Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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      „Ja.“, nickte Rehbein ernst. „Irgendwo muss er sich ja mal … natürlich geben können.“

      Esteban legte den Kopf schräg.

      „Sie sagen das so eigenartig.“ Rehbein nickte.

      „Sie werden es sowieso bald merken. Er lässt seinen Emotionen manchmal freien Lauf.“

      „Soll das heißen, dass er, äh, dass er sich hier abreagiert?“

      „Weint?“, ergänzte Olsson schnell. Rehbein sah die beiden ernst an.

      „Emotionen bestehen bei ihm meistens aus Wut. Weinend habe ich ihn jedenfalls noch nicht erlebt.“ Die Neuen wurden bleich.

      „Das heißt, wir sollen so eine Art Blitzableiter sein? Tritt er dann Türen ein?“, empörte sich Olsson.

      „Neinnein.“, beschwichtigte Rehbein und wusste, dass sie jetzt den Pfad der Wahrheit ein wenig verlassen müsste, denn sie wollte unbedingt, dass die beiden jungen Frauen ihre Chance erhielten. „Sie selbst werden nicht Gegenstand seiner Wut werden, wenn Sie sich tadellos verhalten. Er ist nicht ungerecht. Aber Sie müssen seine Stimmungen einzuschätzen lernen und lernen, was Sie ihm wann zumuten können.“

      „Oder wen.“, ergänzte Esteban, wozu Rehbein zustimmend nickte.

      „Was ist er für ein Mensch?“, wollte Tonia sanft wissen. Rehbein lachte kurz.

      „Er passt in keine Kategorie. Sie hatten eben im Gespräch auf die Arbeitsatmosphäre hingewiesen. Es wird schwierig für Sie. Erwarten Sie keine Liebenswürdigkeiten oder Komplimente. Er hat seine eigene Art, Danke zu sagen oder zu loben.“

      „Wann werden wir ihn kennenlernen?“ Rehbein lächelte hintergründig und antwortete ausweichend, weil sie ja vom Alten hierzu keine konkrete Aussage erhalten hatte.

      „Die wenigsten hier sind ihm schon einmal persönlich begegnet. Sicher, die Leiter der Auslandsniederlassungen kennen ihn, die Abteilungsleiter hier, und einige, die öfter mit ihm persönlich zu tun haben, aber sonst kaum jemand. Jedenfalls nicht bewusst.“

      „Weiß er denn dann überhaupt, was in seinem Konzern geschieht? Ich meine, wirklich, und nicht nur auf dem Papier, wenn er sich nicht blicken lässt?“ Ella wirkte empört und wieder spielte ein eigenartiges Lächeln um Rehbeins Mundwinkel.

      „Sie können sicher sein, dass er mehr weiß, als irgend jemand ahnt, auch wenn die Standorte auf der ganzen Welt verteilt sind. – Auf jeden Fall müssen Sie damit rechnen, dass er sich in den nächsten Wochen etwas rar macht und ihre Zusammenarbeit mit ihm erst richtig beginnt, wenn ich nicht mehr da bin. Die ersten sechs Wochen sind für Sie entscheidend, steht übrigens in Ihrem Vertrag. Wenn ich mein OK gebe, sind Sie drin.“

      „Sie waren bisher seine einzige Sekretärin …“, brachte Esteban nun vorsichtig vor.

      „Ja. Herr Dr. Wulvsen ist offenbar der Auffassung, dass die Firma hier etwas anders aufgestellt sein sollte.“ Rehbein hob eine Hand. „Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, er hat mir seine Pläne nicht erläutert. Auch daran werden Sie sich gewöhnen müssen: dass er manchmal sehr spontan ist.“ Die Neuen nickten, hatten natürlich weiteren Informationsbedarf, aber sie fragten nicht weiter nach; man würde sich eben bezüglich Neuorganisationen überraschen lassen.

      „Wer war der Mann, der eben in dem Besprechungszimmer erschienen ist und das Auswahlgespräch geführt hat, und warum sind Kahl und Herr Dornhege so plötzlich verschwunden?“, fragte Ella, um Klarheit bemüht, eine entscheidende Frage. Rehbein überlegte und nickte dann.

      „Zum letzten Punkt kann ich nichts sagen, aber der Mann war Herr Dr. Wulvsen.“ Rehbein konnte nun sehen, wie die beiden sich zunickten. Sie haben es also zumindest geahnt, dachte sie, und freute sich darüber, denn Kombinationsgabe schadete in diesem Job sicherlich nicht.

      „Der sah den Fotos aber nicht sehr ähnlich.“

      „Und im Fernsehen sieht er auch anders aus.“, ergänzte Tonia. „Außerdem wirkte er etwas derangiert.“, kritisierte sie.

      „Er verwandelt sich gerne ein wenig und er muss sich wohl über etwas echauffiert haben. Die Öffentlichkeit kennt ihn ja meist nur mit Anzug und Krawatte, und da er ja eher ein etwas unscheinbarer Mann ist ... jedenfalls äußerlich, erkennt man ihn in einem anderen Outfit vielleicht nicht gleich.“, lächelte Rehbein, nicht alles erklärend.

      „Wie alt ist er?“

      „Er sieht älter aus als er ist.“, blieb die reife Frau im Vagen.

      „Warum macht er sich so rar?“, wollte Ella wissen. Rehbein machte jetzt ein ernstes Gesicht.

      „Er weiß, dass er in seiner Position selten Reaktionen auf seine Person erhält, die natürlich, die ehrlich sind. Die Menschen sind entweder gehemmt, oder sie erwarten etwas von ihm. Er mag das nicht. Er bevorzugt eine offene, natürliche Kommunikation ohne Hemmungen oder Erwartungen, die mit seiner Position verknüpft sind.“ Sie überlegte kurz. „Wenn es die Situation erlaubt, gibt er sich möglichst nicht zu erkennen, was natürlich gerade hier nicht so häufig vorkommen kann.“ Sie zögerte und gab dann eine sehr persönliche Einschätzung ab, die von anderen zumindest abenteuerlich genannt worden wäre. „Er ist kein Menschenfeind. Er kommt mit Fremden wunderbar zurecht, solange die nicht wissen, wer er ist. Er hasst Speichellecker und Arroganz, und das lässt er sein Gegenüber in solchen Fällen auch spüren. Ihre ungekünstelte Art muss ihm wohl gefallen haben.“ Den beiden jungen Frauen wurde jetzt einiges klar. Sicher wären sie ganz anders aufgetreten bei dem Einstellungsgespräch, wenn sie gewusst hätten, wer da vor ihnen saß. Trotz aller Prinzipien.

      „Kahl hat ihm anscheinend nicht gefallen.“, warf Tonia ein.

      „Und mit Liebenswürdigkeiten können wir eher nicht rechnen.“, fügte Ella hellseherisch hinzu.

      „Das ist wohl so. Ihre schwierigste Aufgabe wird sein, ihn zu bremsen, zu beruhigen.“

      „Wie soll das denn gehen?“, empörte sich Ella. Rehbein zuckte die Schultern.

      „Offenbar traut er Ihnen das zu, sonst hätte er sich nicht für Sie entschieden. Sie müssen lernen, Situationen richtig einzuschätzen und rechtzeitig einzuschreiten, wenn er dabei ist, zu weit zu gehen.“ Ella schüttelte die Locken und Tonia meinte nur:

      „Da halte ich lieber einen wütenden Stier auf.“

      Elke Rehbein fand an diesem Arbeitstag nicht mehr die Zeit, über ihre Lüge, nein, ihre Schönfärberei nachzudenken, das tat sie dann erst beim Einschlafen. Sicher, sie selbst hatte hin und wieder durchaus die Funktion eines Blitzableiters einnehmen müssen, wenn der Alte geladen gewesen war, aber sie hatte sich daran gewöhnt und die Autorität derjenigen, auf die er all die Jahre nicht hatte verzichten können; schließlich hatte sie ihm geholfen zu erschaffen, was die Firma nun war, und das hatte er ihr gegenüber mehr als einmal zugegeben. Aber was hätten die Neuen vorzuweisen? Immerhin hatte er sich auf sehr ungewöhnliche Weise für sie entschieden. Für beide. Also wären sie immerhin zu zweit, und sie selbst wäre ja noch eine Weile dabei und könnte aufpassen. Vielleicht würde sie ihm an ihrem letzten Arbeitstag noch einmal eindringlich ins Gewissen reden. Was Elke Rehbein zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte, war, dass dies gar nicht mehr nötig sein würde.

      Wulvsen zog das Tempo an. Wenn er eine Schleife liefe, hätte er noch einen Kilometer, und der musste sein, schließlich hatte er, entgegen vergangener Gepflogenheiten, mal wieder eine Pause gemacht, aber nach all dem Ärger, den der Arbeitstag mit sich gebracht hatte, hatte er ein wenig Ablenkung gebraucht und sich kurzerhand ein paar Minuten mit dem kleinen Mädchen unterhalten, was sehr erfrischend gewesen war, und wofür er die Schleifen, die langsam zur Gewohnheit wurden, gerne in Kauf nahm. Wenn er ehrlich wäre, war es weitaus mehr als erfrischend gewesen, und in gewisser Weise war er ehrlich. Zu sich selbst nämlich. Beim nächsten Mal würde er die Kleine