Sebastian Fleischmann

DIE, DIE NICHT STERBEN


Скачать книгу

Selbst ohne diese Anweisung wären Tom und sein Bruder im Moment zu keiner Handlung fähig gewesen.

      Noch immer am Boden kauernd versuchte Martin seine Tochter zu beruhigen, indem er ihr sanft über den Kopf strich. Langsame Schritte hallten durch den Raum. Das Quietschen jener Sohlen war erneut zu hören, die sie vor wenigen Minuten bereits wahrgenommen hatten. Der Fremde kam näher. Meter für Meter. In Toms Kopf spielten sich Szenarien ab, was jetzt wohl mit ihnen geschehen würde. Aber keine verhalf ihm zu einer Lösung.

      Der Mann näherte sich. Es mussten nur noch wenige Meter sein, bis er den Tresen erreichte. Sollte Tom aufspringen und versuchen ihn zu entwaffnen?! Blitzschnell wog er seine Optionen ab. Vergebens. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Die Angst hatte ihn zu sehr gelähmt, so sehr er sich auch anstrengte.

      Dann starrte Thomas plötzlich auf ein paar Schuhe, die sich vor seinem Haupt befanden. Als Tom den Kopf nach oben neigte, blickte er in die Mündung einer SIG Sauer P226. Der intensive Geruch von verbranntem Schießpulver drang in seine Nase. Hauchzarter Rauch stieg noch immer aus dem Lauf der Waffe auf und verblasste in der Luft.

      >>Wer sind Sie!?<< Es war ein uniformierter Polizist. Er war sichtlich aufgeregt. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Sein kahler Schädel reflektierte das einfallende Licht.

      >>Wir... wir wollten ihre Hilfe. Unsere Eltern sind... sind verschwunden.<< Thomas sprach langsam, mit ruhigem Ton. Er wollte den kleinen Mann nicht unnötig provozieren.

      >>Verarsch mich nicht!<<

      >>Nein, nein. Das würde ich nie tun.<<

      >>Die Schlüssel!<<

      Thomas verstand nicht. Er blickte zu seinem Bruder. Dieser hielt noch immer seine inzwischen leiser weinende Tochter im Arm und vermied ruckartige Bewegungen.

      >>Ich... ich verstehe nicht<<, antwortete Tom schließlich.

      >>Du sollst mir den Autoschlüssel geben!<< Ungeduldig streckte der Polizist seinen Arm aus und richtete so die Waffe bedrohlich nahe an Toms Kopf.

      >>Okay... okay.<< Gedankenverloren begann er in seinen Taschen zu kramen. Wo hatte er den Schlüssel?! In seiner Hose war er nicht. Panik stieg auf. Was würde der Mann tun, wenn er ihn nicht gleich finden würde?! Thomas versuchte nachzudenken - einen klaren Gedanken zu fassen. Vergebens. Er konnte nur an die Mündung der Neun-Millimeter-Pistole an seinem Kopf denken.

      >>Martin, hast du den Schlüssel?<<

      Dieser fasste in seine Hosentasche und suchte ebenfalls danach. Auch er fand ihn nicht. Nervös und angsterfüllt versuchte Martin sich zu konzentrieren. Dann fiel es ihm wieder ein.

      >>Er steckt noch im Auto<<, gestand er leise. Der Polizist warf einen kurzen Blick zu den sich in der Milchglastür abzeichnenden Scheinwerfer. Dann wandte er sich wieder den Personen zu.

      >>Ich verschwinde jetzt! Soweit weg wie möglich! Und wenn ich euch vor der Tür sehe, knall' ich euch ab! Klar!?<<

      >>Absolut... ja!<< Martin vermied Blickkontakt zu dem Cop und konnte sich ohnehin nur auf die Waffe konzentrieren, die jetzt auf ihn gerichtet war. Langsam schritt der Polizist rückwärts zur Flügeltür und sah sich dabei immer wieder nervös in der Gegend um. Dann öffnete er sie einen Spalt und sondierte die Umgebung vor dem Haus - die Pistole jedoch nicht von den Personen weichend. Schließlich stieß er die Tür komplett auf und stürmte eilig hinaus.

      Tom und Martin blieben regungslos zurück und lauschten angespannt den Geräuschen im Freien, während sich die Flügeltür automatisch wieder schloss. Sie hörten die Absätze der Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster in ungewöhnlich kurzen Abständen. Der Polizist rannte. Dann wurde eine Autotür geöffnet und wenige Sekunden später wieder ins Schloss gezogen. Martin hielt seine Tochter im Arm und versuchte sie - mit sanfter, zuversichtlicher Stimme - zu beruhigen.

      >>Jetzt ist der Mann weg. Es ist vorbei. Okay, mein Schatz?! Er wird uns nichts mehr tun.<<

      Valentina versuchte stumm zu nicken. Ihre Angst war noch immer so überwältigend, dass sie außer schnellen, flachen Atemstößen kein Wort herausbrachte. Trotz glasiger Augen und mehreren Tränenspuren auf ihren Wangen konnte sie sich das Weinen inzwischen verkneifen. Sie schien sich langsam zu beruhigen.

      Thomas blickte zwischen der Eingangstür und seinem Bruder hin und her. Auch er behielt noch immer seine Position am Boden, da er eine weitere Kugel in seine Richtung nicht riskieren wollte. Jetzt heulte der Motor des Wagens anhand übertriebener Gaseinwirkung auf und begann sich rückwärts vom Gebäude zu entfernen. Die Schatten, welche sich aufgrund der Autoscheinwerfer im Inneren abzeichneten, begannen sich zu bewegen. Je weiter sich das Fahrzeug entfernte, desto tiefer glitten die unheimlichen Schatten an den Wänden und Gegenständen. Es schien, als würden sie sich auf die am Boden befindlichen Menschen stürzen, um diese mit ihrer Schwärze zu verschlingen.

      Dann plötzlich stoppte das unheimliche Spektakel mit einem lauten, metallischen Krachen von draußen. Martin und Tom horchten auf. Es folgte ein kurzes Knirschen, als würde eine Schrottpresse etwas zerquetschen. Währenddessen drangen höchst panische Schreie des Polizisten durch die Straßen.

      Laut.

      Voller Furcht.

      Schreie, die nur auf eine Aussage hindeuteten: Todesangst.

      Es folgte erneut ein Geräusch von sich biegendem und reißendem Metall. Valentina klammerte sich abermals fest an ihren Vater. Auch dieser konnte sein Unbehagen ihr gegenüber nicht vollständig verbergen. Was zum Teufel geschieht da draußen?! Keiner der Brüder wagte es, einen Blick durch die Tür oder den Fenstern auf die Straße zu riskieren, um zu sehen, was sich dort abspielte. Die Schreie des Mannes drangen in Mark und Bein, wie lähmende Elektroschocks, durch denen sich die Muskeln unangenehm und unaufhörlich verkrampften. Plötzlich verhallten die Rufe des Polizisten binnen Sekunden in der Ferne. Es war Still. Kein Geräusch war mehr zu hören - weder des Mannes, noch vom Wagen. Die Scheinwerfer brannten allerdings noch immer und waren gegen das Polizeirevier gerichtet. Zwar war deren Intensität im Inneren kaum noch spürbar, jedoch erreichten die Lichtstrahlen das Gebäude.

      Nach einigen Sekunden wollte Tom das Wort ergreifen. Seine Lippen bewegten sich und formten den ersten Buchstaben. Plötzlich prallte etwas auf das Kopfsteinpflaster und schlidderte wenige Meter über den harten Untergrund. Thomas stockte. Abermals lauschte er der Situation. Wieder absolute Stille.

      >>Was war das?!<<, flüsterte Martin.

      >>Keine Ahnung<<, entgegnete sein Bruder in gleichem, lautlosen Ton. >>Keine Ahnung.<<

      Er hob langsam den Oberkörper und versuchte aus seiner Position durch einen Spalt zwischen Plissee und Fensterrahmen zu spähen. Außer den grellen Scheinwerfern in einiger Entfernung konnte er aufgrund seiner eingeschränkten Sicht nichts Ungewöhnliches erkennen. Der Parkplatz war unverändert. Ebenso jener kleine Teil der beleuchteten Straße.

      >>Ich kann kaum etwas sehen.<<

      Erneutes Schweigen. Keiner wusste so recht, wie sie reagieren sollten. Allerdings konnten sie auch nicht ewig auf dem Boden verharren.

      >>Soll ich mal nachsehen?<<, fragte Tom.

      >>Willst du da etwa raus gehen?!<<, entgegnete Martin.

      >>Nur kurz an die Tür.<<

      >>Du weißt nicht, was da gerade passiert ist!<<

      >>Und wie lange sollen wir hier warten?!<<

      >>Bis wir sicher sind, dass da niemand mehr ist, der uns gefährlich werden kann!<<

      Thomas lauschte abermals eventuellen Geräuschen. Nichts. Gar nichts. >>Es ist absolut ruhig.<<

      >>Das heißt aber nicht, dass da niemand mehr ist.<<

      Thomas nahm seinen Mut zusammen und schlich in gebückter Haltung zu dem Fenster, durch das er gerade versucht hatte,