Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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die Bekanntschaft mit einem kleinen Mädchen dazu geführt, dass Roger Wulvsen so manchen Abend im Dunkeln und in seinem Nachdenksessel in seiner Bibliothek gesessen hatte und mit steigendem Erfolg sich in die Lebenssituationen anderer Menschen hineinzuversetzen versucht hatte. Irgendwann hatte er dann beschlossen, dass gerade die Personen, denen Link zu helfen versuchte, ihre Chance verdient hätten, denn sein Freund war alles andere als ein Sozialromantiker, und daran, so dachte Roger Wulvsen, hätte er selbst einen gewissen Anteil. Roger Wulvsen, aber das hätte er in diesem Falle und zu diesem Zeitpunkt nicht zugegeben, war stolz auf sich und seine neu entdeckte Empathie.

      Die dicke, dunkle Holztür flog auf und ein intellektuell aussehender, das bedeutet Brille, Geheimratsecken und fahle Haut, Mittdreißiger stürzte aus dem Chefbüro und beeilte sich, die Tür zum Flur zu erreichen. Hinter ihm flog ein Aktenordner durch die noch offene Chefbürotür und ein gebrülltes „Kümmern Sie sich besser um die wirklich wichtigen Dinge; zum Beispiel die wirtschaftliche Entwicklung des Konzerns, Sie Pfennigfuchser!“, dann schloss sich die Tür zum Allerheiligsten und die drei Frauen sahen sich an. Hätte Ella bleich werden können, wäre sie es geworden, so merkte man nur an ihren zitternden Händen, dass sie äußerst nervös geworden war. Tonias Gesichtshautfarbe war von dem gewohnten Braun mit Oliveneinschlag zu einem hellen Mausgrau mutiert; ihr zitterten nicht die Hände, sondern die Unterlippe. Gemeinsam war den beiden Neuen jedoch der Gedanke, dass sie hier nicht bleiben könnten und wollten.

      „Herr Dörfert, wollen Sie Ihren Ordner nicht mitnehmen?“, rief Rehbein dem Chefcontroller hinterher, der bereits in der offenen Tür stand. Dörfert stoppte, drehte sich hastig um und bückte sich, um den Ordner aufzuheben. Gehetzt sah er die drei Frauen an.

      „Sicher.“, flüsterte er mit hochrotem Kopf, um dann zu verschwinden.

      Dörfert war den beiden Neuen vor einer halben Stunde ganz nett vorgekommen; er hatte sich vorgestellt und ein paar Worte mit ihnen gewechselt, die sich nicht um das Wetter gedreht hatten. Daher waren sie ziemlich konsterniert, wie der Alte mit augenscheinlich netten Menschen umging.

      „Was war das denn?“, fragte Ella.

      „Kommt das öfter vor?“, wollte Tonia wissen. Rehbein sah die beiden an.

      „Ja, das kommt öfter vor und ich weiß es nicht. Dörfert wollte mit ihm über die Kosten der Reinigung sprechen. Keine Ahnung, warum er so reagiert hat.“ Damit war für Rehbein die Sache offenbar erledigt.

      „Rehbein! Die Termine!“, schrie es aus dem Lautsprecher. Das mit dem ‚bitte‘ klappte eben nicht immer.

      „Ja, Herr Dr. Wulvsen.“ Rehbein nahm den Kalender und stand auf.

      „Da wollen Sie jetzt rein?“, fragte Ella entgeistert und Tonia wartete mit Spannung auf die Antwort. Rehbein lächelte die beiden tapfer an und sagte sanft:

      „Aber ja.“

      Ihre Selbstsicherheit, mit der sie das Chefzimmer nun betrat, rührte aus vergangenen Begebenheiten, bei denen sich die nunmehr angehende Pensionärin, ausgestattet mit einer genügenden Portion Selbstbewusstsein, den Launen des Alten entgegengestemmt hatte und ihn immer häufiger auf Normaltemperatur hatte bringen können. Doch diesmal sah die Sache anders aus und die Dame mit dem grauen Pagenschnitt stutzte, als sie Wulvsen hinter seinem Schreibtisch sitzen sah. Die Krawatte hing locker um seinen Hals, der Hemdkragen war geöffnet, die Jacke über die Lehne seines Stuhles gehängt. Das war noch nichts Ungewöhnliches, aber alles andere schon. Die Brote hatte er noch nicht angerührt, sein Schreibtisch war übersäht mit zusammengeknülltem Papier, sein Kopf war hochrot, das Kinn vorgestreckt, die Fäuste geballt, das graue Haar wirr. Zum ersten Mal ahnte Rehbein, die Unerschütterliche, nichts Gutes. Sie trat zögerlich näher und nahm ihm gegenüber Platz. Er beruhigte sich glücklicherweise, als sie anfing, die noch offenen Termine des Tages und darüber hinaus mit ihm durchzugehen.

      „Donnerstagvormittag kommen die Koreaner …“

      „Ich weiß.“, brummte Wulvsen. Rehbein atmete einmal tief durch und arbeitete dann mit ihm die Liste ab.

      „ … Am Nachmittag kommt dann die neue Fahrerin. Sie wartet draußen beim Auto.“, erklärte sie abschließend und erleichtert, die Viertelstunde ohne größeren Unfall überstanden zu haben. Doch ihre Erleichterung erwies sich als vorschnell. Er reckte seinen Kopf erst in die Höhe, dann nach vorne.

      „Welche Fahrerin?“, fragte er leise und Rehbeins Alarmglocken läuteten.

      „Dornhege hatte sie für Donnerstag eingeladen; sie hatte sich, glaube ich, initiativ beworben, weil wir ja nicht ausgeschrieben hatten. Sie ist die einzige Kandidatin.“ Wulvsen grummelte vor sich hin, weil genau das sein Versäumnis gewesen war. Laut zugeben wollte er das aber nicht.

      „Warum weiß ich nichts von diesem Termin? Dornhege ist gefeuert! Der Fahrer ist eine Vertrauensperson! Ich verbringe eine Menge Zeit im Auto! Wer kommt denn auf so eine Schnapsidee?! Wer ist hier eigentlich der Chef?“, brüllte er irrational. Rehbein atmete tief durch.

      „Aber Sie haben doch die letzte Entscheidung.“, wagte Rehbein einzuwenden. Oder ist er doch so sehr Macho, dass er sich eine Frau hinter seinem Chefwagenlenkrad nicht vorstellen kann?, dachte sie. Der Alte sprang auf.

      „Das wäre ja noch schöner! Raus jetzt!“, rief er ohne Sinn und Rehbein beeilte sich, ihm die Unterlagen der Bewerberin auf den Tisch zu legen und das erste Mal seit Jahren, das Allerheiligste eiligst zu verlassen.

      Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, musste sie eine kurze Weile innehalten und tief durchatmen, was den beiden Neuen keinen Mut machte. Als sie sich wieder gesetzt hatte und zur Ablenkung Papiere sortierte, fragte Tonia mitfühlend: „War es so schlimm?“ Rehbein sah die junge Frau an und murmelte: “Schlimmer.“

      Das kleine Mädchen saß auf einer Schaukel. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen; weder andere Kinder noch Erwachsene, wieder mal. Er konnte es immer noch nicht fassen und sich selbst mal wieder ein Herz. Er musste sich nicht um einen freundlichen Gesichtsausdruck bemühen, der gelang mittlerweile nicht nur leidlich, sondern entsprang einer ehrlichen Freude, und setzte sich auf die Schaukel neben dem Mädchen, das ihn mit großen, braunen Augen ansah und ihn anscheinend schon erwartet hatte. Sein dunkelbraunes, normalerweise gelocktes Haar war in zwei Zöpfen gebändigt, die ihm über den Ohren vom Kopf abstanden. In den kleinen Händen hielt es vorsichtig einen großen Umschlag.

      „Hallo.“, grüßte er und sah geradeaus, das Mädchen aber ihn an.

      „Du siehst aber wieder komisch aus.“, lispelte sie und zeigte an ihre Stirn. Der Mann zog das Stirnband vom Kopf und wrang es erfolgreich aus.

      „Das ist ein Schweißband.“, erklärte er.

      „Was ist ein Schweißband?“

      „Das verhindert, dass mir der Schweiß in die Augen läuft.“

      „Warum schwitzt du so?“

      „Ich renne in der Gegend rum, das weißt du doch mittlerweile.“

      „Warum machst du das?“

      „Ich sitze den ganzen Tag und brauche einen Ausgleich; deshalb laufe ich. Manchmal laufe ich nach der Arbeit, manchmal zwischendurch, und das meist hier.“, erklärte er und offenbarte damit durchaus Entscheidendes. Das Mädchen legte den Kopf schräg.

      „Warum sitzt du denn so viel?“

      „Ich sitze am Schreibtisch und arbeite.“

      „Im Büro?“

      „Im Büro. Warum bist du eigentlich immer alleine hier?“

      „Ich warte auf meine Tante.“ Die Tante also.

      „Warum ist deine Tante nicht hier?“

      „Sie kommt gleich.“

      „Ist sie nur mal kurz fortgegangen?“

      „Nein,