Matthias Schroder

Faber


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so bekommt man Kochsalz. Uralte Salzvorkommen beweisen, dass das schon vor tausenden von Jahren so war. Erhitzt man eine Flüssigkeit, wird sie zu Dampf, kühlt man sie ab, kondensiert sie und wird wieder flüssig. In den einen Prozess muss man Energie stecken, aus dem anderen Prozess kann man Energie ableiten. Nichts vermag hieran etwas zu ändern. Aber der Frühling“, sagte er mit einem Lachen, das Faber unbehaglich war und das er als deplatziert empfand, „aber der Frühling macht irgendwie alles neu.“

      „Arbeiten Sie über Salze oder über Jahreszeiten?“ Er wurde etwas ungeduldig.

      „Beides“, entgegnete der Dunkle. „Beides. Es ist wie mit so vielen Dingen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Oftmals führen die Dinge ein über lange Strecken unbemerktes Dasein; egal, wie wichtig sie eigentlich sind. Und dann tritt an einer ganz anderen Stelle durch einen fast schon chaotischen Zufall etwas anderes ins Dasein und sorgt dafür, dass das eine in ungewohnt klarer Weise ins Bewusstsein dringt und Konturen bekommt, die es vorher nicht hatte. Was ist schon Kochsalz! Ewig, beständig und gerade dadurch unauffällig. Und der Mensch? Vergänglich, weniger beständig und sich selbst gerade dadurch auffällig. Treffen beide aufeinander, bekommt Salz auf einmal Geschmack, den es vorher nicht hatte. So ist das Leben selbst; eine Chemie, die auf Bestehendes zurückgreift und dabei Neues schafft. Man möchte meinen – und oft hoffen wir das ja gerade in den Naturwissenschaften –, dass der Bereich der Natur einmal geschaffen ein fixer Bereich ist. So war es nie! Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, sondern findet in jeder Sekunde statt, indem Dinge einander begegnen, die vorher noch nie einander begegnet sind. Und in eben dieser Begegnung entstehen neue Gesetze, von denen sich zukünftige Begegnungen derselben Art fortan nicht mehr freimachen können.“

      „Dafür gibt es einen Ausdruck, Kontingenz. Wollen Sie mir bitte Ihr Anliegen mitteilen. Ansonsten möchte ich Sie nicht länger aufhalten“, versuchte er höflich, aber bestimmt, seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

      „Gab es bereits eine Chemie Ihrer Beziehung, als Sie Ihre Frau kennenlernten?“ Bei dieser Frage war es, als griffe der Dunkle ihm ins Innerste und als hielte er es zwischen zwei Händen fest umklammert. „Oder entstand nicht das Geschick dieser Beziehung erst in dem Augenblick, da sie zu existieren begann? Zwei junge und frisch promovierte Akademiker treffen am Beginn des 20. Jahrhunderts aufeinander. Sie sprühen vor Tatendrang. Angefüllt mit Idealen und der Faszination auf Ihrer Seite für eine Frau, die es ebenfalls geschafft hatte. Sie konnten sich in dem anderen gleichsam wiederfinden. Bestätigungsprobleme hat man in solch einer Konstellation nicht. Diese beiden taufrischen Moleküle wirft man nun in den Erlenmeyerkolben, wo sie gewissen Standartbedingungen unterworfen sind; die ja nun wirklich nicht vorhersehbar waren. Familiengründung mit Hochzeit und Kindern, standesgemäßer Auftritt an den Öffentlichkeiten, entsprechendes Ambiente, in dem man auch Gäste empfangen kann. Gestatten Sie mir die eine kleine rhetorische Frage! Haben Sie wirklich geglaubt, Ihre Frau bliebe an Ihrer Seite immer dieselbe? Nein! Mit Ihrer Liebeserklärung haben Sie Masse und Valenz Ihrer Frau verändert; freilich in einer Art und Weise, die nur in Verbindung mit Ihnen möglich war. Sicherlich haben Sie damit nicht ihren Kern verändert, der fortan sein Recht forderte und dieses merkwürdige Hin-und-Her von Anziehung und Abstoßung hervorgerufen hat, das Sie beide dort hingebracht hat, wo Sie heute stehen.“

      Er war starr. Alles, was der Dunkle sagte, fühlte sich an, als stamme es aus einem uralten Wissen, das so alt war wie die Gesetze der Chemie selbst. Die Starre erfasste Brust, Nacken und Verstand und verband sich mit einem Gefühl, das irgendwo zwischen Angst und Neugier angesiedelt war. Der Dunkle redete über eine Beziehung, die er eigentlich nicht kennen konnte und doch zu verstehen schien. Er brachte diese Beziehung unter die ehernen Gesetze der Chemie und machte ihm unmissverständlich klar, wohin diese Beziehung hatte laufen müssen. Stück für Stück setze sie sich vor Fabers innerem Auge zusammen als ein zeitloses Gebilde, als ein Molekül mit seinen begrenzten Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeiten. Seine Ehe schrumpfte in seiner Vorstellung zu einem unendlich kleinen und bedeutungslosen Etwas zusammen, das bereits in seiner Entstehung sein kolossales Scheitern enthielt.

      „Sie rauben mir meine Zeit“, versuchte er mit einem letzten Rest von Widerstand gegen den größer werdenden Einfluss des Dunklen vorzubringen, wobei er merkte, dass seine Stimme dabei ungewöhnlich schwach war und keinen gewohnten Widerhall in seinem Büro fand, als sauge der Dunkle ihre Energie in sich hinein. Und als wenn er von der Bedeutung dieser Worte lebte, erheiterte sich der Dunkle mit leuchtenden Augen, atmete tief ein wie ein Mensch, dem man in einem Gespräch ein wichtiges und sehnsüchtig erwartetes Stichwort gegeben hat und entgegnete:

      „Gewissermaßen haben Sie damit Recht. In einer gewissen Weise haben Sie sie mir aber auch angeboten. Ich bin schon vor langer Zeit auf Sie aufmerksam geworden“, wurde er jetzt offener. „Sie tauchten sozusagen in meinem Horizont auf und wurden in diesem immer deutlicher, als sich die Zeichen dafür verdichteten, dass Ihnen Ihr Leben zu entgleiten begann oder, wie ich es viel lieber sage, wo Sie sich dazu entschlossen haben, den Entwicklungen Ihres Daseins freien Lauf zu lassen. Ich sage das lieber, weil ich in dieser Hinsicht gerne positiv denke. Denn es gehört schon einiges dazu, seine eigenen Kräfte an die Welt abzugeben und ihr den Hauptteil am eigenen Geschick zu überlassen. Wenn Sie aber Ihre Kräfte der Welt übergeben, bleibt die Frage, was mit der Zeit geschieht, die hierbei entsteht. Sie haben damit ein schier unendliches Potenzial an ungenutzten Möglichkeiten entstehen lassen, von denen ich mich offen gestanden stark angezogen fühlte, was allen Wesen so geht, die sich mit der Zeit immer nur am Rande ihrer ansonsten eher zeitlosen Existenz befassen dürfen.“

      „Wer … sind … sie?“, entfuhr es Faber in einer letzten großen Anstrengung, bei der er nicht einmal genau hätte sagen können, ob sie aus seinem Inneren oder aus der Gegenwart des Dunklen herrührte. Er wollte es sicherlich wissen. Doch kam dieses Wissen-Wollen aus einer Verbindung, die sein Innerstes in den Worten des Dunklen mit ebender Schicksalhaftigkeit einging, von der der Dunkle die ganze Zeit in einer Weise geredet hatte, als würde sie damit erst entstehen. Und als wäre dieser Gedanke sichtbar außerhalb seiner selbst gewesen, griff der Dunkle ihn auf:

      „Ich bin der, mit dem du heute eine Verbindung eingehst. Unsere Geschicke haben sich in dem Augenblick miteinander verwoben, da du deine Zeit im Alkohol aufzulösen begonnen hast. Sowenig nämlich wie Energie kann die Zeit verloren gehen. Sie kann nur geordneter oder chaotischer werden. Gewissermaßen gibt es einen Zeiterhaltungssatz. Und wenn es Kräfte gibt, die für die Ordnung der Zeit stehen, mit einem Anfang und einem Ende und einer möglichst geraden Verbindung vom einen zum anderen, so stehe ich für die Unordnung der Zeit. Anfang und Ende sind mir gleichgültig. Ich liebe es, in der Zeit herumzurühren und für Verwirbelungen zu sorgen, wo es nur geht.“

      „Warum?“, fragte Faber mit einer größer werdenden Klarheit, die daher rührte, dass er sich jetzt auf den Einfluss des Anderen einließ.

      „Weil – und hier ist mir das Klischeehafte meines Gedankens fast peinlich – weil daraus so viel Neues entstehen will; wirklich neues, das den Namen des Neuen auch verdient. Nicht nur mit neuer Schale, sondern auch mit neuer Substanz; nicht nur mit neuem Aussehen, sondern auch mit neuen Regeln.“

      „Wie soll das gehen? Soll ich mich zu Tode saufen?“

      Der Dunkle zog die Stirn verständnislos zusammen. „Das wäre freilich der gerade Weg“, sagte der Dunkle mit einem Anflug von Humor. „Du könntest es, wenn dir dieser spießbürgerliche Weg der liebere ist, auch bewerkstelligen, indem du dir eine Kugel durch den Kopf jagst. Die geladene Waffe dazu hast du ja schon in deinem Nachttisch liegen. Damit würde uns aber wertvolle Zeit verloren gehen. HANS!“, rüttelte ihn der Dunkle auf. „Es gibt so viele Möglichkeiten, sich gegen die Zeit zu stellen und wirklich neu anzufangen. Du musst dich dazu nicht umbringen. Ich kann dir Wege zeigen, aus dem Leben zu springen, ohne dass du dich dazu selbst aufgeben musst.“

      Mit seinem Namen hatte man ihn schon lange nicht mehr angesprochen. Und ihm war jetzt auch bewusst geworden, dass der Dunkle längst bei dem sehr unüblichen Du angekommen war. „Wie soll das funktionieren?“

      „Durch meine Gastfreundschaft. Ich vermag in der Zeit mehr zu bewerkstelligen, als du dir jetzt noch vorstellen kannst. Die Welt ist voll von verlorenen Seelen. Bei manchen ist schon in der Schulzeit, bei andern schon mit der Geburt die eigentliche