nicht, denn die konnte sie von ihrer Position gar nicht sehen. Vor ihnen saß ein Mann, wohl um die vierzig, vielleicht aber auch jünger, mit meliertem Haar und ebensolchem Fünftagebart, grauen Augen, mit aufgekrempelten, weißen Hemdsärmeln. Die Krawatte hatte er gelockert und der oberste Knopf seines Hemdes stand offen. Teuer, aber nachlässig, dachte Tonia und rückte ihre Brille zurecht. Das kann nie und nimmer der Alleinherrscher des weltgrößten Konzerns sein. Ella zog ihre Jacke zusammen, denn irgendwie schien die Raumtemperatur gesunken zu sein. Seine kalten, grauen Augen musterten sie ohne Regung, und beide wollten unabhängig voneinander diesem Blick standhalten, kapitulierten aber nach einer halben Minute, so dass sie nicht sehen konnten, wie ein flüchtiges Siegerlächeln über sein Gesicht huschte.

      Der Alte hatte einen Blick in die Bewerbungsunterlagen werfen können und war von den Lebensläufen der beiden jungen Damen angetan. Sogar die Fotos waren aktuell, hatte er festgestellt. Esteban war der südländische Typ, eben Mexikanerin, dunkler Teint, Stupsnase, aber zurückhaltend. Olsson blickte aus grünblauen Augen temperamentvoll in die Runde.

      In Wulvsens Kopf verschmolzen die beiden unterschiedlichen Köpfe der Bewerberinnen. Ellas rotblonde Locken wurden dunkel, ihre grünblauen Augen wurden braun, Tonias Teint wurde etwas heller und ihr Gesicht runder. Vor Wulvsen saß plötzlich ein ihm oberflächlich bekanntes kleines Mädchen und lächelte ihn an. Er wischte das Bild fort, aber