Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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dann weiß ja jeder, wann ich komme.“, hatte er gesagt, und die Tiefgarage vorgezogen, durch die er eben unauffällig sein Büro erreichen konnte.

      „Morgen wird unsere letzte Fahrt, Chef.“, erklärte der Fahrer in grauem Anzug und Krawatte, bevor er den Motor ausmachte und um das Fahrzeug herumging, um seinem Fahrgast die Tür routiniert zu öffnen. Er sah in den Rückspiegel und wartete auf eine Reaktion. Der Mann im Fond sah ihn überrascht an.

      „Was heißt das denn?“, fragte der.

      „Mache morgen meinen Letzten.“ Die Männer sahen sich in die Augen. Der Fahrer sah in graue und der Herr von hinten in braune.

      „Rente, oder habe ich Sie gefeuert?“ Die grauen Augen legten sich ein wenig in Falten und der Fahrer lachte kurz.

      „Rente.“

      „Und das sagen Sie mir erst jetzt?“ Der Fahrer lachte wieder, hatte aber nicht bemerkt, dass der Alte ehrlich erschrocken geklungen hatte.

      „Das wissen Sie doch schon seit einem halben Jahr.“ Er zog den Zündschlüssel und stieg aus.

      „Wir bleiben in Kontakt.“, versprach der Herr im dunklen Dreiteiler, als sie sich gegenüberstanden. „Mit Ihnen kann man so gut über Autos fachsimpeln. Und nicht nur das.“ Er schlug seinem ergrauten Mitarbeiter freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich zum Lift.

      „Bis später.“

      Der Chef betrat den Lift, den er mittels eines kleinen Schlüssels in die Tiefgarage geholt hatte, und der nur für ihn reserviert war. Dieser Lift hielt nur dort, wo der Chef ihn halten ließ. Er steckte den Schlüssel in eine Vorrichtung und drehte ihn. Bevor die Türen sich schlossen, winkte er Hönnes noch einmal kurz zu.

      Erst Hönnes und in Kürze Rehbein, dachte der Alte. Er würde sich an neue Gesichter gewöhnen müssen, und das behagte ihm gar nicht. Aber Rehbein fühlte sich in ihrem Alter den neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Er, Wulvsen, allerdings, war ihnen mehr als gewachsen, er war quasi selbst eine Anforderung, und das konnten nicht viele von sich behaupten.

      Er hatte sein Sekretariat personell so belassen, wie er es vorgefunden hatte vor zwölf Jahren. Wie sein Vater es ihm unfreiwillig hinterlassen hatte. Na ja, fast. Seiner persönlichen Sekretärin hatte er nämlich eigene Zuarbeiter zugeordnet, die für sie die Schreibarbeit und die übliche Sekretariatsarbeit erledigten, so dass Rehbein sich ganz ihm widmen konnte. Es war gut gegangen all die Zeit, obwohl die Besetzung mit nur einer Sekretärin weder zeitgemäß noch der Größe des Unternehmens angemessen war, denn schließlich hatte die bestenfalls europaweit tätige Firma seines Vaters nur rund tausend Beschäftigte gehabt und Wulvsen beschäftigte weltweit mittlerweile hunderttausende Menschen. Er hatte das Management daher weitgehend dezentralisieren müssen, ohne allerdings die Übersicht zu verlieren, weil er Rehbein nicht zu sehr belasten wollte, denn schließlich trug die mit ihm schon eine nicht unerhebliche Last, wie er selbst wusste. Wegen der Übersicht, die auch Kontrolle genannt werden kann, hatte er ein ausgeklügeltes Berichtswesen implementiert, das funktionierte, denn schummeln ging bei Wulvsen nur genau ein Mal. Das Problem war nur, dass dieses Berichtssystem genau auf ihn zulief, und nur auf ihn, wegen der Kontrolle eben. Mit Controlling hatte dieses Berichtssystem allerdings nicht viel zu tun. Wulvsen hatte zwar im Laufe seiner Zeit als Unternehmer gelernt, mit Zahlen umzugehen, aber Prosa war ihm lieber, denn er verstand es meisterlich, zwischen den Zeilen zu lesen und das verlangte den Berichterstattern in jeder Hinsicht einiges ab, vor allen Dingen Ehrlichkeit. Es war all die Jahre gut gegangen, und genau das hielt er mittlerweile für ein Wunder, obwohl er an einen solchen Firlefanz, wie er das zu nennen pflegte, nicht glaubte. Aber gerade deshalb würde sich das jetzt ändern müssen, denn das Risiko von Wundern könnte er nicht mehr länger eingehen. Weil ihm, eigentlich reichlich spät, wie er selbst wusste, eine Idee gekommen war, die später mit einer Erkenntnis hervorragend korrespondieren würde, aber das konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, wollte er ein Team in seiner räumlichen Nähe haben, das sich unmittelbar um das zentrale Management kümmern sollte, und das wäre ja im Grunde genommen er selbst. Dieses Team müsste ihm im wesentlichen den Rücken freihalten, damit er die Entscheidungen treffen könnte, deren Generierung immer komplizierter wurde. Dieses Team würde eine Rolle in diesem Berichtswesen spielen müssen, müsste ihn diesbezüglich entlasten. Er dachte damals überhaupt nicht daran, in den Prozess der eigentlichen Entscheidungsfindung jemand anderes mit einzubeziehen, aber er brauchte hierfür genug Freiraum, und den sollte ihm sein neues Vorzimmer verschaffen. Ein Vorzimmer, das schlagkräftig sein müsste, und auf das er jederzeit unmittelbar zugreifen können müsste. Drei Bewerber hatte er in die engere Wahl genommen und einladen lassen. Vielleicht würde er alle drei nehmen, mindestens aber zwei. Wenn sie denn geeignet wären. Eigentlich waren sie zu jung. Aber gut. Man würde sehen. Sie würden mehr sein müssen als nur Vorzimmerkräfte. Erheblich mehr, so hatte er sich das gedacht.

      Er würde allerdings mit Rehbein sprechen müssen, ihr erklären müssen, dass er sie nicht übergehen wollte, dass er sie für durchaus qualifiziert hielt, ebenfalls in diesem Team eine Rolle zu spielen, dass diese Idee rein zufällig mit ihrer Pensionierung zeitlich zusammengefallen war. Das wäre er Elke Rehbein schuldig. Mindestens.

      Er hatte sich vorgenommen, beim Auswahlgespräch nicht persönlich anwesend zu sein, denn er wollte ein unverstelltes Bild von den Kandidaten gewinnen. Also würde er nur Beobachter sein. Sein müssen, wenn er Charakterstudien betreiben wollte, und das wollte er, denn wenn er den Vorsitz übernähme, würden die Kandidaten sich alles andere als natürlich geben, das wusste er aus Erfahrung. Allerdings würde er ein sehr aktiver Beobachter sein, so waren seine Planungen.

      Hönnes‘ Zurruhesetzung hatte er allerdings vollkommen verdrängt.

      „Wollen Sie eine Zeitschrift?“, fragte die Mitwartende und reichte ihr ein buntes Blatt.

      „Nein danke.“, lächelte Tanja und drückte Martha, die auf ihrem Schoß saß, enger an sich. Sie sah zu der Uhr an der Wand und verfolgte den Sekundenzeiger mit dem Blick. Ja, mit Zeit kannte sie sich aus. Mit Zeit und mit Zahlen.

      Sie saß mit Martha im Sprechzimmer und wartete auf den Arzt, auf dessen Schreibtisch eine Digitaluhr stand. Eine mit Sekundenanzeige. Wenn sie jemand gefragt hätte, in wieviel Sekunden Martha zwölf würde, sie hätte es auf Anhieb sagen können. Aber es fragte niemand.

      „Es ist nichts Schlimmes, Frau Kiel; ich werde Martha ein paar Tropfen aufschreiben, die sollten den kleinen Magen bald wieder in Ordnung bringen. Die abweichende Dosierung schreibe ich Ihnen auf einen Zettel.“ Der beleibte Kinderarzt reichte Tanja ein kleines Blatt Papier und das Rezept.

      „So, Frau Kiel. Die Einnahme so, wie Ihnen der Arzt es aufgeschrieben hat.“ Der Apotheker steckte das kleine Fläschchen in eine Tüte und reichte sie der Dunkelhaarigen mit einem freundlichen Lächeln. Mit einem ebensolchen Lächeln nahm Tanja die Tüte entgegen und verließ die Apotheke. Sie wusste allerdings, dass sie mit der Tüte und dem Fläschchen auch ein Problem bekommen hatte. Eines mehr.

      Rehbein hörte es summen und sah auf das Licht, das auf der Kommunikationsstation blinkte. Er war da. Sie drückte auf einen Knopf und sagte: „Morgen, Herr Wulvsen. Was kann ich für Sie tun?“

      „Rufen Sie die Frau von Hönnes an und sagen Sie ihr, dass ihr Mann sie morgen Abend zum Essen einlädt; sie soll sich hübsch machen; dann kommen Sie mit dem Tagesplan.“ Sie schwieg. Sie hörte ein Schnaufen. „Bitte.“, sagte er dann. „Und danke für das Frühstück.“, schob er ein paar Sekunden später nach.

      „Alles klar.“, lächelte sie zufrieden. Sie hatte lange gebraucht, ihm etwas Höflichkeit beizubringen, jedenfalls, was seinen Umgang mit ihr selbst anbelangte, aber es war ihr schließlich gelungen, und damit nahm sie, was ihr durchaus bewusst war, weltweit eine Sonderstellung ein.

      Tanja hatte sich einige Strategien und Taktiken ausgedacht im Laufe ihres bisherigen Lebens, um andere Menschen zu täuschen. Darüber hinwegzutäuschen, dass sie eine bestimmte Kulturtechnik nicht beherrschte. Da sie zu jung für Lesebrillen war, funktionierte dieser Trick allerdings nicht.