Matthias Schroder

Faber


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der Kaisertreue, der Amtsgläubigkeit. Der Deutsche kommt nur zu sich selbst, wenn er sich in einer größeren Ordnung wiederfinden darf. Über dies hinaus vermag er nicht sich eigenständig zu orientieren. Muss er es trotzdem, fühlt er sich verloren, und zwar im wahrsten Sinne dieses in seiner Bedeutung inzwischen sehr verblassten Wortes. Das war schon immer so, wird immer so sein. Und es wird in der Zukunft sogar noch schlimmer werden. Aber das ist ein anderes Thema, das auf einem ganz anderen Blatt Papier verhandelt werden wird. Tatsache ist, dass die Zahl derer, die schon früh das Zeitliche segnen, schier unendlich ist. Du kennst sie aus deinem Berufsalltag. Es sind die Studenten, die ohne wirkliche Begeisterung für ihr Fach studieren, sich mit Stoff füllen, Prüfungen absolvieren, weil sie das Gefühl haben, dass sie das müssen ohne wirklich zu wissen, warum das so sein muss. Es sind die Schüler, die in der Schule herumsitzen und brav alles tun, was man von ihnen verlangt; die Schüler, die das Sprechen verlernt haben und es auch nicht lernen wollen. Infolge dessen stehen sie in mehr als spärlichem Austausch mit der Umwelt und wirken recht tumb; mit der Zeit werden sie das meistens auch. Ich will nicht lamentieren, aber wir leben in einer Welt, die so eingerichtet ist, dass die eigentlich vitalen Kräfte der Menschen nicht recht zum Ausdruck kommen dürfen, weil man es ihnen zuhause nicht anerzieht, weil man es in der Öffentlichkeit verbietet, weil man es im Berufsleben nicht fordert, weil das Leben heute nur aus Rollen und damit aus Hüllen besteht, die es auszufüllen gilt. Alles ist auf Erhaltung und Bewahrung ausgerichtet, auf Akzeptanz und Hinnehmen. Die wirklich verändernden Kräfte werden mit größtem Argwohn betrachtet, weil deren heilsames Wirken, das sich häufig erst nach Generationen offenbart, von den meisten Menschen nicht ansatzweise für möglich gehalten wird. Viele haben Glück und dürfen ihre Hülle mit Leben füllen und mit einer gewissen Vollständigkeit. Zu viele aber haben das Glück nicht und beschränken schon früh ihr Leben nur auf das Notwendigste. Und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass deren Leben im Grunde schon in der Kindheit vertan ist.“

      „Was für eine düstere Vision das ist, die du da schilderst.“

      „Düster ist sie für den, der das Leben bisher nur von der Seite des Lebens kennt. Glaubst du daran, dass der Mensch eine Seele besitzt?“

      „Ich weiß es nicht. Gewiss gibt es etwas Innerliches an uns Menschen. Aber …“

      „… man kann es“, fiel ihm der Dunkle ins Wort, „leider nicht im Labor durch einen passenden Versuchsaufbau nachweisen, nicht wahr?“

      „Wie soll man hier Gewissheit erlangen? Es würde alles ändern. Wenn wir wüssten, dass der Mensch eine vom Körper unterschiedene Seele hat …“

      „… dann wäre die Welt um ein paar Bausteine reicher und ihr Wissenschaftler hättet neues Land gewonnen, das es zu erforschen gilt. Eine Gewissheit mehr, die euch spätestens in dem Augenblick um den Verstand bringt, da ihr merkt, dass sie mehr neue Probleme schafft, als man damit lösen kann. Denn wenn man weiß, woraus eine Seele besteht, heißt das noch lange nicht, dass man sie damit auch besser versteht. Ein verrückter Mensch bleibt ein verrückter Mensch, auch wenn man nun weiß, dass dies nicht auf stoffliche Ursachen zurückzuführen ist, sondern alleine eine Sache der Seele ist.“

      „Was schlägst du vor? Mir scheint, du weißt bereits die Antwort und möchtest mir einen Vorschlag unterbreiten.“ Hans hatte sich schnell an die Vertrautheit des Du gewöhnt, erschrak aber auch angesichts des Maßes an Bereitwilligkeit ein wenig, mit dem er sich auf die Andeutungen des Dunklen einließ. Dieses Du drang tiefer in seine Seele, so schien es ihm. Sollte er auf einem erneuten Sie bestehen?

      „Ich biete dir eine Erweiterung der Beobachtungen, mit denen du bisher kaum über den spärlichen Bereich der Empirie deines Labors hinausgekommen bist. Ich biete dir die unmittelbare Erfahrung an. Ich kann es dir ermöglichen, dein Leben, das hier an ein Ende gekommen ist, an fast jedem beliebigen Ort fortzusetzen, bis du seiner satt und überdrüssig es selbst beenden möchtest.“

      „Fast?“, fragte er misstrauisch.

      „Es gibt wie überall Einschränkungen und Opfer, auf die man sich einlassen muss.“

      Hans wohnte dem Gespräch eher in einer passiven Haltung und in einer hypothetischen Einstellung bei. All das, was der Dunkle zu erzählen hatte, fühlte sich ernst und tiefgreifend, ja aufwühlend an, aber doch auch unwirklich. Es war wie eine gute oder zumindest berührende Lektüre, die man sobald nicht weglegen mochte, weil sie etwas mit einem anstellt und Erwartungen weckt. Daher ließ er sich auf all das Phantastische ein, das er hier zu hören bekam; auch wenn es jetzt Andeutungen von Verbindlichkeiten gab.

      „Ich kann dir anbieten“, fuhr der Dunkle fort, „dein Leben in einem neuen, frischen Körper fortzusetzen; in einem jungen Menschen, einem jener Menschen, von denen ich eben geredet habe. Freilich würde das auch bedeuten, dass du dich auf ein wirklich neues Leben einlässt. In dem Augenblick, wo du als neuer Mensch, das erste Mal die Augen öffnest, gibt es kein Zurück mehr. Du hast eine neue, wenn auch kürzere und noch offenere Geschichte, mit der du leben musst und die dich in jedem Augenblick deines neuen Lebens verfolgt und Forderungen an dich stellt. Du hast eine Familie mit neuen Beziehungen und Erwartungen. Du hast Lehrer und wirst eine ganze Reihe von Erfahrungen machen, die du bereits hast durchleben müssen. Du wirst plötzlich Freunde haben wie auch Feinde. Von alledem weißt du vorher nichts. Du wirst eventuell in einer neuen Umgebung leben, die du nicht kennst und die vielleicht sogar nicht die Eigenschaften deines Standes besitzt. Du wirst in neuen Kleidern gehen, in anderen Betten schlafen, von neuen Gerüchen umgeben sein, mit dem Gefühl eines neuen und ungewohnt sich anfühlenden Körpers leben müssen. Vielleicht wird dieser zäher, vielleicht aber auch empfindlicher sein.“

      „Interessantes Gedankenexperiment. Ich hatte bis eben den Eindruck, du wolltest mir etwas anbieten, das verlockend und bestechend ist. Gibt es auch Vorteile?“

      „Über all dem, das ich dir hier berichte, steht ein neues Leben, das du von Beginn an neu gestalten kannst; wohl bemerkt als die Person, die du jetzt bist: gebildet, klug, reif, erfahren, voll Witz, Verstand und Geisteskraft. Alles Eigenschaften, die du nun in einer Weise einsetzen kannst, die dir in deiner dahinwelkenden Gegenwart verwehrt ist. Du kannst neue Wege ausprobieren und alte Irrtümer vermeiden. Ferner hast du eine perfekte Tarnung: einen jungen und in seiner Welt bereits etablierten Körper mit einer Stimme, die alle kennen; nur eben bewohnt von einem Geist, der sich allen Anforderungen dieses noch unverbrauchten Lebens mit Leichtigkeit wird stellen können und sich dadurch ein ungeahntes Maß an Macht und Anerkennung erschließen wird.“

      Hans lächelte leicht, weil er noch immer in einem Zustand zwischen Neugier und Ablehnung dieser Märchen verharrte und das Gefühl hatte, dass er sich behaupten müsste. Wobei dieses Bedürfnis nach Behauptung abgeschwächt war durch die Gewissheit, dass er eigentlich nichts mehr zu verlieren hatte.

      „Es gibt aber auch ganz klare Grenzen und Forderungen, die ich dir nicht vorenthalten darf“, setzte der Dunkle seine Rede fort. „Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass deine Seele mit deinem Namen sehr eng verbunden ist. Kein Name lässt sich in irgendeiner Weise klassifizieren. Er ist untrennbar – verzeih mir den Pleonasmus – mit einem Individuum verbunden. Würde man den Namen eines Menschen ändern, würde man damit auch seine Seele verändern. Jede Frau weiß dies, die nach der Hochzeit das erste Mal mit dem neu angenommenen Namen angesprochen dieses leichte Gefühl des Entwurzeltseins verspürt und eine Weile braucht, um die neue Luft, die sie atmet, als Teil ihrer eigenen Welt zu erkennen. Darum kannst du zwar dein Dasein in dem unverbrauchten Körper eines fast beliebigen jungen Mannes fortsetzen, aber die Auswahl ist dadurch begrenzt, dass er deinen Namen oder zumindest einen sehr ähnlichen tragen muss.“

      „Ich glaube, das lässt sich einrichten“, entgegnete Faber zuversichtlich. „Gibt es noch andere Dinge, die du von mir verlangst?“, fragte er mit einer Zuversichtlichkeit, die zu erkennen gab, dass er nicht im Geringsten mit dem rechnete, was der Dunkle noch von ihm verlangen würde. Der Dunkle wurde sehr ernst und blickte mit einer Mischung aus Besorgnis und Mitleid auf Faber. Ihm war klar, dass er ihm nun eine hohe Hürde würde aufzeigen und gleichsam vor ihm aufstellen müssen.

      „Es gibt noch ein Weiteres, das dir nicht leichtfallen wird, aber notwendig ist, damit du zeigst, wie ernst es dir mit diesem Handel ist. Ich hatte eben nicht nur angedeutet, dass