schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, mein alter Freund. Dafür bin ich wohl ein bisschen zu alt.“
Der Knonk blickte ihn entsetzt an. Seine Stimmung wurde schon wieder schlechter. „Das ist noch nicht alles, Raffael“, beeilte er sich zu sagen. „Die Große Prophezeiung hat sich entfaltet.“
„Wann?“ Jetzt schaute der Großvater entsetzt.
Lara und Peter blickten immer verwirrter zwischen dem Knonk und dem Großvater hin und her.
„Welche Prophezeiung denn?“ fragte Lara.
Der Großvater starrte nun sehr ernst ins Leere. Dann ließ er sich in seinem Ohrensessel nach hinten fallen und schnaufte leise. „Was sagt sie denn?“
Der Knonk kramte in seiner Hosentasche. Er konnte sich lange Texte nicht merken, also hatte er, da er geahnt hatte, dass es wichtig sein könnte, den Text der Prophezeiung auf einen kleinen Zettel übertragen. Er räusperte sich: „Also, ich zitiere: ‚Die Zeit ist gekommen. Nun entscheidet sich, ob die farbige Welt steht oder fällt und mit ihr beide Welten. Es liegt in aller Kreaturen Hand, dies zu bewirken, sei es zum Bösen oder zum Guten.’ Das ist alles.“
Lara wurde ungeduldig. „Hallo! Wovon sprecht Ihr?“
Der Großvater sah die beiden Kinder an. „Als Helis verschwand vor vielen Jahren, schickte das Sfanx-Orakel eine Prophezeiung an den Kristallpalast der Weißen Königin. Diese Prophezeiung war in einer gläsernen Rose eingelassen und nicht lesbar. Sie würde sich erst offenbaren, wenn die Zeit gekommen sei, so ließ das Orakel verlautbaren. Helis Verschwinden hat offenbar irgendetwas in Gang gesetzt, was die Grundfesten von Coloranien eines Tages erschüttern könnte. Wie es aussieht, ist dieser Tag nun gekommen. Und es scheint, als könne das Unheil nur abgewendet werden, wenn Kreaturen aus beiden Welten zusammenarbeiten.“
„Genau, und deshalb brauchen wir Dich. Wer sonst könnte uns denn bitte schön helfen?“ Der Knonk schaute den Großvater auffordernd an. Dieser schüttelte den Kopf.
„Tut mir leid, mein alter Freund, aber der Preis, den ich das letzte Mal zahlen musste, war zu hoch.“ Traurig starrte der Großvater auf den Boden.
„Wovon sprichst Du?“ Lara schaute ihn an.
Der Großvater schloss die Augen für einen Moment. Dann erwiderte er den Blick seiner Enkelin. „Du musst es ja irgendwann erfahren…“ Er setzte sich in seinem Sessel auf. „Vor einigen Jahren, als Du etwa zwei Jahre alt warst, schickte die Weiße Königin schon einmal den Knonk in unsere Welt.“ Der Knonk nickte wieder bedeutungsschwer. „Sie rief alle Sehenden zusammen. Dein Vater…“, der Großvater stockte.
„Was war mit meinem Vater?“ fragte Lara.
„Dein Vater…“, setzte der Großvater wieder an, „also, wie sich herausstellte, war Dein Vater auch ein Sehender. Er begleitete mich also zu dieser Zusammenkunft. Alle Sehenden waren der Bitte der Königin gefolgt und so trafen wir uns alle zum ersten Mal an einem geheimen Ort. Wir waren insgesamt sieben Sehende.“
„Mehr nicht?“ fragte Peter ungläubig.
„Nein, es gibt nur sehr wenige von uns.“
„Na, das ist aber dann komisch, dass jetzt schon drei hier zusammensitzen“, entgegnete Peter da.
„Naja, so komisch ist das gar nicht. Weißt Du, Peter, Sehende scheinen sich irgendwie anzuziehen, wie Magneten“, erklärte der Großvater und fuhr dann fort: „Nun, wir trafen uns also alle an diesem Ort. Die Weiße Königin berichtete, dass immer mehr Arquatusdrachen verschwinden würden.“
„Ar…was?“ Lara schaute fragend. Der Knonk verdrehte zum wiederholten Male die Augen.
„Arquatusdrachen“, wiederholte der Großvater. „Arquatusdrachen sind ganz besondere Drachen. Diese Drachen sind auf eine spezielle Weise mit Coloranien verbunden. Wenn sie verschwinden, ist das kein gutes Zeichen. Die Weiße Königin sorgte sich so sehr, dass sie die sieben aktorisierten Farben nicht mehr in Coloranien verwahren wollte. Sie hatte sie mitgebracht, damit wir Sehende sie in Palidonien verstecken konnten. Sie war gerade dabei, Deinem Vater die siebte Farbe zu reichen, da wurden wir plötzlich angegriffen…“
„Angegriffen?“ Peter verzog das Gesicht.
„Ja, völlig unvermittelt flogen Feuerbälle in unsere Mitte. Mit knapper Not konnte die Weiße Königin gerettet werden. Vor Schreck ließ ich die aktorisierte Farbe, die die Königin mir anvertraut hatte, stehen und rannte um mein Leben. Dein Vater lief dicht hinter mir aus dem Versammlungsgebäude. Ich lief, was das Zeug hielt. Als ich mich endlich umdrehte, sah ich Deinen Vater nicht mehr. Auch die anderen Sehenden waren mir nicht weiter gefolgt. Dafür hörte ich ein lautes Gekreische über meinem Kopf. Riesige Vögel, bunt wie Kanarienvögel mit einem langen Hals kreisten da und gaben laute Krähenschreie von sich. Sie mussten die anderen Sehenden gepackt und verschleppt haben. Ich rief nach Deinem Vater und suchte ihn tagelang. Doch ich fand ihn nicht. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Weißt Du, Lara, es gibt nicht nur gute Kreaturen in Coloranien. Es gibt auch sehr gefährliche. Und wenn man nicht aufpasst…“ Der Großvater stockte wieder. Er war jetzt ganz blass und sackte in seinem Sessel zusammen. Der Knonk nickte traurig.
Das war also damals geschehen. „Hast Du das Mama jemals erzählt?“ flüsterte Lara fragend mit stockender Stimme.
Der Großvater sah sie an und schüttelte den Kopf. „Das habe ich bis jetzt noch nie jemandem in dieser Welt erzählt. Deine Mutter hätte mich für verrückt erklärt. Sie glaubt, Dein Vater wäre beim Schwimmen im Meer verunglückt und vom Wasser fortgerissen worden.“
Lara blickte traurig zum Fenster. Dann war ihr Vater ja vielleicht tatsächlich noch am Leben, irgendwo in Coloranien. Und vielleicht könnte sie ihn dort dann auch noch finden…
Sie schaute hinaus. Da erschrak sie. Zwei dunkle Gestalten lugten durch das Fenster. Tiefe Falten durchfurchten ihr graues Antlitz, stechende Augen blickten sie direkt an. Lara zuckte zusammen.
„Was ist?“ Der Knonk drehte sich zum Fenster und sah sie auch. Instinktiv duckte er sich weg und rief laut: „Oh nein, Schattenspäher.“
Der Großvater sprang vom Sessel hoch. Seine 75 Jahre merkte man ihm gar nicht an. Er griff nach einem Gegenstand, der auf dem kleinen Tisch neben seinem Sessel lag und machte einen Satz zum Fenster, riss es auf und hielt den Gegenstand hoch. Die Kreaturen verzogen das Gesicht und lösten sich augenblicklich in Rauch auf.
Peter und Lara schauten ganz verdattert zum Fenster. Lara erkannte, dass es sich bei dem Gegenstand um einen kleinen Spiegel mit einem reich verzierten Griff handelte. Der Großvater sah die fragenden Kinderaugen.
„Das waren Schattenspäher“, erklärte er.
„Und wozu der Spiegel?“ fragte Lara.
„Diese Kreaturen ertragen es nicht, ihre eigene Boshaftigkeit im Spiegel zu sehen. Deshalb verschwinden sie, wenn sie in einen blicken müssen.“
„Das heißt, sie sind noch irgendwo da draußen?“ Peter gruselte es jetzt sehr.
„Ja“, antwortete der Knonk.
„Und was wird jetzt?“ Lara hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weg glitt. Vor zwei Tagen war sie noch davon überzeugt gewesen, dass alles, was sie in Märchenbüchern las, bloße Erfindung war. Ein paar fixe Ideen, die sich irgendjemand irgendwann einmal ausgedacht hatte. Doch jetzt saß sie neben einem Knonk, erfuhr, dass ihr Vater ein Sehender und vor langer Zeit in einer Welt namens Coloranien verschwunden war, und musste sich vor Schattenspähern in Acht nehmen.
„Jetzt raff Dich auf und hilf uns!“ rief der Knonk da in die Stille nach dem Schreck und schaute den Großvater auffordernd an.
Da nickte dieser langsam. „Ich werde mitkommen.“
„Sag ich doch, das Schicksal hat mich schon aus gutem Grund zu Dir geführt.“ Der Knonk sah entgegen seines Naturells äußerst zufrieden aus.
„Naja“, warf Lara da ein, „genaugenommen hat es Dich