Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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und zwar von Fotos. In der Zentrale, der legendären, und das Legendäre hing eindeutig mit dem Alten zusammen, waren sie sämtlich noch nie gewesen, und entsprechend stieg die Spannung. Dann gingen sie, Hubert voran, in den Firmentempel. Hubert eilte durch die riesige, menschenleere und nur mit ein paar Sitzgelegenheiten möblierte Halle, aber dafür hatte er gar keinen Blick, auf die Rezeption zu. Die Damen jedoch waren etwas enttäuscht von dem eher provinziellen Ambiente. An der Rezeption, die nach Ansicht der beiden Frauen angesichts der Bedeutung des Konzerns von Understatement zeugte, sprach Hubert selbstsicher den Diensthabenden, einen glatzköpfigen Fünfzigjährigen an, obwohl er ebenso eine gleichfalls anwesende Dame hätte fragen können: „Wir sollen zum Vorstellungsgespräch, Chefetage. Wie kommen wir denn da hin?“ Der Pförtner musterte den Probanden von oben bis unten, warf einen kurzen, aber vielsagenden Blick zu seiner Kollegin und auch ein Wachmann, der sich dezent im Hintergrund hielt, zog die Augenbrauen hoch.

      „Guten Tag erstmal. Wie ist Ihr Name? Bei wem haben Sie einen Termin?“ Die Damen waren mittlerweile ebenfalls herangetreten und der Pförtner bezog sie daher höflicherweise in seine Fragen mit ein.

      „Sagte ich doch. Der Termin ist beim Chef.“, protzte Hubert.

      „Das wird sich erweisen. Was ist das für ein Termin?“ Hubert sah ungeduldig in die Luft.

      „Ein Auswahltermin. Nachfolge Chefsekretärin. Mein Name ist Kahl.“, gab er schneidend Auskunft. Der Pförtner sah auf einen Monitor.

      „Und wie heißen die Damen?“

      „Esteban.“, sprach Tonia weich.

      „Olsson.“, informierte Ella mit scharfem ‚ß‘.

      Hubert beugte sich über den Tresen und fragte verschwörerisch: „Wie ist er denn so?“

      „Wer?“, fragte der Pförtner, ohne aufzusehen.

      „Der Chef.“

      „Herr Doktor Wulvsen?“

      „Das ist doch wohl der Chef?“ Der Glatzkopf sah Kahl seltsam an.

      „Da haben Sie wohl recht, junger Mann. Ich weiß es nicht, ich habe ihn noch nie gesehen. Ich kenne ihn nur von Fotos.“ Hubert war erstaunt.

      „Kommt er denn nicht morgens hier herein und begrüßt alle?“ Der Pförtner lächelte hintergründig.

      „Nein, er hat seinen eigenen Eingang. Aber als Chefsekretär lernen Sie ihn ja bald besser kennen. Fünfzehnter. Raum 1510.“ Der gar nicht so feine Spott des reiferen Mannes war Kahl entgangen, nicht aber seinen Konkurrentinnen, die sich durch das männerbündlerische Verhalten Kahls in ihrem Urteil über ihn bestätigt sahen.

      Huberts Bewegungen waren dennoch jetzt etwas weniger forsch als zuvor, was die Damen zufrieden zur Kenntnis nahmen. Anscheinend hatte sich der Konkurrent nicht ausreichend über den Konzernlenker und Alleineigentümer informiert, sonst wüsste er nämlich, was sie wussten, und das verlieh ihren Bewerbungen für diesen Job eine etwas abenteuerliche, oder gar heldenhafte Note.

      Zugegebenermaßen waren die Informationen, die Ella und Antonia eingeholt hatten, im Ergebnis etwas kryptisch geblieben, aber unter dem Strich blieb die Essenz, dass dieser Wulvsen ziemlich verschroben sein musste. Nun ja, sie würden ihn ja gleich kennenlernen, schließlich wäre damit zu rechnen, dass er sich seine Chefsekretärin selbst aussuchen würde.

      Sie fuhren in den fünfzehnten Stock und traten auf einen mit Teppichboden ausgelegten, fensterlosen Flur, in dem absolute Stille herrschte. Eine hagere Dame in grauem Kostüm kam ihnen entgegengetrippelt, doch ihre Schritte hörte man nicht.

      „Sie müssen die Kandidaten sein.“, rief sie grußlos, „Folgen Sie mir bitte.“ Sie gingen um eine Ecke. Dieser Teil des Flurs sah genauso aus, wie der, von dem sie gekommen waren, mit dem Unterschied, dass hier, gegenüber einer Flügeltür, drei Stühle an der Wand standen.

      „Bitte setzen Sie sich.“, sprach die Dame und trippelte davon.

      Die Hagere klopfte an eine schwere Tür und trat nach ein paar Sekunden ein.

      „Die Kandidaten sind jetzt da.“, informierte sie Elke Rehbein, die gerade dabei war, eine Mappe zusammenzuraffen.

      „So früh schon? Das wird ihm nicht gefallen; es ist noch nicht seine Zeit.“

      Die Hagere zuckte die Schultern, was alles heißen konnte, ging wieder hinaus und Rehbein betrat mit einem gewissen Unbehagen, das sie auch nach den vielen Jahren nicht ganz hatte abschütteln können, das Allerheiligste. Die linke Wand des Raumes bestand aus einer Fensterfront, die vom Boden bis zur Decke reichte und aus verspiegeltem Glas bestand; man konnte zwar hinaus- , aber nicht hereinsehen, was allerdings auch sonst nicht ganz so einfach gewesen wäre, denn das Gebäude war das höchste in der Gegend und das Chefzimmer befand sich im obersten Stockwerk. Vor dieser Glasfront stand ein langer Besprechungstisch. Die rechte Wand war eine einzige Schrankwand, doch niemand außer dem Alten wusste genau, was sich hinter den einzelnen Türen und Klappen verbarg. Wulvsens Riesenschreibtisch stand an der der Tür gegenüberliegenden Stirnseite des Raumes, dahinter befand sich wiederum eine Schrankwand und rechts eine Tür, die zu einem kleinen Bad führte und die Tür des exklusiven Lifts. Wulvsens graumelierter Schädel blickte von seinem Monitor, an dem er sich über das aktuelle Geschehen in seinem Imperium auf dem Laufenden gehalten hatte, auf, als Rehbein hereintrat und wies mit dem Kinn auf einen der beiden Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.

      Er hatte sich seines Jacketts entledigt und trug nur die aufgeknöpfte Weste über dem weißen Hemd, um seinen Hals baumelte eine locker sitzende Krawatte. Rehbein wusste, dass er diese Bekleidungskonventionen der Geschäftswelt nicht unbedingt mochte, was noch sehr zurückhaltend ausgedrückt ist. An terminfreien Tagen, die es hin und wieder, aber sehr selten gab, erschien er auch schon einmal in Jeans und Poloshirt im Büro, aber das wussten fast nur seine Sekretärin und sein Fahrer.

      Rehbein stellte sich, wie immer am frühen Morgen, auf eine eher einsilbige Konversation ein, denn seine Betriebstemperatur würde er erst am Mittag erreichen; allerdings war ihr auch bekannt, dass er in der Frühe reizbar und sensibel sein konnte. Manche nannten dies auch unberechenbar und cholerisch.

      „Die Neuen sind schon da.“, eröffnete die Sekretärin. Wulvsen sah sie verständnislos an.

      „Welche Neuen?“

      „Meine Nachfolgekandidaten.“ Wulvsens Miene verdüsterte sich.

      „Wer hat das terminiert?“, fragte er unheilschwanger und ballte seine rechte Faust.

      „Dornhege.“, antwortete sie knapp und kniff die Lippen zusammen.

      Schon wieder dieser Dornhege. Für Wulvsen war das Maß jetzt voll. Immer wieder hatte sein Personalchef in der Vergangenheit die Entscheidungen des Alten kritisiert, hatte sogar versucht, sie zu hintertreiben. Fachliche Qualifikation hin oder her, Dornhege musste weg.

      „Machen Sie seine Papiere fertig, nach dem Termin räumt er seinen Schreibtisch. Schreiben Sie sofort neu aus, aber nur intern.“ Er flüsterte fast. Rehbein hatte sich schon so etwas gedacht, schließlich kannte sie den Alten lange genug. Er hasste Termine vor zehn Uhr und eigentlich müsste auch Dornhege das wissen, schließlich war der nicht erst seit gestern Personalchef. Sie räusperte sich.

      „Um zwölf kommt OB Wohllebe.“ Wulvsen sah sie ärgerlich an.

      „Was will der denn?“, spie er abschätzig.

      „Es geht um das neue Logistikzentrum in diesem Gewerbegebiet.“ Normalerweise würde er sich nicht persönlich um solche Sachen kümmern, aber hier lag eine Besonderheit vor, und so würde er den Oberbürgermeister persönlich treffen. Irgendwie würde sich sein Entgegenkommen schon auszahlen, hatte der Alte gedacht.

      „Gut. Um elf will ich die entsprechenden Fachleute zum Briefing hier haben.“ Rehbein nickte. „Danach Videokonferenz mit allen Leitern.“

      Er