Sebastian Fleischmann

DIE, DIE NICHT STERBEN


Скачать книгу

du damit nicht noch einen Moment warten?<< Es war Martin nicht recht, dass sein Bruder im Auto rauchte. Außerdem würden sie ihr Ziel ohnehin bald erreichen.

      >>Du kennst doch unsere Mutter. Wenn ich mir vor ihr eine Zigarette anzünde, muss ich mir nur wieder anhören, wie schädlich das ist.<<

      Tom warf einen kurzen Blick zu seinem Nebenmann.

      >>Gönn mir doch die kleine Freude.<<

      Martin nickte leicht abwertend und fuhr - inzwischen mit gedrosselter Geschwindigkeit - auf eine Bahnüberführung zu. Diese war nicht besonders hoch. Lastkraftwagen hätten hier wohl gewisse Schwierigkeiten und wären gezwungen die nächste Einfahrt ins Dorf zu nehmen.

      Martin durchquerte den steinernen Tunnel von geringer Länge. Für einen kurzen Moment wurde das Motorgeräusch von den massiven Wänden reflektiert und hallte ins Wageninnere. Als der Mazda die Straßenunterführung wieder verließ, bestrahlten die Scheinwerfer das Ortsschild. Redwitz grüßt seine Gäste.

      >>Was ist denn hier los?<< Tom ließ seinen Blick durch die Finsternis schweifen. Die Gegend vor ihnen war noch immer dunkel. Kein Licht erhellte den Weg. Die Straßenlaternen waren erloschen. Es herrschte weiterhin absolute Dunkelheit.

      >>Wahrscheinlich ein Stromausfall.<< Martin nahm den Fuß vom Gaspedal und stellte den Tempomat auf dreißig Kilometer pro Stunde. Langsam passierten sie die ersten Häuser, welche sich anfangs nur auf der linken Straßenseite erstreckten.

      Das Radio gab ein leises Rauschen von sich. Innerhalb weniger Sekunden steigerte es sich zu einem nervigen Kratzen und nahm an Stärke zu. Die Musik wurde mehr und mehr übertönt, bis das Rauschen sie endgültig verdrängte. Die Brüder warteten einen Moment ab. Vielleicht handelte es sich nur um eine Übertragungsstörung, was sich gleich wieder bessern würde. Doch das nervige Rauschen blieb und nahm an Stärke nur noch zu. Schließlich stellte Martin das Radio ab.

      >>Das ist aber ein gewaltiger Stromausfall.<<

      Der Mond befand sich im kleinsten Stadium und bot keinerlei Hilfe in der Nacht. Seine bestrahlenden Eigenschaften waren ungenügend ausgeprägt. Die Fenster der Wohnhäuser blieben dunkel. Jene Grundstücke ebenfalls. Auf der rechten Seite erhellten die Scheinwerfer des Mazdas den Parkplatz einer kleinen Einkaufsfiliale. Zwei Autos schälten sich aus der Schwärze. Alle anderen Stellplätze waren leer. Obwohl fast die komplette Front des Ladens aus Glas bestand, konnte man im Inneren nicht das Geringste erkennen.

      Vor den Brüdern auf der Straße nahm etwas Großes Gestalt an. Nach ein paar Sekunden blickten sie auf das Heck eines Autos, welches mitten auf der Fahrbahn zu parken schien. Es war ein Kleinwagen, der noch gut eineinhalb Meter vom Bordstein entfernt stand. Martin schlug das Lenkrad sachte nach links ein und steuerte den Wagen langsam auf der Gegenfahrbahn daran vorbei. Sie erkannten die Fahrertür, welche komplett offen stand. Beide blieben mit ihrem Augenmerk daran haften und wollten einen Blick ins Innere erhaschen. Niemand war zu sehen. Das Fahrzeug war verlassen. Während Martin noch immer in die Richtung schaute, drehte sich Tom wieder nach vorne.

      >>Vorsicht!<<

      Martin wandte sich sofort reflexartig der Straße zu und entdeckte ein Fahrrad, das direkt vor ihnen auf der Straße lag. Er riss das Lenkrad herum. Die aufkommende Fliehkraft drückte Tom in Richtung seines Bruders, während die Reifen den Gepäckträger nur um Haaresbreite verfehlten. Nachdem sich Martin wieder auf der richtigen Straßenseite befand, konnte er seine ruhige Fahrweise fortsetzen.

      >>Was soll das denn? Wohnen hier inzwischen nur Idioten?<< Tom blickte noch einmal über seine Schulter durch die Heckscheibe, bis das Fahrrad wieder von der Schwärze verschlungen wurde.

      >>Schätze, da ist ein Unfall passiert.<< Auch Martin sah in den Innenspiegel. Allerdings galt seine Aufmerksamkeit eher dem Rücksitz.

      >>Und wieso ist dann kein Mensch zu sehen?<<

      >>Keine Ahnung. Vielleicht rufen sie in irgendeinem Haus gerade die Polizei.<<

      >>Ja, vermutlich.<< Tom zog noch einmal an seiner Zigarette. Die aufkeimende Glut tauchte sein Gesicht für einen kurzen Moment in ein seichtes Rot. Dann warf er sie aus dem Fenster und betätigte einen Schalter, damit die Scheibe wieder in die Führung glitt.

      >>Halten sie sich links<<.

      >>Das Navi können wir ausmachen, oder? Du kennst doch den restlichen Weg<<, fragte Thomas.

      >>Ja, na klar.<<

      Tom schaltete es ab. Damit erlosch die letzte Lichtquelle im Wageninneren und hinterließ nur schemenhafte Silhouetten der zwei Brüder. Martin folgte der Vorfahrtsstraße in die entsprechende Richtung, welche das Navigationssystem als letzte Anweisung vorgab.

      Der Lichtkegel bestrahlte eine Gartenmauer, welche die Sicht auf das dahinterliegende Grundstück verbarg. Die Straße führte eine kleine Anhöhe hinunter. Nicht weit, höchstens zweihundert Meter. Wieder bog Martin nach links ab und fuhr eine kleine Nebenstraße entlang. Er würde noch zweimal die Fahrbahn wechseln müssen, um das Haus seiner Eltern zu erreichen. Der Mann verspürte eine Erleichterung. Nach beinahe vier Stunden konnte er eine Pause gebrauchen. Seine Augenlider wurden bereits schwer. Müdigkeit übermannte ihn. Sie wollten ursprünglich schon nachmittags fahren, aber Tom hatte es arbeitstechnisch nicht so früh schaffen können.

      Auch dieser Teil des Dorfes war ohne jegliche Beleuchtung. Keine Menschen waren zu sehen. Kein einziges Licht brannte in den Fenstern der Häuser. Es wirkte wie eine Totenstadt, welche man aus dem Fernsehen kannte. Normalerweise würde es nur ein paar Minuten dauern, bis die Arbeiter vom Umspannwerk - welches sich ganz in der Nähe befand - den Fehler behoben hätten. Aber hier schien es wohl ein komplexeres Problem zu geben. Martin überlegte, wie er sich in so einem Fall verhalten würde. Wahrscheinlich genauso, wie die Menschen in diesem Dorf. Er würde ein paar Kerzen anzünden und ebenfalls in seiner Wohnung bleiben, bis das Licht wieder funktionierte. Von daher war es nicht ungewöhnlich, dass sich keine Personen auf den Straßen befanden.

      >>Das ist ein Kinderwagen.<< Tom sah aus dem Fenster. Auch sein Bruder entdeckte ihn und konnte seinen Blick nicht abwenden. Er sah nicht aus wie ein Puppenwagen, welcher einfach vergessen worden war.

      Langsam fuhren sie daran vorbei. Tom versuchte in die Liege zu sehen, was jedoch bei der nicht vorhandenen Beleuchtung und dem halbrunden Sonnendach des Kinderwagens unmöglich war.

      >>Sollten wir nicht kurz anhalten?<< Tom sah seinen Bruder an.

      >>Warum?<<

      >>Ich weiß nicht. Das ist ein Kinderwagen.<<

      >>Hab' ich gesehen. Na und?<<

      >>Hast du als Vater jemals den Kinderwagen auf halbem Weg vergessen? Ich denke nicht. An so etwas denkt man doch. Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn ich schnell nachsehen könnte.<<

      Tom hatte recht. Es schadete nicht, wenn Martin kurz hielt. Er stoppte den Wagen und schaltete in den Leerlauf. Dann drückte er den Fuß aufs mittlere Pedal. Die aufleuchtenden Bremslichter tauchten einen kleinen Teil der hinteren Straße, inklusive dem Kinderwagen, in ein tiefes Rot.

      Tom öffnete die Beifahrertür und trat hinaus. Abgesehen vom laufenden Motor war kein anderes Geräusch wahrzunehmen. Er ging auf den Kinderwagen zu, der nur wenige Schritte von ihm entfernt war. Es war nichts Außergewöhnliches daran festzustellen. Zumindest äußerlich. Leichtes Unbehagen stieg in ihm auf, was er sich jedoch nicht erklären konnte. Wie sein Bruder bereits vermutete, was sollte schon passiert sein?! Dennoch spürte er, wie sich sein Brustkorb zusammenzog und ein beklemmendes Gefühl hinterließ. Toms Atmung wurde intensiver. Schließlich hatte er den Kinderwagen erreicht. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte er - stand nur da. Dann umfasste der Mann die Griffstange und drehte den Wagen langsam zu sich. Die Schatten in der Liegefläche wichen. Die Bremslichter begannen den Innenraum zu erhellen. Jetzt konnte Tom den kompletten Inhalt des Wagens einsehen. Nichts. Er war leer.

      Erleichterung setzte ein. Thomas begann