Matthias Schroder

Faber


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wieder frei.

      ***

      So schlimm war es noch nie! Er war froh, dass er sich nur selten an etwas erinnern konnte. Es reichte ihm, dass er mit einem gewissen Maß an Sicherheit ahnte, wo er gewesen war und wie der Abend abgelaufen sein musste. Er konnte sich weder an die getrunkene Menge, noch an die Auswahl der Spirituosen, noch an Uhrzeiten, geschweige denn an den Heimweg erinnern. Er lag angezogen auf dem Teppich im Flur. Sein Gesicht in einer Lache kalten Speichels, der übel roch. Sein Kopf und sein Körper taten überirdisch weh. Sein Arm, auf dem er wohl gelegen haben musste, war taub und bewegungsunfähig. Seine Augen brannten, als er sie öffnete. Ihm war übel und schwindelig. Sein Körper lag merkwürdig verrenkt. An Aufstehen war so nicht zu denken. Langsam, mühevoll und unter Schmerzen drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke.

      Vor seinen Augen tanzten wilde, nervöse Punkte umeinander. Jetzt vielleicht wäre normalerweise die Zeit gewesen, in denen er Studenten in seiner Sprechstunde empfing, Hausarbeiten, Klausurergebnisse, Prüfungsvorhaben, Forschungsvorhaben und Ähnliches mit ihnen zu besprechen hatte. Jetzt saßen wahrscheinlich einige von ihnen vor seinem Zimmer und wunderten sich über seine Abwesenheit; vielleicht taten sie das aber auch nicht, sich wundern. Bei Tag war alles so klar für ihn. Die Welt bestand im Wesentlichen aus Materie und Energie. Daneben gab es für ihn nichts. Einigen Studenten machte er das immer wieder deutlich, aber sie begriffen es nicht. Die schickte er weg. Mit Studenten – und auch Kollegen –, die die einfachen Grundlagen nicht anerkannten, gab er sich nicht ab.

      Die Grundlagen, das war eine Welt voll einfacher Prinzipien. In dieser Welt des Unsichtbaren herrschten die Elemente nach unveränderlichen Gesetzen der Anziehung und Abstoßung, der Bewegung und Ordnung, der Reinheit und der Mischung. Sämtliche menschliche Regungen waren hier irrelevant. Im Gegenteil, diese Gesetze waren lange vorher da. Sie lagen lange vor der Schöpfung als Möglichkeiten des Universums vor und zwangen die entstandenen Elemente in ihre Choreographie. In dieser Choreographie der Elemente gab es keinen Zufall, kein Abweichen, nicht einmal ein Schicksal oder eine Entscheidung. Das Einzige, was es hier für den Menschen gab, waren die Möglichkeiten, die diese unsichtbare Welt bereitstellte. Sie zu entdecken und zu nutzen war seine Aufgabe. Und die Probleme, die der Mensch hatte, waren gemessen an dem Reichtum dieser Welt nur dann Probleme, wenn es hier eine Lösung und damit einen Weg gab, der beschritten werden musste. Vielleicht war es diese Gewissheit, die es ihm ermöglichte, vormittags klar zu bleiben. Vielleicht war sie es aber auch, die ihn später wieder zur Flasche greifen ließ. War sie doch auch eine dieser Möglichkeiten, die es ihm ermöglichte, sich der unerträglichen Kontingenz menschlichen Zusammenlebens mindestens teilweise zu entziehen, wenn auch nicht so effektiv, wie er sich das vielleicht manchmal wünschte.

      Er nahm sich zusammen und sammelte sich. Er musste langsam auf die Beine kommen, um wenigstens einige seiner Geschäfte zu erledigen. Er setzte sich vorsichtig auf. Sterne tanzten wieder wie kleine Moleküle vor seinen Augen. Kristalline Formen und Muster tauchten auf. Geduldig wartete er, bis sie gingen und ihn so klar sehen ließen, dass er aufstehen und den Tag beginnen konnte. Als er vor das Tor trat, war es eine kühle Frühlingsluft, die ihm den letzten Nebel des vorigen Tages aus dem Bewusstsein riss und ihn ermutigte, den Weg zur Universität, den er normalerweise mit der Elektrischen zurückzulegen pflegte, zu Fuß zu gehen. Die Luft war klar und gab die Sonne frei, die sich mit auferweckender Kraft über die Stadt legte. Fast war er versucht, sich der frühlingshaften Stimmung hinzugeben, die er auch in den Menschen auf der Straße sah. Sie schienen sich über den matschigen Grasgrund zu freuen, den der letzte wegtauende Schnee mehr und mehr freigab; über jeden Lebensfunken, der sich in den Straßen düsterer Enge trotzig zu behaupten versuchte, um Anfänge zu versprechen. „Aufklärung“, kam ihm in den Sinn. „Auferstehung“, dachte er mit einem Anflug von Hochmut. „Aber nicht hier, Leute! Nicht hier und nicht heute, nicht an diesem Ort. Was versprecht ihr euch vom Stadtleben? Immer mehr von euch strömen hierher an einen im Grunde lebensfeindlichen Ort. Hier benebelt ihr euch mit dem Gefühl, nicht alleine zu sein und auf der Höhe der Zeit zu leben. Hier wähnt ihr den Maßstab der Gegenwart. Ihr atmet Moderne. Hier tauscht ihr die einfachsten und Sicherheit gebenden Funktionen des Lebens gegen ein Bewusstsein von trügerischer Bedeutung ein. Wie ein Meer von Wassertropfen folgt ihr dem Strom, der euch morgens in die eine und abends in die andere Richtung zieht. Hier lasst ihr euch treiben ohne euch zu fragen, wer eigentlich für die Gezeiten sorgt. Ihr habt das Gefühl von Bedeutung und Wichtigkeit und seid euch eurer Lähmung nicht bewusst, der Lähmung, die euch die Stadt auferlegt, weil sie euch benötigt, weil sie sich aus euch baut und erhält. Ihr seid ihre Nahrung, ihre Atemluft. Sie saugt euch ein und saugt euch aus. Solange ihr noch Energie habt, seid ihr ihr von Nutzen. Hat sie euch verbraucht, scheidet sie euch aus und erst in diesem Moment werdet ihr vielleicht begreifen, dass euer Leben nie euer eigenes gewesen war und es deshalb hier niemals eine Auferstehung geben kann. Das Stadtleben ist kein Wert, nicht einmal ein Kompromiss. Es ist ein enteignetes Leben. Wenn ihr sterbt, werdet ihr es merken. Hier hat keiner mehr einen eigenen Tod. Nicht einmal mehr ein eigenes Altern. Tod und Alter sind hier genauso bedeutungslos wie das Leben selbst.“

      Mit einem gewissen Stolz bemerkte er, dass er sich der milden Frühlingsstimmung nicht hingegeben hatte. Oft schon erschien es ihm, als hätte er die Aufgabe, einen Kampf zu führen; einen Kampf gegen das verordnete Leben, das ihm die Stadt als Ort des falschen Lebens in großen Werbelettern vor die Augen hielt. Er hasste ebenso diesen Ekel wie sich selbst dabei. Doch schien ihm das eine höhere Würde zu haben, als sich dem Strom hinzugeben, mit dem ihm die Stadt ihre Geschwindigkeit aufzwingen wollte. Ihm war, als erkenne er sich bei diesem Gedanken in seinem eigenen Treiben selbst; als schaue er in einen sehr klaren Spiegel. Gerechtfertigt und auf eine unbestimmte, weil ungewohnte Weise, zufrieden erreichte er die Universität, betrat den Flur der chemischen Fakultät, entschuldigte sich bei einigen wartenden Studenten für seine Verspätung und begann seine Sprechstunde in einer ganz menschlichen Stimmung, die so mancher als Frühlingsgefühl hätte beschreiben mögen. Entsprechend energetisch und belebt arbeitete er die wartende Menge ab. Hier eine korrigierte Hausarbeit, dort eine Beratung für eine Versuchsreihe, für den einen Literaturempfehlungen, für den anderen Tadel ob der Art, wie er seine Studien betrieb. Es ging alles sehr schnell und ungewöhnlich gut vonstatten. Normalerweise hasste er diese Sprechstunden. Vieles kam ihm trivial vor. Er musste über Dinge reden, die er schon unzählige Male durchdacht und abgeschlossen hatte, wenngleich sie für jeden seiner Studenten doch ein neues Problem waren. Das verlangte ihm viel Geduld ab. Vor allem aber waren ihm die Sprechstunden verhasst, weil es auch die Fälle gab, in denen er gezwungen war, zu tadeln und zu streiten, in denen er auf Unverständnis stieß und sich darum ganz menschlich geben musste, was er nur ungern als Teil seines Berufes betrachtete, weil er gerade dafür nicht diesen Beruf ergriffen hatte. Heute aber war es anders. Mühelos bewältigte er diese Situationen höchster Kontingenz. Es ging schnell. Und sogar dort, wo es normalerweise einen Disput hätte geben müssen, brachte er Humor auf. Er schaute in interessierte, glückliche, in manche dankbare Augen. Er spendete sogar Trost und munterte auf, wo es Schwierigkeiten gab. So verbrachte er Stunden, die wie mit einem Wimpernschlage vergingen.

      Als er die Menge abgearbeitet hatte, blieb noch einer übrig. Ein dunkel und etwas außer der Mode gekleideter Student, dessen Alter nicht abzuschätzen war und den er zuvor noch nie gesehen hatte. Ihn umgab eine spürbare Leere, als dämpften sich die Eindrücke um ihn herum. Auch die Straßengeräusche schienen ferner zu klingen als bisher. Er spürte einen schwachen Widerhall in sich, den er aber nicht zuordnen konnte. Etwas Unruhiges regte sich in ihm und er hatte das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen. Schließlich begrüßte er den Dunklen und bat ihn in sein Zimmer, dessen Tür er offenließ. Dieser setzte sich und fing ohne Umschweife an zu reden.

      „Das Frühjahr scheint uns doch manchmal zu verstellen. Wir fühlen uns gut. Wir fühlen Lebenskraft. Wir packen Dinge an, die wir eigentlich hätten liegen lassen wollen. Wir entschließen uns sogar dazu. Doch das Merkwürdige dabei ist – und das beschäftigt mich schon gefühlte Ewigkeiten –, dass es sich so anfühlt, als wäre es unser Entschluss, unser Gefühl, als wären es gar wir selbst, die sich aufraffen. Dabei hätten wir zu anderen Zeitpunkten keinen Finger gerührt. Und das führt mich zu der Frage, mit was für einem Phänomen wir es hier eigentlich zu tun haben. Ich meine, woher wissen wir eigentlich, wer wir sind, wenn wir innerhalb von 365 Tagen in so ganz gegensätzlicher Weise denken, fühlen und entscheiden