Matthias Schroder

Faber


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mehr zerbrechen konnte; in einem Zustand, der er nur als dumpf, träge und langsam zu beschreiben war. Das war das ziemlich genaue Gegenteil von dem, was er jetzt empfand. Er fühlte sich leicht, er fühlte sich - erhaben. Ihm war, als würde er nicht wirklich in diese Welt gehören. Alles war wie in einem größer gewordenen Abstand. Er hatte den Geschmack von Alkohol auf der Zunge. Das war ein untrügliches Zeichen für den starken Appetit auf hochprozentige Getränke, die ihm Betäubung versprachen. Aber es bereitete ihm in diesem Augenblick keine Schwierigkeiten, dieses Gefühl zu ignorieren. Ganz im Gegenteil! In einem gewissen Sinne war es mit einem weiteren Hochgefühl verbunden, von diesem Appetit zu wissen, ihn wahrzunehmen, ihn ins Bewusstsein zu heben und ihm nachzuspüren. Es war ein kleines Kribbeln in den Mundwinkeln, das er nun auf die Zunge schob, beobachtete und seines Anspruches auf Befriedigung entledigte, bis nur noch eine leise Ahnung dieses Appetits übrig blieb und unter dem Einfluss eines sich öffnenden neuen Horizontes in Fabers Leben erstarb.

      ***

      Einige Tage später stand er ratlos vor seinem Haus und sah seiner Gattin hinterher, die sich ohne zurückzublicken und mit wütendem und entschlossenem Schritt entfernte. Den Dunklen hatte Faber seit dem Treffen in der Universität nicht mehr gesehen. Und mit den Tagen stellte er sich immer häufiger die Frage, was nun eigentlich zu tun sei oder ob überhaupt etwas zu tun sei. Zwischendurch hatte er Phasen der Unsicherheit ob seines Vertrages und gelegentlich dachte er daran, sich wegen des Alkohols in Behandlung zu geben. Ebenso gut hatte er ja auch unter Wahnvorstellungen leiden können, unter einer Paranoia, in der sich gemäß der neuen psychoanalytischen Mode allerlei Wünsche Bahn brechen konnten und sich den halluzinativen Weg in die Welt der konkreten Erscheinungen suchten. Was lag aus dieser Sicht näher, als sich den Weg aus seiner Welt hinaus zu wünschen, ohne Sucht und ohne Sterben?

      Er sah ihr hinterher und fühlte sich auf eine merkwürdig undurchschaubare Weise geprüft. War das der Fall, so musste er auf ganzer Strecke versagt haben, denn er hatte in den zehn Minuten, die sie vor seiner Tür stand und keinen Einlass begehrte und in denen sie die meiste Zeit ebenfalls schwieg, keinen einzigen Laut über die Lippen gebracht. Er konnte nichts sagen. Er hätte gerne die Wahrheit gesagt, aber diese lag weit außerhalb des in diesem Augenblick Mitteilungsmöglichen und sie hätte ihn für verrückt gehalten oder geschlossen, dass er sie verachtend zum Narren halten wollte. Doch was hätte er sonst sagen sollen? Jede andere Äußerung wäre eine leicht zu entlarvende Lüge gewesen und für sie in diesem Moment ein Eingeständnis seinerseits, dass er einen schweren moralischen Fehltritt begangen hatte, über den sich nicht einmal offen reden ließ. Denn offenbar wusste sie – woher auch immer – längst Bescheid über das, was er beruflich gerade tat. Sie verdeutlichte ihm ihre Vorstellungen von Berufsethik und machte ihm klar, dass sein Tun mit diesen nicht vereinbar war. Sie hielt ihm vor, sich als Wissenschaftler dem Geld und einer zweifelhaften Sorte von Erfolg verschrieben zu haben. Sie bezeichnete seine Arbeit als faustisch, als eine Perversion der Wissenschaft. Er würde all das, was er erreicht hatte und wofür ihm jede Ehre gebührte, entwerten und mit Füßen treten.

      Er wusste sehr genau, wovon sie sprach. Sie redete in Resten noch mit einem Faber, den es so nicht mehr gab. Seit einiger Zeit hatte er seiner Arbeit eine andere Richtung gegeben. Hatte er bis vor Kurzem noch in nutzenbringender Weise daran gearbeitet, aus Luft Pflanzendünger zu gewinnen, so konzentrierte er sich jetzt darauf, die Luft als Träger des Todes zu verwenden. Und bei dieser Arbeit stieß er auf ein hohes politisches Interesse an seinen Ergebnissen, die sich nicht nur in einem gewissen Maß an Renommee in der Politik auszahlte, sondern auch finanziell einiges an Möglichkeiten für ihn und sein Institut barg, weshalb man ihn dort auch gewähren ließ, solange es mehr Nutzen versprach als Schaden.

      Ebendies hatte sie ihm zum Vorwurf gemacht und bemerkenswert war, dass sie ihm den moralischen Vorwurf machte, obwohl seine Arbeit bislang noch von keinem sichtbaren Erfolg gekrönt war. Es ging ihr um Werte und deshalb hatten sich ihre Welten damit endgültig geschieden. Er konnte dies in ihren Augen sehen, in denen nichts als der klare immerwahre Ernst sich ausdrückte, dem er nichts entgegenzusetzen hatte. Sie hatte Recht. Und ein paar Jahre vorher hätte er dies auch noch akzeptieren können. Nun musste er ihr nachblicken in dem Gefühl, versagt zu haben, aber auch in dem Gefühl der Erleichterung, das mit der Tatsache einherging, dass sie sich nun endgültig von ihm abgewendet hatte. Er musste ihr nichts mehr vormachen und war gleichzeitig der Notwendigkeit enthoben, sich selbst in eigenen Worten zu erklären. Sie war jetzt der Träger eines Willens, der alles Weitere zu seinem Vorteil besorgen würde. Das fühlte sich bequem an. Er musste innerlich keine größeren Bewegungen machen.

      Als er nachdenklich die Tür schloss, klatschte im Nebenzimmer jemand regelmäßig in die Hände. Der Dunkle empfing ihn mit einsamem Applaus, begeisterten Augen und einem gönnerhaft breiten Grinsen, das quer über sein ganzes Gesicht lief und den Ohren etwas Spitzes gab. „Bravo!“, rief er. „Braaaavo! Das hast du gut gemacht.“

      Faber verstand nicht. Machte der Dunkle sich über ihn lustig? Ein wenig trübte dieser erste Ärger über diesen Auftritt das Wiedersehen, das er eigentlich erhofft hatte. Denn immerhin verschaffte ihm dieses Wiedersehen Gewissheit darüber, dass er doch nicht ganz vom Verstand verlassen gewesen sein konnte, und gab seinem Verhalten in den letzten zehn Minuten einen Sinn.

      „Du hast es geschafft. War doch gar nicht so schwer, oder? Nimm Platz! Wir müssen jetzt über die Details deiner Zukunft reden.“

      Auch hier konnte Faber nicht angemessen reagieren, weil er nicht wusste, wovon der Dunkle sprach. Zu stark war noch das Gefühl, gerade alles andere als erfolgreich gewesen zu sein.

      „Du verstehst nicht, was du gerade gemacht hast, weil es sich nicht so anfühlt, wie sich in deiner Welt Erfolg anfühlt, habe ich Recht?“

      Faber nickte in der Erwartung, dass der Dunkle ihn aufklärte. Also fuhr dieser fort: „Die Menschen denken immer, man könne nur entschlossen handeln. Aber das ist Unsinn. Man kann ebenso entschlossen schweigen, stillstehen, die Dinge entschlossen so sein lassen, wie sie sind, die Dinge entschlossen so geschehen lassen, wie sie geschehen. Man benötigt dafür noch nicht einmal Prinzipien. Das ist gewissermaßen eine Metaphysik von einem nicht alltäglichen Standpunkt aus. Die meisten Menschen denken, die Welt, in der wir leben, sei das Resultat all unserer großartigen Leistungen. Das ist ein tiefer Irrtum. Unsere Welt ist in der gleichen Weise das Resultat all unserer Schwächen und Fehlleistungen, all unserer Versäumnisse. Lernen, so denken die meisten, sei immer ein positiv gerichteter Prozess; und zwar automatisch. Was für eine gewaltige Fehlleitung pädagogischen Denkens! Wir lernen ständig auch solche Dinge, die sich gegen uns wenden werden und die nicht gut für uns sind. In derselben Weise denken Menschen auch über ihre Tugenden und Begabungen und nicht zuletzt über das, was man als Fortschritt bezeichnet. Aber genug des Dozierens! Du hast dich wacker geschlagen! Du hast dich ihr nicht in den Weg gestellt. Und – das ist das Wichtigste – du hast nicht versucht, einen anderen Eindruck von dir zu erwecken, als den, den sie bereits von dir hatte. In ihren Augen bist du das, was du bist; oder zumindest, was du jetzt zu werden im Begriff bist. Du hast nicht versucht, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie durfte dir verdeutlichen, als was du gerade erscheinst. Das nenne ich geradlinig! Tüchtig! Sehr tüchtig, mein Guter!“

      Faber verstand, worin sein Erfolg bestand. Um sich auf die Seite des Dunklen zu schlagen, musste man nicht in besonderer Weise tätig sein oder gar für etwas kämpfen und einstehen. Es reichte, sich dem zu Erwartenden nicht in den Weg zu stellen. Das war schon Entschluss. Es kam ihm etwas dürftig vor, wenig romantisch und erst recht nicht heldenhaft, zumal der Dunkle auch angedeutet hatte, dass in seiner Welt sogar der Misserfolg eine Art von Fortschritt sein konnte. Es fühlte sich an, als hätte man in dieser Einstellung lediglich einen Teil seines Stolzes zu opfern.

      „Um aber nun zum Geschäftlichen zu kommen“, fuhr der Dunkle unbeirrt fort. „Du wirst deine erste Reise antreten und musst nun wählen, wohin sie ungefähr gehen soll. Sobald du dies getan hast, geschieht alles andere von ganz alleine.“

      

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