Sebastian Fleischmann

DIE, DIE NICHT STERBEN


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vorteilhaft ihre folgenden Aktionen unterstützte.

      Während Martin erst mal versuchte, sich einen Überblick über die vor ihm befindlichen Töpfe und deren Inhalte zu verschaffen, hoffte er - inzwischen doch mit einer innerlichen, mulmigen Anspannung - dass seine Eltern in den kommenden Minuten wieder zurückkehren würden. Krampfhaft versuchte er eine Antwort darauf zu finden, was sich hier abgespielt haben könnte.

      Seine Überlegungen blieben ergebnislos.

      02 - Menschenkenntnis

      Martin und Thomas Kruger wuchsen in Redwitz auf. Damals wohnten sie mit ihren Eltern in einem gemieteten Haus, unweit ihres jetzigen Standorts entfernt. Es war ein großes, dreistöckiges Gebäude, von dem sie allerdings nur das Erdgeschoss bewohnten. Die anderen Etagen standen leer. Nicht etwa deshalb, weil man keine weiteren Mieter finden konnte, sondern weil ihre Großmutter - deren Vermieterin - sich vornahm, selbst einmal in dieses Haus zu ziehen. Sie hatte es mit ihrem Mann nach der Zeit des zweiten Weltkriegs erbaut, wobei sie sehr viel Schweiß und Herzblut investierten. Obwohl sie noch ein weiteres Haus besaßen, sollte es einfach niemand anderes bewohnen, als die eigene Familie.

      Das war nur von Vorteil, da Martin später im Teenageralter keine Rücksicht auf zusätzliche Mieter nehmen musste, als er sich nach und nach eine eigene Heimkinoanlage zulegte und sie in einer gehörigen Lautstärke nutzte. Er hatte sich noch Jahre später an die gemütlichen Filmabende erinnert, zu denen er Freunde und auch Verwandte einlud. Jedes Mal wenn Martin zurückblickte, musste er zugeben, dass er in der Tat eine glückliche und zufriedene Kindheit hatte.

      Der große, anhängende Garten umfasste ein komplettes, weiteres Grundstück, worauf man mühelos kleinere Fußballspiele ausführen konnte. Außerdem hatte er unzählige Nächte an einem improvisierten Lagerfeuer verbracht. Sein Vater Gregor leistete ihm Gesellschaft, wann immer er sich Zeit nehmen konnte. Natürlich beschränkte sich das meist auf späte Nachmittage oder Abende, sobald er von seinem Job zurück war und im Haushalt keine weiteren Arbeiten anstanden.

      Ein Abend blieb Martin ganz besonders in Erinnerung. Nicht mit seinen Freunden oder Bekannten, sondern mit seinem Dad. Maria war an dem Abend nicht zu Hause. Sie hatte eine Freundin besucht, der es leider nicht so gut ging, da sie von ihrem Freund verlassen wurde. Deshalb wollte sich Martins Mutter um sie kümmern und für sie da sein. Aus diesem Grund verbrachte er ein paar Stunden des Nachmittags allein zu Hause, bevor Gregor von der Arbeit kam. Dieser brachte unerwarteterweise eine bereits ausgenommene und ofenfertige Gans mit, da er wusste wie sehr sein Sohn die Abende am Lagerfeuer liebte.

      Thomas war zu dieser Zeit gerade mal vier Jahre alt und wollte an dem Tag unbedingt zu seiner Oma. Deshalb war er nicht zu Hause und die beiden hatten die komplette Nacht für sich alleine. Glücklicherweise handelte es sich um einen Freitag, denn die Situation am Lagerfeuer sollte sich noch reichlich ausdehnen. Gott sei Dank musste Martin am nächsten Tag nicht in die Schule und Gregor nicht zur Arbeit.

      Mit seinen zwölf Jahren hatte Martin schon ein paar wenige - harmlosere - Western gesehen und wollte somit seit geraumer Zeit ausprobieren, wie es ist, etwas über offenem Feuer zu grillen. Nicht auf einem Rost, sondern auf einem drehbaren Spieß, wie man es auch aus Comics mit Wildschweinen kannte.

      Daher saßen sie bei Einbruch der Dunkelheit am Lagerfeuer im Garten und drehten die aufgespießte Gans langsam über den lodernden Flammen. Natürlich erwies sich diese Art der Zubereitung als äußerst langwierig, bis sie die ersten Happen genießen konnten, da eine Gans schon im Ofen mehrere Stunden benötigte. Aber das war es absolut wert. Martin genoss die Zeit mit seinem Vater in dieser gemütlichen Atmosphäre. Das Feuer spendete als einzige Lichtquelle wohlige Wärme, was durch das angenehme, beruhigende Knistern der Glut einen unvergesslichen Flair entwickelte. Nicht selten verloren sich ihre Blicke in den züngelnden Flammen, die sie förmlich zu hypnotisieren schienen.

      Die beiden mussten sich mit dem Drehen ständig abwechseln, um das Tier permanent in Bewegung zu halten, damit die Haut nicht verbrannte. Alleine wäre es wohl eine mühsame und eintönige Arbeit gewesen. Aber nicht zu zweit. Einer kümmerte sich immer um das Feuer und legte entsprechend Holz nach, während der andere sein Augenmerk der Gans widmete.

      Es musste etwa zwei Uhr morgens gewesen sein, als Gregor zum ersten Mal das Messer nahm, um die äußere Schicht von dem Tier zu lösen. Der Geschmack war einfach fantastisch. Das rauchige Aroma mit einer knusprigen Bissfestigkeit und einem saftigen, zarten Fleischgenuss. Nachdem die erste Schicht gegessen war, grillten sie die Gans eine weitere, jetzt natürlich kürzere Zeit, bis das Fleisch abermals eine derart genüssliche Konsistenz entwickelte.

      Martin hatte sich damals gewünscht, dass jener Abend mit seinem Vater niemals zu Ende gehen würde. Doch das tat er. Irgendwann - es war schon sehr spät in der Früh - fielen ihm allmählich vor Müdigkeit die Augen zu und Gregor beendete die Nacht am Lagerfeuer. Dieser Abend blieb Martin noch bis heute als einer der glücklichsten Momente seines Lebens in Erinnerung. Leider sollte sich diese Situation niemals wiederholen.

      Ein paar Wochen später war Susanne bei ihnen zum Essen eingeladen und sie sprachen ausführlich über verschiedene Ereignisse. Unter anderem auch über den Umstand ihres Freundes, der sie vor kurzem verlassen hatte. Daher kam auch jener Abend zur Sprache, als Maria sie besuchte - jedoch nie dort war.

      Seine Mutter hatte gelogen. Wenn sich Maria damals mit ihrer Freundin besser abgesprochen hätte, wäre diese Erkenntnis vermutlich nie ans Licht gekommen. Aber so, wie die Lage dann schien, hatte sie eine Affäre, womit auch der Familienfrieden endete. Thomas war noch nicht alt genug, um die Situation zu verstehen und zu begreifen. Martin allerdings schon. Auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, fraßen sich die kommenden Sachverhalte in sein Unterbewusstsein. Er musste die Streitsituationen seiner Eltern passiv ertragen, welche sich in der nächsten Zeit häuften und fast schon an der Tagesordnung waren.

      Im Nachhinein - nachdem die anfänglichen Gefühle von Eifersucht und Wut einigermaßen abgeklungen waren - musste Gregor erkennen, dass es ihm eher sekundär um den Betrug seiner Frau ging, als vielmehr um den Umstand, dass sie sogar ihren eigenen Sohn allein zu Hause ließ, um so schnell wie möglich zu ihrem Liebhaber zu flüchten. Es war für Martin sehr traurig mit ansehen zu müssen, wie die Liebe der Eltern vor seinen Augen zerbrach und sich förmlich in Luft auflöste. Das Familienleben klaffte immer mehr auseinander, bis schließlich nur noch Fragmente übrig blieben.

      Dies sollte noch viele Jahre an ihm zehren.

      Einen Monat nach ihrer Offenbarung zog Maria schließlich aus und wohnte von da an bei ihrer Mutter. Ab diesem Zeitpunkt switchten Martin und Thomas zwischen ihren Elternteilen immer häufiger hin und her, je nachdem wer gerade Zeit für sie hatte und nicht arbeiten musste. Die restliche Zeit verbrachten sie bei ihren Großeltern. Das Gefühl eines richtigen Zuhauses, einem Zufluchtsort von Kindern in jenem Alter, war verloren.

      Neben Martin mussten auch seine Verwandten feststellen, dass Gregor immer mehr dem Alkohol verfiel. Nicht etwa, weil er ihn mochte - eigentlich fand er ihn sogar ziemlich abstoßend - sondern eher, weil er etwas brauchte, dass ihn vergessen ließ. In Martins Alter konnte er sich noch nicht vorstellen, wie tief der Schmerz sitzen musste, nach so vielen Jahren glücklichen Zusammenlebens plötzlich von dem Menschen, den man liebte, verlassen und enttäuscht zu werden. Schließlich verbrachte Gregor nach der Arbeit mehr Zeit in einer Bar als zu Hause. Deshalb bekam Martin seinen Vater auch immer weniger zu Gesicht. Die Großeltern übernahmen den Part der Familie - der neuen Eltern.

      Immer häufiger - wenn Gregor seine Söhne ins Bett brachte - mussten sie feststellen, dass seine Augen stark gerötet waren. Dieser wies jede Frage danach allerdings mit einer gleichgültigen, aber freundlichen Geste beiseite und meinte nur, dass ihm während der Arbeit etwas ins Auge geflogen sei, da er vergaß eine Schutzbrille aufzusetzen. Allerdings konnten sie vor dem Einschlafen des Öfteren das leise, unterdrückende Weinen ihres Vaters aus dem Nebenzimmer hören.

      Maria hatte dagegen wohl eine stärkere Persönlichkeit, oder sie verstand es einfach, ihre eigentlichen Gefühle zu überspielen - zu verbergen. Das Verhältnis mit ihrem Liebhaber endete bereits nach kurzer Zeit. Jedoch konnte Martin nie begreifen, was seine Mutter dazu trieb, ihren Vater derart zu hintergehen. Allerdings hatte er auch niemals danach gefragt,