Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


Скачать книгу

abgespielt hatte, erschloss sich ihr noch nicht ganz, was mit ihrem jungen Alter zusammenhing, aber es musste wichtig gewesen sein, denn sonst wäre es ja nicht im Fernsehen gewesen.

      Eine große, blonde Frau mit freundlichen Gesicht und dunklem Hosenanzug kam auf Martha zu. Direkt. Etwas trotzig und gespannt sah Martha ihr entgegen.

      „Bist du Martha?“, fragte die Frau mit tiefer Stimme. Martha nickte vorsichtig. Der erste Schritt ist gemacht, dachte Svenja und wusste dann nicht weiter, denn sie wusste nicht, in welcher Form sie von dem Alten sprechen sollte. Es lag nahe, dass er sich von Martha nicht mit ‚Herr Dr. Wulvsen‘ anreden ließ, und so wurde Ariel wagemutig.

      „Roger schickt mich, ich heiße Svenja.“, behauptete die Frau und Martha legte den Kopf schräg. „Ich soll bei dir bleiben, bis deine Tante da ist, und euch, wenn ihr wollt, nach Hause bringen.“ Svenja deutete auf das große, schwarze Auto, mit dem sie gekommen war.

      „Ist das dein Auto?“, fragte Martha. Svenja lächelte, denn mit dem Vornamen des Alten schien sie es ja genau richtig getroffen zu haben; wohl war ihr dabei aber nicht.

      „Nein, das Auto gehört der Firma, in der … Roger und ich arbeiten.“ Sie ertappte sich dabei, rot geworden zu sein, weil sie so tat, als duzte sie den Alten.

      „Du darfst mit dem Auto fahren?“ Svenja lächelte noch immer, überlegte aber dabei angestrengt, was sie sagen sollte. Sie entschied sich für die Wahrheit.

      „Ja, ich bin Fahrerin.“

      „Aha, und wen fährst du?“

      „Ich fahre den Chef.“, erklärte Svenja nicht ohne Stolz, wusste aber nicht, ob das die richtige Antwort gewesen war. Martha sah sie seltsam an.

      „Jetzt aber nicht?“

      „Nein, jetzt nicht, jetzt bin ich hier. Ich habe ein wenig Zeit und komme einer Bitte eines Kollegen nach.“

      „Der Kollege ist Roger?“

      „Genau.“ Svenja hatte mittlerweile Mühe, Selbstsicherheit vorzutäuschen, denn sie sprach von Wulvsen wie von einem alten Bekannten.

      „Woher soll ich wissen, dass das stimmt?“

      „Dass was stimmt?“, fragte Svenja irritiert.

      „Dass du Roger kennst.“

      „Wir könnten ihn anrufen.“, schlug Svenja spontan vor. Martha überlegte kurz und nickte dann. Svenja wusste plötzlich nicht mehr, ob das eine gute Idee wäre, schließlich saß der Alte in einer wichtigen Besprechung. Aber sie hatte nun mal diesen Weg eingeschlagen und wollte ihn weitergehen, schließlich handelte sie im Auftrag des Alten, und genauere Instruktionen hatte sie nicht erhalten, also konnte sie guter Hoffnung sein, dass sie das nicht den Job kosten würde. Sie entschied sich für eine SMS.

      „Was hast du da gemacht?“, fragte Martha neugierig.

      „Ich habe ihm eine Nachricht geschickt, und gebeten, dass er zurückruft.“ Tatsächlich ging Svenjas Handy. Sie gab es sofort an Martha weiter, denn sie hätte nicht gewusst, wie sie ihn anreden sollte in Gegenwart des Kindes. Sie könnte ihn doch unmöglich duzen!

      „Hallo Roger, hier ist eine Frau, die behauptet, ihr seid Kollegen. Die ist mit einem großen Auto hier. Sie ist Fahrerin von dem Chef. Sie will hier mit mir auf Tante Tanja warten und mich dann sogar nach Hause bringen und Tante Tanja auch. Kennt ihr euch wirklich?“

      Martha hörte einen Moment lächelnd zu. Der einzige Mensch, den ich kenne, der sich offenbar freut, die Stimme des Alten zu hören, dachte Svenja.

      Tanja wartete, bis der Bus abgefahren war und hastete dann über die Straße. Sie war in Eile, denn sie war aufgehalten worden, hatte dann aber Glück gehabt, dass der Bus etwas Verspätung gehabt hatte, so dass sie nicht den nächsten hatte nehmen müssen. Martha wartete schon fast eine halbe Stunde. Als sie um die letzte Ecke bog, stutzte sie; Martha unterhielt sich mit einer großen, blonden Frau.

      „Ja, Martha hat mir erzählt, dass manchmal ein alter Mann bei ihr sitzt, wenn ich noch nicht da bin, ich bin ihm selbst aber noch nie begegnet.“, erzählte die schlanke Frau mit den schwarzen Augen und den langen, schwarzen, glatten Haaren, von denen sie eine Strähne, die sich angesichts des wehenden Lüftchens vor ihr Gesicht mit dem etwas schiefen Mund bewegt hatte, jetzt mit schlanken Fingern hinwegstrich. Svenja war die einfach gekleidete Frau von Anfang an sympathisch gewesen; sie wirkte bescheiden und schien Martha sehr gerne zu haben. Tanja schüttelte den Kopf.

      „Aber das Angebot kann ich doch nicht annehmen. Ich kenne ihn nicht und ich kenne Sie nicht.“

      Svenja Ariel konnte das alles nachvollziehen, war aber von ihrer eigenen Harmlosigkeit und sogar von der Lauterkeit der Idee des Alten überzeugt. Sie überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, dass ihn Martha für einen alten Mann hielt.

      „Ich biete Ihnen doch nur an, einfach so lange bei Martha zu warten, bis Sie kommen und Sie dann beide nach Hause zu bringen, wenn Sie das wünschen. Ansonsten geht es nur darum, bei dem Kind ein paar Minuten zu bleiben. Wenn mein Kollege Martha nicht Gesellschaft leisten kann.“ Tanja sah die kleine Martha an, die sie von unten anlachte und „Bitte, Tante Tanja.“, sagte.

      „Na gut.“, lächelte Tante Tanja ihre Nichte an und Svenja öffnete den Verschlag.

      Dass Martha sich wunderte, aber etwas anders als Tanja, sah man ihr nicht an, aber sie machte sich durchaus ihre Gedanken, die jedoch nicht, noch nicht, zu einem Ergebnis führten, was ihr aber nichts machte, denn sie war trotz ihres jungen Alters geduldig. Sie war jedenfalls gespannt, wie das mit Roger weitergehen würde.

      Ihre Tante jedoch sah auch jetzt keine Veranlassung, die Bekanntschaft mit Marthas Bekanntem zu machen, was an einer gewissen Menschenscheu liegen konnte, die sie seit Kindesbeinen mit sich herumschleppte. Diese Menschenscheu war zwar schwächer geworden in den letzten Jahren, wie auch ihre nächtlichen Albträume verblasst waren, seit Martha bei ihr war, doch der Kollege von Frau Ariel konnte ja sonstwas sein. Und was wäre, wenn er herausbekäme, dass sie gewisse Kulturtechniken nicht beherrschte? Würde er sich dann nicht mehr mit Martha treffen wollen? Schließlich bedeutete es auch für sie eine Erleichterung und trug zu ihrer Beruhigung bei, wenn Martha nicht alleine auf sie warten müsste. Wie es war, war es am besten so, fand sie.

      Das war ja noch mal gut gegangen. Svenja hätte nicht gewusst, wie sie dem Alten eine Weigerung der Tante hätte erklären sollen. So fuhr sie denn ihre neuen Fahrgäste nahezu beschwingt zu deren Haus. Im Rückspiegel sah sie ab und zu Marthas freundlich lächelndes Gesicht, was einerseits beruhigend war. Andererseits wurde die Fahrerin das Gefühl nicht los, dass das Mädchen etwas wusste oder ahnte, doch Ariel hatte überhaupt keine Vorstellung davon, was dies sein könnte. Besorgt war sie dennoch nicht.

      Nach fast dreißig Jahren Firmenzugehörigkeit sollte Elke Rehbein verabschiedet werden. Aufgrund ihrer persönlichen Art und ihrer Funktion in der Firma war sie geachtet bis beliebt, und das nicht nur im Inland. Sie genoss Respekt und Anerkennung, weil sie es zwölf Jahre im Vorzimmer des ‚rasenden Roger‘, wie der Alte hinter vorgehaltener Hand auch genannt wurde, ausgehalten hatte, und weil sie durchaus die eine oder andere Information über seine jeweils aktuelle Stimmungslage bereit war durchsickern zu lassen, was den meisten überlebenswichtig erschien. Auch war bekannt, dass, wenn sie jemandem gewogen war, Informationen oder Wünsche auch andersherum ihm zugetragen werden konnten. Zudem hatte sie für jeden ein aufmunterndes Wort, der es nötig und verdient hatte, und aufmunternde Worte hatten wahrlich viele nötig, die das Allerheiligste betreten mussten oder es verließen.

      Ihr Abschied hatte sich tatsächlich hinausgezögert. Der Alte hatte lange nicht mit den Neuen so richtig warm werden wollen, so hatte es jedenfalls für Elke Rehbein den Anschein. Ein Vierteljahr hatte es gedauert. In diesem Vierteljahr allerdings hatte es kaum Friktionen gegeben. Es war, als habe er sich zurückgenommen. Ob er das bewusst gemacht hatte, oder ob es Zufall gewesen war, dass er kaum im Vorzimmer aufgetaucht war, wusste Rehbein nicht. Die Zusammenarbeit