Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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Die drei Damen lachten, was sie nun völlig irritierte.

      „Schauen Sie sich mal die Unterschrift unter Ihrem Vertrag an.“, riet ihr Rehbein. „So unleserlich ist seine Schrift ja nicht.“ Svenja sah auf das Blatt. Dort stand klar und deutlich Wulvsen.

      „Heißt der Fahrdienstleiter auch Wulvsen?“, zeigte sie sich schwer von Begriff.

      „Mädchen, das war der Alte.“, klärte Rehbein schmunzelnd auf. Ariel konnte nicht recht in die nun einsetzende allgemeine Heiterkeit einstimmen, denn sie war eindeutig verstört. Rehbein hingegen, die Zweiflerin, lachte auch vor Erleichterung, denn Machoismus wäre ihr an dem Alten trotz allem fremd vorgekommen.

      Als Ariel in ihrem Auto Platz genommen hatte, um noch einmal kurz nach Hause zu fahren, atmete sie erst einmal tief durch. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie nahm sich vor, noch einmal gründlich über Vorurteile nachdenken zu wollen. Besser noch, sie würde mit Jürgen darüber sprechen. Noch einmal nahm sie sich den Vertrag vor. Erst beim zweiten Lesen blieb ihr Blick an dem festgesetzten Monatsgehalt hängen. Über so etwas hatten sie gar nicht gesprochen, wunderte sie sich. Sie wunderte sich aber auch über die Zahl, die dort stand. Bei dieser Zahl nämlich hätte es ihrerseits nichts mehr zu verhandeln gegeben.

      Nachdem Ariel gegangen war, hielt schnell wieder Ernsthaftigkeit Einzug in die Vorhölle.

      „Die Abwesenheit von Liebenswürdigkeit, vor der Sie uns gewarnt hatten, ist das eine,“ sagte Ella, „dieses Wechselbad der Gefühle das andere.“

      „Der ist unberechenbar.“, konstatierte Tonia. „Was wir in den paar Tagen schon alles erlebt haben.“ Sie ballte die Linke zur Faust und schnellte den Daumen heraus. „Er erteilt Kahl und Dornhege eine Abfuhr.“ Zeigefinger. „Er unterhält sich nicht unangenehm mit uns.“ Mittelfinger. „Er bewirft den Controller mit Aktenordnern.“ Ringfinger. „Er trickst die Koreaner aus.“ Kleiner Finger. „Er macht Frau Rehbein zur Schnecke.“

      „Und stellt eine Fahrerin ein, womit niemand gerechnet hatte.“, ergänzte Ella fingerlos.

      „Welches dieser Ereignisse haltet ihr für so maßgeblich, dass ihr ihn dafür tadeln würdet?“, wollte die Chefsekretärin wissen. Die Jüngeren überlegten kurz und meinten dann unisono: „Die Sache mit Ihnen hätten wir ihm nicht durchgehen lassen.“

      „Fünf zu eins für ihn – ist doch nicht schlecht, oder?“, lächelte Rehbein.

      „So, jetzt wird geschlafen.“ Tanja setzte sich auf Marthas Bettkante und strich ihrer Nichte liebevoll über den Kopf.

      „Ich weiß jetzt, wie er heißt.“, behauptete das Mädchen.

      „Wie wer heißt?“

      „Na, der alte Mann. Der läuft. Er heißt Roger.“, strahlte Martha und Tanja streichelte weiter, wobei ihr Blick allerdings das Kinderzimmer und auch den heutigen Abend verließ und sie darüber ganz vergaß, sich nach dem Nachnamen des alten Mannes zu erkundigen, den Martha im übrigen auch gar nicht wusste, weil sie sich in ihrem zarten Alter für Nachnamen überhaupt nicht interessierte.

      „Ich kannte auch einmal einen Roger.“, gab Tanja verträumt bekannt.

      „Wer war das?“

      „Wir sind in eine Klasse gegangen.“

      „Das ist sicher schon lange her.“

      „Ja, das ist lange her.“

      „Konnte der … hatte der auch …“ Martha wusste nicht, wie sie formulieren sollte, ohne ihre Tante zu verletzen. Tanja stupste mit dem Zeigefinger Marthas kleine Nase an und lächelte.

      „Er konnte lesen. Sogar sehr gut.“ Beim Einschlafen dachte Martha daran, dass ihr neuer, alter Bekannter sicher auch gut lesen könnte.

      „Svenja.“, rief Link erfreut aus, als er die Tür geöffnet hatte und seine Freundin entdeckte. „Mit dir hatte ich nicht gerechnet.“ Svenja lächelte ihn an und hielt ihm eine Flasche Sekt vor die lange Nase.

      „Es gibt etwas zu feiern.“

      „Ich kann das immer noch nicht fassen. Als ich ihn heute Nachmittag vor seiner Villa abgesetzt hatte, hätte ich ihn am liebsten umarmt.“, erklärte Svenja zum wiederholten Male an Links Küchentisch.

      „Ich hab dir doch gesagt, dass er anders ist, als manche denken. Mit dem Umarmen würde ich allerdings vorsichtig sein.“, schmunzelte Link. Svenja sah ihm in die blauen Augen.

      „Ich bin so glücklich, Jürgen.“ Link legte seine Hände auf ihre.

      „Das ist schön, Svenja.“, sprach er leise. Dann hob er einen Zeigefinger. „Aber glaube nicht, er sei die Sanftmut in Person. Er ist sehr tolerant und hilfsbereit, aber er kann auch gnadenlos sein, wenn man ihm querkommt. Falschheit und Speichelleckerei mag er gar nicht.“ Svenja neigte den Kopf leicht zur Seite.

      „Woher kennst du ihn so gut?“ Links Blick ging nach innen und er lächelte.

      „Ist ne alte Geschichte. Erzähle ich dir vielleicht später einmal.“

      Jürgen Link war ein Stein vom Herzen gefallen, als Svenja ihm erzählt hatte, dass sie die Stelle hatte. Er hatte also Recht behalten, aber schließlich hätte das auch anders ausgehen können. Ganz anders. Er hatte seinen Freund also doch richtig eingeschätzt.

      Selbst unbedarfte Fremde hätten die Situation mit einiger Menschenkenntnis ohne große Mühen in kurzer Zeit richtig erfassen können. Die Augenpaare mehrerer, scheinbar unschlüssiger Männer mit Essenstabletts beobachteten nämlich mehr oder weniger heimlich die attraktive Blondine, die sich mit einem Salat und einem Wasser der Kasse der Essensausgabe näherte. Die Besitzer dieser Augenpaare waren bereit, der Frau zielstrebig und temporeich zu folgen und sich einen Platz an demselben Tisch zu sichern, um somit ihrem hormonellen Triebbedürfnis Rechnung zu tragen und ihr facettenreiches Balzverhalten aufzuführen. Im Grunde genommen galt die Aufmerksamkeit dem gesamten femininen Trio an der Theke, denn zufällig befanden sich Ella Olsson und Tonia Esteban, in männlichen Augen in unterschiedlicher Weise ähnlich attraktiv wie die Blonde, direkt hinter dieser, so dass gleich mehrere Optionen eröffnet schienen. Anziehend an den drei Frauen war aber nicht nur ihr Äußeres, sondern ebenso ihre Position im Hause. Wer, wenn nicht die Chefsekretärinnen und die Cheffahrerin, konnten denn mehr über die Absichten des obersten Chefs wissen? Die maskuline Riege hatte aber, dem Klischee entsprechend, die Rechnung ohne weibliche Intelligenz gemacht, denn die Sekretärinnen, in so etwas erfahrener, weil schon länger auch äußerlich Frau, hatten die männlichen Scanvorgänge rasch richtig eingeordnet und eine Defensivtaktik souverän und unabhängig voneinander gedanklich erarbeitet, in die sie die anscheinend ahnungslose Chauffeuse bereit waren in der Praxis mit einzubeziehen.

      „Dürfen wir uns zu dir setzen?“, fragte daher die Schwedin scheinbar harmlos. Svenja, erfreut über das Häppchen emotionaler Zuwendung, nickte, und so steuerten die drei Begehrten einen Tisch mit exakt drei Stühlen an, was die Hoffnungen der Männlichkeit auf kurzfristige Befriedigung ihrer Sehnsüchte zerstob wie der Herbstwind trockenes Laub auf der Straße.

      Roger Wulvsen schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass ihm die Aufmerksamkeit aller sicher war. ‚Alle‘ waren in diesem Falle mit einer Ausnahme Herren in teuren Anzügen und mit wichtigen Mienen, die sich hier zusammengefunden hatten, um mit der Kanzlerin, dem Kanzleramtsminister und einigen Staatssekretären über die Außenwirtschaft und einiges andere zu plaudern. Dies allerdings hatte sich schon bald, und wie so oft, als Zeitverschwendung herausgestellt, denn der Wirtschaftsminister war mal wieder nicht erschienen, die Regierungschefin blieb wie immer im Vagen und die Herren wussten ohnehin, dass sie ihre Angelegenheiten wie gewohnt selbst würden regeln müssen. Die Ausnahme war die Kanzlerin selbst.

      „Die Politik hat für die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu sorgen, nicht wir.“, rief Wulvsen