Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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aufmerksam die Kanzlerin in Erwartung einer Reaktion an, einige feixten ganz unverhohlen.

      „Aber Herr Doktor Wulvsen.“ Die Kanzlerin hob beschwichtigend die Hände. „Wir tun, was wir können, aber wir müssen uns mit unseren europäischen Partnern abstimmen.“, leierte sie. Wulvsen stand auf und nahm seine Aktenmappe.

      „Dann laden Sie uns mal wieder ein, wenn Sie das gemacht haben. Ich jedenfalls stehe erst dann wieder zur Verfügung, alles andere ist nämlich Zeitvergeudung, und in unserem Falle,“ er sah in die Runde und nahm die Regierungschefin und die anderen Regierungsvertreter dabei ausdrücklich aus, „ist Zeit Geld und Arbeitsplätze.“ Er stürmte grußlos hinaus, verfolgt von erstaunten bis belustigten Blicken. Viele der gesetzten Herren hätten es ihm, dem Jüngsten am Tisch, am liebsten gleichgetan, doch fehlte ihnen der Mut, bestimmt aber die Bedeutung, die Kanzlerin zu düpieren. Die nickte einem unscheinbaren Mann zu, der Roger flugs hinterhereilte. Das Hinterhereilen wurde dem Kanzleramtsminister dadurch erleichtert, dass Wulvsen es nicht für nötig befunden hatte, die schwere Tür des Konferenzsaales hinter sich zu schließen, die Erfüllung des unausgesprochenen Auftrags, Wulvsen zur Rückkehr zu bewegen, misslang jedoch. Wulvsen nämlich stürmte davon, uneinholbar und auch unansprechbar von dem Beauftragten der Regierungschefin, und fand sich plötzlich an der frischen Luft wieder. Suchend blickte er sich um. Er befand sich vor dem Haupteingang des Gebäudes, das weiträumig abgesperrt war; weiter vorne, jenseits der Sperren, standen Journalisten, Reporter, Fernsehleute. Polizisten und Sicherheitsleute liefen unauffällig auf dem Gelände umher. Sicher, er war vor der Zeit und am falschen Ausgang, denn die Fahrzeuge warteten in der Nähe des Seitenausgangs. Einige der Medienleute waren jetzt auf ihn aufmerksam geworden, eine Kamera richtete sich auf ihn. Wenn er sich richtig erinnerte, befand sich der Nebenausgang links um die Ecke, also lief er nach links. Vorne setzten sich ein paar Fotografen in Bewegung. Er war jetzt um das Gebäude herum und strebte auf einer abschüssigen Rampe seinem Wagen zu, der neben anderen, gleichklassigen in einer Reihe auf einem Parkstreifen stand. Ariel war umlagert von den anderen Fahrern, was Wulvsen nicht wunderte. Wenn die wüssten, dachte er.

      „Chef, was machen Sie denn schon hier?“, fragte Svenja mit vollem Mund, denn sie hatte gerade, sehr zur Freude ihrer Kollegen, herzhaft in einen Apfel gebissen.

      „Wir fahren, aber dalli.“ Schon saß er im Auto und trommelte mit den Fingern auf der Armlehne herum. Ariel stieg ebenfalls ein.

      „Diesmal nicht hinten?“, fragte sie und startete den Achtzylinder.

      „Bin zu wütend zum Arbeiten.“, gab er zu und dann rasten sie los.

      Svenja hielt ihre Neugier im Zaum, denn der Alte neben ihr machte ein Gesicht, als wollte er jemanden würgen.

      „Die hat keine Ahnung.“, murmelte er. „Keine Ahnung von Wirtschaft, keine Ahnung von Arbeit, keine Ahnung von Politik.“ Dann sah er durch das Seitenfenster hinaus, ohne jedoch die Dinge, die dort an ihnen vorbeirauschten, wahrzunehmen, denn er versuchte, Gedankenblitze und Ideenschnipsel zu etwas Tauglichem zusammenzubringen.

      Sanft sieht er tatsächlich nicht aus, dachte Svenja, als sie an den Journalisten vorbeibrausten. Im Rückspiegel erkannte sie den Kanzleramtsminister, der ihnen atemlos hinterherschaute. Sollte sie ihn fragen, was passiert war? Besser nicht. Nicht in seiner jetzigen Gemütsverfassung. Schließlich war sie auch deshalb eine so gute Fahrerin geworden, weil sie wusste, was wann zu tun war, und Konversation war jetzt sicher nicht angesagt. Ihr letzter Chef, immerhin ein Landesminister, war auch schon mal wütend aus politischen Veranstaltungen gekommen, aber Wulvsen war geradezu außer sich gewesen, als er auf den Parkplatz gerannt gekommen war, und immerhin war er bei der Kanzlerin gewesen. Sie versuchte aushilfsweise sich zusammenzureimen, was wohl geschehen war. Er war schon nicht mit Begeisterung nach Berlin gefahren, das hatte er deutlich gemacht. Solche Besprechungen mit der Kanzlerin seien Zeitverschwendung, hatte er gegrummelt, um dann wüst auf die Regierungschefin zu schimpfen. Svenja konnte ihn bis zu einem gewissen Grade verstehen, aber sie hatte gedacht, dass eine solche Einladung doch auch eine Ehre sei und er sich zusammenreißen würde, und die Veranstaltung zumindest über sich ergehen lassen würde. Ihr Chef hatte eine Veranstaltung der ersten Frau im Staate vorzeitig und wutschnaubend verlassen. Ihr Chef hatte den Minister einfach stehenlassen. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, dass dieses Verhalten negative Konsequenzen für den Alten oder den Konzern haben würde, dafür war der Alte viel zu rational. Sie musste unbedingt Jürgen fragen, wieviel Macht dieser Mann besaß.

      Svenja war froh, endlich sein Haus erreicht zu haben, denn seine schlechte Laune hatte sich auch während der Heimfahrt nicht gelegt. Umso überraschter war sie, als sie ihn plötzlich von hinten sanft reden hörte, nachdem sie angehalten hatte.

      „Wenn Sie die kleine Straße hier weiter fahren und dann links abbiegen, kommen Sie nach einer Weile zu einem Kindergarten. Davor ist ein Kinderspielplatz. Dort hält sich jeden Tag ein kleines Mädchen auf, das den Kindergarten besucht; der schließt aber um sechzehn Uhr und die Kleine wird erst um viertel nach vier von ihrer Tante abgeholt. Wenn ich früh zu Hause bin, oder zwischendurch, und laufe, setze ich mich manchmal zu dem Kind, bis seine Tante kommt. Morgen wird das nicht der Fall sein können. Ich möchte, dass Sie um vier bei diesem Kindergarten sind und mit Martha auf die Tante warten. Reden sie mit ihr und schlagen ihr vor, die Kleine jeden Tag abzuholen und nach Hause zu bringen, zumindest aber bei dem Mädchen zu bleiben, wenn ich das nicht kann und Sie frei sind.“ Svenja drehte sich nach hinten und sah ihren Chef an, doch der scherzte offenbar nicht. Sie zog die Augenbrauen zusammen und wollte etwas erwidern, doch er sagte nur: „Machen Sie das.“, und stieg aus.

      Dieser Mann hatte heute einen Auslandsleiter entlassen, seine Abteilungsleiter zur Schnecke gemacht und den finnischen Ministerpräsidenten angeschrieen. Er hatte gestern eine offizielle Konferenz der Kanzlerin vorzeitig verlassen und sich auch vom Kanzleramtsminister nicht zur Rückkehr überreden lassen, war mit der ausgespuckten Bemerkung „Ignoranten!“ in den Wagen gestiegen. Sie musste mit Vollgas an den Journalisten vorbeifahren und die Zeitungen verlautbarten am nächsten Tag ‚Industrieller düpiert Regierungschefin‘, und jetzt verlangte er von ihr, dass sie sich um ein Kindergartenkind kümmerte. Dieser Mann hatte zwei Seiten. Mindestens.

      Ein Mann in einem Anzug und mit einer Aktenmappe unter dem Arm rannte auf einige geparkte Autos zu. Die Aufnahme war aus großer Entfernung gemacht worden und der Mann hatte das Gesicht abgewandt.

      „Der läuft wie Roger.“, rief Martha und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm. Tanja schaute interessiert um die Ecke, in der Hand ein Trockentuch.

      „Wer läuft wie wer?“

      „Der Mann da im Fernsehen, der läuft wie Roger.“ Tanja sah auf den Bildschirm, konnte aber nur einen Nachrichtensprecher ausmachen, der nicht lief, sondern saß und in die Kamera schaute.

      „Die Kanzlerin hat sich bisher nicht zu seinem vorzeitigen Aufbruch geäußert.“, hörte sie nur noch.

      „Wer ist denn nun gelaufen wie dein Roger?“

      „Ein Mann in einem Anzug. Der war ganz weit weg. Der ist auf Autos zugelaufen.“

      „Aha.“, meinte Tanja und wandte sich wieder dem Abwasch zu. Sie hatte den Fernseher für Martha angeschafft und hörte eigentlich die Nachrichten nur. Gut, manchmal schaute sie sich Liebesfilme an. Sie kuschelte dann am Wochenende mit Martha auf der Couch. Martha schlief meist bald ein, aber sie schaute immer bis zum Schluss. Zeitungen hatte sie keine, wozu auch? Nachrichten im Fernsehen anzusehen fand sie anstrengend, denn dort wurden manchmal erläuternde Zeilen eingeblendet, die sie nicht lesen konnte. Tanja Kiel beschränkte sich daher meist aufs Radiohören, was die Informationsbeschaffung anlangte, so dass ihr nicht nur Geschriebenes, sei es auf Papier oder auf Monitoren, entging, sondern auch Bilder, die auf Papier oder Monitoren manchmal mit Geschriebenem einhergehen, es ausschmücken oder erläutern. Wäre dies anders gewesen, hätte sie über all die Jahre den Werdegang eines alten Schulfreundes verfolgen können, denn so ganz konnte sich Roger Wulvsen nicht aus den Medien heraushalten. Aber das war nicht geschehen, und so konnte in der Folgezeit passieren, was passierte.

      Martha hielt