Reiner W. Netthöfel

Tanja liest


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drei Metern sein Grundstück umgab. Er musste heute nicht mehr weg, jedenfalls nicht beruflich, denn diesen Abend hatte er sich frei gehalten, und insofern war es ein ganz besonderer Abend. Er duschte, zog sich um, trank etwas, um sich dann auf ein Fahrrad zu schwingen und sein Grundstück eben durch jene selbe Tür wieder zu verlassen und dem entgegenzuradeln, was man als sein zweites oder drittes oder viertes Leben bezeichnen könnte.

      Er stellte das Fahrrad an einem unscheinbaren Hauseingang ab. Der Eingang gehörte zu einem verklinkerten Reihenhaus, von denen es hier viele gab. Er ging drei Stufen bis zu der Haustür hinauf und schellte. Ein adipöser Mann mit schütterem Blondhaar öffnete.

      „Roger, du kommst spät.“

      „Hatte noch nachzudenken.“, erklärte Roger. Der Schüttere bat ihn herein.

      Wulvsen hängte seine leichte Jacke an die Garderobe. Er mochte die Abende bei seinem Freund, dessen kleines Haus immer irgendwie unaufgeräumt und verwohnt wirkte, obwohl der genauso alleine lebte wie Roger, aber Jürgen bekam halt öfter Besuch und danach roch es förmlich, während es bei ihm nach, ja, nach Einsamkeit roch.

      „Die Abende mit dir sind schön, Jürgen.“, meinte er, als sie in das gemütliche Wohnzimmer gingen.

      „Klar, bei deinem Tagesablauf. Setz dich, Bier steht schon da und die Schnittchen kommen sofort.“

      „Hausmacher?“, freute sich Wulvsen lächelnd.

      „Hausmacher.“ Jürgen Link verschwand kurz in die Küche und kam mit einer Platte wieder. Er setzte sich. Die Einrichtung war schlicht, aus hellem Holz und die abgenutzten Sessel und das Sofa waren mit bequemen Polstern versehen.

      „Ich habe ein Problem.“, eröffnete Link vornübergebeugt und machte sich nach seinen Erfahrungen der letzten Jahre nicht viele Hoffnungen, dass sein Freund ihm weiterhelfen könnte. Oder wollte. Doch diesmal täuschte er sich.

      „Und ich weiß, wie man Probleme lösen kann.“, lachte Wulvsen und lehnte sich entspannt zurück. Link runzelte seine Stirn und sagte:

      „Ja.“ Mehr fiel ihm im Augenblick nicht ein.

      „Lecker die hausmacher Wurst.“, Roger nahm noch ein Schnittchen und Jürgen lachte.

      „Ich weiß doch, was du magst.“

      „Erzähl von deinem Problem.“

      „Das Problem habe ja eigentlich nicht ich, sondern benachteiligte Frauen.“, stellte Jürgen klar.

      „Dann erkläre mir dein Projekt.“ Roger öffnete eine Flasche Bier.

      „Du willst also Beschäftigungsmöglichkeiten für ehemalige Nutten schaffen?“, fragte Roger kritisch.

      „Im Prinzip ja, aber ich würde es anders nennen. Es könnten auch ein paar ehemalige Prostituierte dabei sein, aber es handelt sich um benachteiligte Frauen, Roger.“ Roger nickte, denn die Idee seines Freundes hatte etwas. Roger wusste, dass Jürgen kein sozialromantischer Spinner war, sondern sich bestens auskannte und ehrlich engagiert war, nicht nur förderte, sondern auch forderte, was die meisten seiner Klientel gut gebrauchen konnten, denn die hatten fast alle verlernt, sich selbst zu helfen, sich selbst etwas zuzutrauen. Außerdem rechnete er sich an, mitgeholfen zu haben, Jürgen bezüglich der Sozialromantik auf den rechten Weg gebracht zu haben. Nach Jürgens Worten verhielt sich das bei diesen Frauen etwas anders; die wollten unbedingt an ihrer unwürdigen augenblicklichen Situation etwas ändern, mussten etwas ändern, um ihren endgültigen Absturz abzuwenden. Das sagte Roger zu, denn nur einfach Geld für fragwürdige Projekte auszugeben, hielt er für nicht zielführend. Jürgen schien das mittlerweile akzeptiert zu haben, was Roger zufriedenstellte. Außerdem würde Jürgen das Projekt leiten, was schon eine gewisse Garantie wäre.

      „Deine Skizze war sehr anschaulich, Jürgen. Ich überlege mir mal was. Übrigens: Kann man diese Personen auch mal kennenlernen?“ Jürgen lächelte erleichtert; er hatte seinen Freund interessiert, das war der erste Schritt. Dass Roger die Damen vielleicht mal kennenlernen wollte, war ein gutes Zeichen. Ein sehr gutes, denn für Roger, so wusste Jürgen, war es wichtig, die Menschen, mit denen er auch nur entfernt zu tun hatte, kennenzulernen, wenn auch nicht unbedingt persönlich; er wusste eben gerne, mit wem er es zu tun hatte, vor allem bei Personen mit einem besonderen Hintergrund.

      Der weitere Abend verlief dann eher amüsant, was beide Männer genossen. Für Roger war es eine willkommene Ablenkung vom Tagesgeschäft, das bei ihm ja durchaus nicht alltäglich genannt werden konnte, und Jürgen erfreute sich immer wieder an dem Esprit seines Freundes und fand gut, dass er dem Industriellen zu ein wenig Kurzweil verhelfen konnte.

      Beim Aufräumen allerdings stellte sich Jürgen Link die Frage, was den Sinneswandel Rogers hinsichtlich seines Projektes bewirkt haben könnte, denn der war in der Vergangenheit, was diese Dinge anlangte, ziemlich kritisch gewesen. Es blieb jedoch bei dieser Frage, denn Jürgen beantwortete sie sich nicht; das hätte er auch nicht gekonnt, weil er die Konstellationen nicht kannte, nicht die der Sterne, sondern andere, eher personelle. Aber diese Frage hätte selbst Roger nicht beantworten können, der zwar die personelle Konstellation kannte, aber nicht um ihre Bedeutung wusste. Noch nicht.

      „Ich freue mich auf heute Abend.“ Hönnes sah das Telefon an, über das er seiner Frau gerade gesagt hatte, wann er ungefähr zu Hause sein würde, als wolle es ihn beißen. Gut, es wäre sein erster Abend als Rentner, aber was gab es für seine Frau zu freuen?

      „Was ist denn heute Abend?“, fragte er vorsichtig; könnte ja sein, dass er etwas vergessen hatte. Geburtstag? Hochzeitstag?

      „Na, das Essen bei ‚Hilde‘.“, meinte seine Frau ungeduldig. Welches Essen bei welcher Hilde? Waren sie eingeladen bei einer ihrer Freundinnen? Besser nicht nachfragen, bestimmt hatte sie es ihm gesagt und er hatte es verdrängt, schließlich war er auch nicht mehr der Jüngste.

      „Ist der Chef fertig? Er wollte doch um sechs nach Hause?“ Hönnes stand im Vorzimmer und sah Rehbein an, die ihre Sachen für heute packte. Von den Neuen war nichts zu sehen, obwohl das Gerücht ging, dass sie durchaus sehenswert wären.

      „Geh schon einmal rein, er wartet.“ Hönnes war verwirrt. Im Allerheiligsten war er noch nie gewesen. Rehbein nahm ihn lächelnd beim Arm und schob ihn in das Chefzimmer. Er schaute sich um, dann sah er den Chef, wie der sich langsam erhob und sein Jackett zuknöpfte.

      „Herr Hönnes! Schön, dass Sie etwas früher gekommen sind.“ Wulvsen nahm einen Umschlag von seinem Schreibtisch und kam auf Hönnes zu. Rehbein lächelte.

      „Herr Hönnes, ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Sie haben mich jahrelang gefahren – immer sicher, immer schnell - , Sie haben meine Launen ertragen, waren mein Blitzableiter, mein Seelsorger. Ich glaube nicht, dass es einen besseren Cheffahrer gibt.“ Er reichte Hönnes mit einem seltenen Lächeln den Umschlag. „Nehmen Sie es persönlich. Für all die Jahre. Und jetzt geben Sie mir den Schlüssel.“

      „Welchen Schlüssel?“, fragte Hönnes erstaunt.

      „Den Autoschlüssel. Sie haben jetzt Feierabend. Ich werde fahren. Und machen Sie den Umschlag auf.“, lächelte der Alte. Hönnes tat, wie ihm geheißen und seine Kinnlade sackte nach unten.

      „Das, das … das …“

      „Haben Sie sich verdient.“, vervollständigte Wulvsen, nahm seine Tasche, hängte sich seinen Mantel über den Arm und zog seinen Fahrer in den Exklusivlift. „Ich fahre Sie heute.“

      Sie hielten vor einem kleinen Reihenhaus.

      „Gehen Sie hinein und machen Sie sich ein wenig frisch. Ihre Frau wartet schon auf Sie. Wir fahren dann zusammen weiter.“

      „Ich dachte, Sie wollten früh nach Hause.“ Wulvsen schüttelte lächelnd den Kopf.

      „Habe es mir anders überlegt.“

      „Aber