Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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Jeden Tag?“, fragte er entsetzt, denn er könnte ja nicht den ganzen Tag dem Kind Gesellschaft leisten, schließlich hatte er eine Firma zu leiten. Das Mädchen kicherte und zeigte mit krummem Zeigefinger auf den Kindergarten, der an den Spielplatz grenzte.

      „Sie bringt mich morgens da hin und holt mich nachmittags hier ab.“ Wulvsen atmete erleichtert auf, war aber mit dieser Antwort noch nicht ganz zufrieden.

      „Wieso wartest du nicht im Kindergarten auf deine Tante?“

      „Die haben schon zu.“ Aha.

      „Kann deine Tante nicht eher kommen?“

      „Sie muss doch arbeiten.“

      „Wie lange musst du auf sie warten?“ Das Mädchen zuckte die Schultern.

      „Weiß nicht.“ Eine schlanke, langschwarzhaarige Frau näherte sich dem Spielplatz.

      „Da ist meine Tante.“, rief die Kleine und winkte der Frau zu. Wulvsen erhob sich und sagte:

      „Tschüss.“ Er drehte sich noch einmal um. „Wie heißt du eigentlich?“

      „Martha.“, erklärte Martha. Er nickte und trabte los. Martha musste also offenbar nur ein paar Minuten auf ihre Tante warten, was ihn einigermaßen beruhigte.

      Er hatte einfach keine Lust auf eine Unterhaltung mit der Tante des Mädchens gehabt, mit dem Mädchen hätte er allerdings gerne noch weiterhin gesprochen. Es hatte irgendwie … gut getan. Martha. Gut. Schöner Name. Womöglich hätte die Tante ihm Vorhaltungen gemacht, weil er sich mit ihrer Nichte unterhielt. Ein Wort hätte das andere gegeben und schließlich hätte sie wissen wollen, wer er wäre. Danach hätte es keine unbeschwerten Gespräche mit Martha mehr gegeben.

      Dr. Roger Wulvsen, der von sich selbst annehmen wollte, mit einigen Ausnahmen so gut wie gar nichts dem Zufall zu überlassen, in der Regel an fast alles zu denken, was wichtig war, in der Lage war, sein Leben so ziemlich durchzustrukturieren, hatte keinen Augenblick daran gedacht, nach dem Familiennamen des kleinen Mädchens zu fragen, und auch später verschwendete er keinen Gedanken an dieses Versäumnis.

      Der Bote legte einen Packen Schnellhefter auf den Aktenbock neben Rehbeins Schreibtisch.

      „Das ist für den Alten persönlich.“, erläuterte er.

      „Für Sie immer noch Herr Dr. Wulvsen.“, tadelte Rehbein, so dass der Bote errötete und schnell verschwand. Rehbein warf einen Blick auf das Begleitschreiben. Tatsächlich, ‚Herrn Dr. Wulvsen persönlich’ stand darauf. Sie schlug den ersten Schnellhefter auf. Personalunterlagen. Die Reinigungsfirma, mit der in den letzten Tagen ein Vertrag abgeschlossen worden war, den der Alte selbst unterschrieben hatte, hatte die Unterlagen der Reinigungskräfte geschickt. Seltsam.

      „Ich habe einen Mann kennengelernt.“, trompetete Martha, als sie an Tanjas Hand mit ihrer Tante zur Bushaltestelle ging. Tanja verstaute die bunten Urkunden, die Martha heute bei einer Wissensolympiade im Kindergarten eingeheimst hatte, sorgfältig in ihrer Tasche. Martha hatte vier erste Plätze errungen, nur beim Buchstabieren hatte es lediglich für Rang drei gereicht. Tanja runzelte die Stirn.

      „Was für einen Mann?“

      „Ein alter Mann.“

      „Wie alt ist er denn?“ Martha zuckte die Schultern.

      „Er hat schon graue Haare.“ Soso.

      „Aha. Und wie hast du ihn kennengelernt?“

      „Er läuft.“ Okay, Martha stellte sie mal wieder auf die Geduldsprobe, also atmete Tanja einmal tief durch.

      „Wo läuft er?“

      „Am Kindergarten vorbei. Manchmal. Er hat ein Schweißband.“, erklärte die Kleine stolz.

      „Ein Jogger?“ Martha nickte. „Hat er dich angefasst?“ Tanja konnte eine gewisse Besorgnis nicht verbergen.

      „Nein. Er arbeitet in einem Büro.“

      „Fragt er dich aus?“

      „Wir unterhalten uns nur. Er ist nett. Er hat sich schon ein paar Mal mit mir unterhalten.“ Ihre Behauptung über das Wesen des Läufers kam Martha zwar etwas vorschnell vor, denn schließlich hatte er ihr bei ihren ersten Begegnungen schon ein wenig Angst eingejagt, aber das wollte das Mädchen schnell vergessen, und es hatte beschlossen, dass der letzte Eindruck der maßgebliche sein sollte, und damit lag sie, was Rogers Verhältnis zu ihr anlangte, durchaus richtig.

      „Du hättest mir schon früher von ihm erzählen sollen.“, mahnte Tanja pädagogisch.

      „Ich weiß, aber er ist doch nett.“

      „Ist ja gut. Wie heißt er?“

      „Keine Ahnung.“

      „Frag ihn.“

      Der Kelch der Arbeitslosigkeit war diesmal an Tanja vorübergegangen, sie hatte ihre mittägliche Stelle behalten können. Vorläufig. Allerdings würde sie sich schleunigst etwas anderes suchen müssen, denn sie lebten schon jetzt von der Substanz, und die war nicht besonders üppig.

      Wulvsen lehnte sich zufrieden zurück und schob den Stapel mit den Unterlagen der neuen Reinigungsfirma an die Seite. Natürlich hatte Dörfert Recht gehabt, dass die Reinigungskosten künftig höher wären als bisher, aber das würde er in Kauf nehmen, ohne seinen Controller in seine Beweggründe einzuweihen. Sein Freund Jürgen hatte gut ausgewählt; jedenfalls sah die Aktenlage so aus. Die Damen würden aller Voraussicht nach ihre Chance nutzen.

      Roger Wulvsen hatte also die neuen Reinigungskräfte kennengelernt, indem er die entsprechenden Akten studiert hatte. Sein Vertrauen in seinen Freund, das er durch dieses Studium bestätigt sah, führte allerdings dazu, dass er es nicht für nötig befand, sich auch künftig mit neu eingestelltem Reinigungspersonal durch einen Blick in die entsprechenden Papiere zu beschäftigen, und so konnte es passieren, dass er im weiteren Verlauf mehrere Überraschungen erlebte.

      Gegen Mittag traf die südkoreanische Delegation ein. Der in der Zentrale für Ostasien zuständige Abteilungsleiter erschien persönlich im Vorzimmer, um sie anzukündigen, und das hatte einen guten Grund. Er verstand sich nämlich gut mit der Chefsekretärin und konnte so die Stimmungslage des Alten, die immer entscheidend war, ausloten.

      „Sie sind da.“, sagte er, „Wie ist die Lage?“ Er sah in ein bedauerndes Gesicht der Chefsekretärin. „Ach du Scheiße.“, war sein Kommentar.

      Elke Rehbein war im Prinzip guter Hoffnung, dass der Abteilungsleiter Ostasien die kommende Sitzung überleben würde, bei den Koreanern war sie sich nicht ganz so sicher, denn der Alte hatte seit ein paar Tagen eine wirklich schlechte Laune, und das lag unter anderem daran, dass Hönnes in Rente gegangen war, und immer noch kein neuer Fahrer zur Verfügung stand. Vielleicht könnte er sich ja doch für diese Frau erwärmen. Die schlechte Laune des Alten resultierte aber nicht nur aus diesem Mangel, sondern mindestens zur Hälfte aus seinem Ärger über sich selbst, weil er schlichtweg nicht daran gedacht hatte, für eine reibungslose Nachfolge zu sorgen. Die Inhalte der anstehenden Besprechung, die durchaus Brisanz besaßen, beeinträchtigten seine Gemütsverfassung hingegen kaum, obwohl die Forderungen der Asiaten überzogen waren, wie die Sekretärin fand. Rehbein rechnete es ihm hoch an, dass er seinen Ärger nicht an den Ersatzfahrern oder an ihr abreagierte, so gerecht war er nun doch.

      „Dreiundzwanzig.“ Damit wies Rehbein den Besprechungsraum an und erhob sich langsam, um dem Alten den Termin in Erinnerung zu bringen. Sie steckte den Pagenkopf durch den Türspalt, sah den Chef wie wild auf der Tastatur seines Computers herumhämmern und sagte vorsichtig: „Die Koreaner sind da.“ Es erfolgte keine Reaktion, daher versuchte sie es noch einmal: „Die …“

      „Ich habe verstanden!“, brüllte Wulvsen, mit dem Erfolg, dass nebenan die beiden jungen Frauen die Köpfe hochrissen und sich ihre