Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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Die fanden das auch gut. Jedenfalls besser, als wenn er persönlich anreiste, was allerdings immer noch vorkam. Über den Monitor war seine Brüllerei wohl erträglicher. Zumindest brauchten sie keine Angst vor tätlichen Übergriffen zu haben. Anfangs hatte er die Konferenzen abgehalten, wann es ihm in den Sinn kam, auch morgens oder abends, bis Rehbein ihm erklärt hatte, dass die Erde aufgrund bestimmter Gegebenheiten in verschiedene Zeitzonen aufgeteilt ist, und es morgens um neun in New York zum Beispiel erst drei Uhr in der Nacht ist. Er hatte eine Augenbraue hochgezogen und hielt von da an die Videokonferenzen um die Mittagszeit ab. Die asiatischen und amerikanischen Leitungen mussten sich dann eben anpassen.

      Sie gingen die Nachmittagstermine durch.

      „Was soll ich Frau Hönnes denn genau sagen?“, wollte sie abschließend wissen.

      „Bestellen Sie einen Tisch bei ‚Hilde‘, morgen um sieben; Hönnes soll morgen um sechs hier sein.“ Der Alte wendete sich wieder seinem Bildschirm zu, aber Rehbein blieb sitzen. „Ist noch was?“, fragte Wulvsen ungehalten. Rehbein räusperte sich.

      „Was meinen Sie damit?“ Wulvsen sah sie mit zusammengezogenen Brauen an.

      „Womit?“

      „Dass Hönnes morgen um sechs hier sein soll.“ Wulvsens Miene verfinsterte sich.

      „Das meine ich genauso, wie ich es gesagt habe.“, raunte er kompromisslos. Verstört stand Rehbein auf und ging hinaus. Das war das erste Mal in den zwölf Jahren, dass er den Fahrer zu sich bestellte. Ob das mit Hönnes‘ letztem Tag zusammenhing?

      Wulvsen schloss die Datei und stand auf. Er griff kurz zu seinem Jackett, das über seinem Bürosessel hing, zog seine Hand dann aber wieder zurück. Stattdessen öffnete er ein Fach der Schrankwand und zog erst einen Pullover heraus und dann über, nachdem er sich seiner Weste entledigt hatte. Er atmete einmal tief durch und sah über die Stadt. Seine Gedanken wanderten kurz zu einem kleinen Mädchen, das er vor kurzem kennengelernt hatte. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden und sich auf das vor ihm Liegende zu konzentrieren. Das mit dem Loswerden klappte auch, aber nur unvollkommen.

      Das Mädchen ging zielstrebig auf eine der Schaukeln des Spielplatzes vor dem Kindergarten zu und setzte sich darauf. Dann wartete es ohne zu schaukeln. Einerseits wartete es auf seine Tante, die es gleich abholen würde, aber sein Blick war nicht in die Richtung gerichtet, aus der die Tante zu erwarten gewesen wäre, sondern der ging zum Wald hinüber. Aus dem führte nämlich ein Weg heraus und zugleich hinein. Das Mädchen lächelte, als es den Läufer erblickte. Der lächelte zurück und winkte kurz, kam zu dem Mädchen gelaufen und setzte sich auf die andere Schaukel.

      Die Freude war beiderseitig. Das Mädchen war einfach froh, die Zeit bis zur Ankunft seiner Tante nicht alleine überbrücken zu müssen, und in dem Läufer einen interessanten Gesprächspartner gefunden zu haben, und der empfand die paar Minuten Unterhaltung mit dem Kind als äußerst erholsam. Nach ein paar Tagen gab er sich selbst gegenüber sogar zu, sozusagen gestärkt aus diesen Gesprächen hervorzugehen, obwohl die Gegenstände ihrer Unterhaltungen eher profan waren. Oder vielleicht gerade deshalb. Außerdem war da noch etwas … Der Läufer war viel zu sehr Realist, um auch nur im Entferntesten daran denken zu können, dass diesen Momenten eine Art Magie innewohnte. Das sollte dann später kommen.

      Das Mädchen aber lernte den Läufer mit der Zeit immer besser kennen. Besser vielleicht, als ihm das lieb sein konnte, aber er konnte damals noch nicht wissen, welche Schlüsse das Kind aus den Gesprächen mit ihm zog, angesichts seines Alters zu ziehen in der Lage gewesen war.

      Ein unscheinbarer, mittelgroßer Mann unbestimmten Alters in einem grauen Pullover über weißem Hemd und Krawatte bog mit einer Laufmappe in der Hand um die bekannte Ecke, kam grauhaarig und stoppelbärtig auf die Wartenden zu ohne zu grüßen und betrat dann ein Zimmer durch eine Tür, die sich neben der Flügeltür befand. Ella fröstelte, als ihr Blick dem des Mannes begegnete. Nur Tonia war nicht entgangen, dass er sehr teure Schuhe trug. Da sie jedoch auf seine Füße geachtet hatte, hatte sie nicht bemerkt, dass der Mann sie im Vorübergehen taxiert hatte. Dies wiederum war Ella aufgefallen, die den zweiten Menschen, den sie seit ihrer Ankunft in der Chefetage gesehen hatten, relativ neugierig betrachtet hatte. Einzig bemerkenswert hatte sie seinen eisgrauen Blick gefunden, der sie frösteln ließ. Hubert hingegen hatte, nachdem er festgestellt hatte, dass der Mann kein Anzugträger war, weggesehen.

      Dann erschienen vier weitere Personen, zwei Männer und zwei Frauen, die ihnen kurz zunickten und durch die Flügeltür schritten.

      Junges Gemüse, dachte der Alte. Wenn die geeignet wären, müsste er sich gründlich umstellen, was ihm gar nicht gefallen wollte, denn Rehbein, die in den letzten zwölf Jahren in seinem Vorzimmer gesessen hatte, war mittlerweile über sechzig und ihm eine große Hilfe gewesen, als er damals die Firma übernommen hatte, übernehmen musste, und sie wusste, wie er tickte, wusste ihn zu nehmen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Kinder ihm zuarbeiten könnten, dass sie die notwendige Reife besäßen, die Leitung des weltumspannenden Konzerns, also ihn, zu organisieren, denn dies, so wusste Wulvsen selbst nur zu gut, stellte eine besondere Herausforderung dar. Er konnte es sich nicht vorstellen, obwohl die Qualifikationen aller drei nicht in Frage standen, wie er wusste und er selbst um ein gerüttelt Maß an Fantasie verfügte. Er war sich nicht sicher, ob sie so funktionieren würden, wie er sich das für die Zukunft vorstellte. Ob sie so funktionieren könnten. Aber man würde sehen. Sie würden ihre Chance bekommen.

      Wulvsen schüttelte den Kopf, um ein Bild loszuwerden, das darin ohne sein Zutun entstanden war, was an sich schon ein Unding war. Es war das Bild eines lockenköpfigen Mädchens.

      Der Besprechungsraum war nicht zu groß und ziemlich hell, denn eine Wand bestand, wie das Chefbüro, aus Glas, die anderen waren mit hellbraunem Holz vertäfelt. Ein Konferenztisch mit Stühlen waren die einzigen sichtbaren Einrichtungsgegenstände. Eine Tür an der linken Stirnseite stand offen und Wulvsen im grauen Pullover links neben dem Tisch. Neben dieser Tür war ein großer Spiegel angebracht. Die vier Ankömmlinge begrüßten den Chef ehrerbietig und gingen an ihre Plätze vor der Glasfront, was Wulvsen mit Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm.

      „Soll das ein Verhör werden?“, fragte er barsch.

      „Wie bitte?“, fragte Dornhege irritiert.

      „Wenn Sie vor dem Fenster sitzen, können die Ihre Gesichter nicht erkennen. Setzen Sie sich an die Stirnseite.“, kommandierte der Alte. Rehbeins Mundwinkel zuckten leicht, als die vier ihre Unterlagen verschieben mussten. Wulvsen nahm den Personalchef, der genau dies heute die längste Zeit gewesen wäre, an die Seite.

      „Wie wollen Sie es angehen?“ Dornhege straffte sich.

      „Wollen ihnen mal ein wenig auf den Zahn fühlen. Sollen mal zeigen, was sie so drauf haben.“, grinste Dornhege. Doch das Grinsen verging ihm, als er Wulvsens düstere Miene erblickte.

      „Papperlapapp, Dornhege. Wir müssen sie nicht examinieren, das ist doch alles schon geschehen; außerdem haben wir ihre Leistungsnachweise und Beurteilungen. Ich will mir ein Bild von ihnen machen, verstehen Sie? Ich will wissen, mit welchen Persönlichkeiten ich es zu tun habe. Und später zusammenarbeiten soll. Eventuell. Sie werden ihnen meine Fragen stellen.“ Wulvsen zog ein kleines Kästchen aus der Tasche und ein noch kleineres Gerät, das Dornhege nicht erkennen konnte und drückte beides dem Verdutzten in die Hand. Elke Rehbein, die sich das Wundern, bald nachdem der Junior die Firma übernommen hatte und dabei an die Weltspitze gestürmt war, rasch abgewöhnt hatte, beobachtete die Szene mit einer belustigten Neugier, denn der Alte hatte manchmal verrückte Einfälle; allerdings dachte er sich immer etwas dabei.

      „Stecken Sie sich das ins Ohr und sagen Sie einfach das, was ich Ihnen einflüstere.“ Verblüfft sah der Personalchef auf das Gerät und schickte sich an, Widerstand zu leisten.

      „Aber …“ Weiter kam er nicht, denn Wulvsen hatte sich schon umgedreht und war im Nachbarraum verschwunden, so dass er Dornheges roten Kopf nicht mehr gesehen hatte. Er schloss die Tür und setzte sich in dem fast ganz dunklen Raum an einen kleinen Tisch. Durch