Sebastian Fleischmann

DIE, DIE NICHT STERBEN


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jede Statistik verschlechterten sich Martins Noten in der Schule jedoch nur unmerklich. Allerdings zog er sich emotional immer weiter zurück. Er begann negative Situationen von seinem Alltag, oder von Mitschülern, zu verheimlichen, oder redete sie schön. Für ihn waren seine Eltern nicht mehr die Personen, denen man alles erzählen konnte, oder durfte. Er hatte Angst, auch einmal von ihnen enttäuscht, vielleicht sogar verlassen zu werden. Selbst wenn es ihm schlecht ging verbarg er es und schuf eine Fassade um sich herum, durch die er ständig zufrieden wirkte.

      Da Martin und Tom die meiste Zeit bei ihren Großeltern verbrachten, bekamen sie nicht wirklich mit, wie es vonstatten ging, aber es schien, als würden sich Maria und Gregor allmählich vertragen. Es musste etwa ein Jahr vergehen, bis seine Mutter schließlich wieder zu Hause einzog.

      Von jenem Zeitpunkt an versuchten sie erneut eine glückliche Familie zu sein, was sich natürlich als sehr schwer erwies. Weitere Jahre später wirkte es so, als hätte es die besagte Situation nie gegeben. Niemand verlor je wieder ein Wort darüber. Jedoch war die Beziehung der beiden nicht dieselbe wie zuvor. Sie liebten sich noch, dass stand außer Frage. Doch das Vertrauen war gebrochen. Erst viel, viel später sollte sich das erneut verbessern. Es hieß, die Zeit heilt alle Wunden. Aber eigentlich gewöhnte man sich nur an den Schmerz.

      Nachdem weitere Jahre vergangen waren, beschlossen sie, sich ein eigenes Haus zu bauen, um dort ihr weiteres Leben in eigens konstruierter Gemütlichkeit zu verbringen. Dieses Haus würden sie später einmal ihren Söhnen überschreiben, die es dann entweder verkaufen, oder persönlich nutzen könnten. Es wäre das Vermächtnis nach ihrem Ableben.

      Da Gregor Maurer war, lag es nicht fern, dass Martin auch einen handwerklichen Beruf ergriff. So entschied er sich für eine Ausbildung zum Zimmermann. Nachdem er seinen Dienst bei der Bundeswehr abgeleistet hatte, begann er mit der Arbeit in einem örtlichen Betrieb, welcher kurze Zeit später jedoch Insolvenz anmelden musste und seine Tätigkeiten schließlich einstellte.

      Danach zog es ihn aus einem unerfindlichen Grund von zu Hause weg. Er wollte etwas Neues sehen; etwas Neues in seinem Leben entdecken. So fand er sein nächstes zu Hause in einer kleinen Vorstadt von München. Anhand der dort herrschenden Mietpreise war seine Wohnung entsprechend klein. Dennoch fand er Wohlgefallen daran. Er ist nie die Art Mensch gewesen, die besonderen Luxus brauchten, um glücklich zu sein.

      Den Kontakt zu seinen Eltern und den Freunden aus seiner Heimat pflegte er nach wie vor. Meist nur per Telefon, aber wenn es seine Zeit und das Geld zuließen, fuhr er sie auch mal besuchen. Natürlich ließ die Häufigkeit zu wünschen übrig, aber zwei, eventuell drei Mal im Jahr versuchte er es möglich zu machen.

      Martin fand recht schnell eine neue Stelle in einem relativ großen, angesehenen Betrieb mit integriertem Sägewerk, welcher bereits so viele Aufträge aus dem Großraum München hatte, dass die Zimmerei für zwei Jahre im Voraus ausgebucht war. Nach ein paar Jahren konnte sich Martin ein gewisses Ansehen erarbeiten und wurde dadurch Verantwortlicher für mehrere Baustellen. Das brachte ihm zwar nicht übermäßig mehr Geld ein, aber er hatte nach wie vor Spaß an dem was er tat. Er hatte seine Berufung gefunden und auch nie daran gezweifelt, oder daran gedacht, seinen Job zu wechseln.

      Er empfand es für angenehm, oft einen Hut zu tragen. Zumindest bei den Arbeiten, wofür kein Schutzhelm erforderlich war. Vielleicht lag es an den Westernhelden, welche er zu Kindeszeiten im Fernsehen bestaunt hatte, dass er sich auch noch einen Bart wachsen ließ. Und da viele Kollegen der Meinung waren, dass ihm dieser gut stehen würde, blieb er dabei.

      Irgendwann lernte Martin bei einem Richtfest die Tochter eines Auftraggebers kennen und sie verstanden sich von Anfang an ziemlich gut. So kam es, dass Lisa und er sich auch nach Beendigung des Bauprojekts trafen. Damals hätte Martin niemals so weit gedacht, dass er diese Frau eines Tages heiraten und mit ihr ein Kind bekommen würde.

      Lisa besaß ihr eigenes Maklerbüro und verdiente auch entsprechend daran. Schließlich sind die Preise für Wohnungen in München nicht gerade auf unterem Niveau, wodurch entsprechende Summen als Provision abfielen. Nach einer Weile gab Martin schließlich seine Wohnung auf und zog zu seiner Freundin, welche bereits eine überdurchschnittlich große Immobilie besaß.

      Nach vierjährigem Zusammenleben mit Höhen und Tiefen - allerdings in einem Ausmaß wie es in gesunden Beziehungen üblich ist - wurde Lisa mit Valentina schwanger und sie beschlossen zu heiraten. Die Hochzeit gestaltete sich für Martin als ein weiterer der glücklichsten Momente seines Lebens, was ebenso für seine Lebenspartnerin galt.

      Auch wenn es ab und an Streitigkeiten gab, so war Geld nie das Problem. Da Lisa ein wesentlich höheres Monatseinkommen hatte, achtete Martin sehr genau darauf, ihr nicht auf der Tasche zu liegen. Nicht etwa, weil er es nicht durfte, sondern weil sein Anstand und seine Erziehung es untersagten. Zwar besaßen sie nach der Hochzeit ein gemeinsames Konto, sprachen jedoch über sämtliche Ausgaben und tätigten keine Transaktionen ohne sich mit dem Partner vorher beraten zu haben.

      Beide empfanden sich als sehr gute Eltern. Sie wollten, dass es ihrer Tochter an nichts fehlte. Natürlich sollte sie nie alles bekommen wonach sie schrie, damit aus ihr nicht so eine verzogene Göre wurde, wie man es in Realityshows sehen konnte. Sowohl Martin, als auch Lisa hatten bereits eine entsprechende Lebenserfahrung hinter sich und wollten deshalb nicht die gleichen Fehler bei Valentina machen, wie ihre eigenen Eltern bei ihnen.

      Etwa in dem Zeitraum als ihre Tochter sechs Jahre alt wurde, schlug die Partnerschaft zwischen Martin und Lisa in emotionaler Hinsicht einen anderen Pfad ein. Es ging nie um verflogene Liebe. Ganz im Gegenteil, sie mochten sich beide noch sehr. Allerdings sprach Martin nur sehr selten über seine Gefühle und verhielt sich die restliche Zeit diesbezüglich sehr ruhig. Auch wenn sie bereits viele Jahre zusammen waren, konnte Lisa ihr Wissen über Martins früheres Leben in nur zehn Minuten erzählen. Seine Eltern, sein Bruder und sogar er selbst waren für sie wie ein verschlossenes Buch, wovon man nur die Inhaltsangabe auf der Rückseite des Einbands kannte.

      Martin würde sich nie eingestehen, dass die Trennung und das Verhalten seiner Eltern ihn doch sehr stark geprägt hatten und sein kommendes Leben auf andere Bahnen lenkten. Er redete seit je her nur selten und äußert wortkarg über negative Emotionen privater Hinsicht, oder Problemen aus seiner Arbeit. Größeren Streitigkeiten ging er meist aus dem Weg, oder beendete sie, bevor es tiefgründiger wurde, indem er seiner Frau einfach in allem Recht gab und ihr zustimmte. Damit blieb für Lisa der Einblick in seine Seele durchweg verborgen. Sie empfand es irgendwann als Zeichen des Misstrauens, dass sich ihr Mann niemals vor ihr offenbarte - auch wenn dies nie seine Absicht gewesen war.

      Schließlich fühlte sie sich mit der Zeit nicht mehr wohl in ihrer Beziehung. Nach vielen Versuchen daran zu arbeiten und sich dem sogar anzupassen, gab es zwischen Lisa und ihrem Mann das "große Gespräch", was letztendlich auf eine Trennung hinauslief. Dies geschah weder im Affekt, noch im Streit, sondern in beidseitigem Einvernehmen. Da Martin nie mochte, dass Lisa sich jemals unwohl fühlte, willigte er schließlich ein, auch wenn er dieses Ergebnis nie erhofft hatte. Seiner großen Liebe sollte es gut gehen. Wenn nicht mit ihm, dann musste er sich dem eben fügen.

      Sie nahmen sich zusammen einen Anwalt und die Scheidung verlief ohne Komplikationen, da sie gegenseitig keine Ansprüche erhoben.

      Martin suchte sich erneut eine Mietwohnung in der Nähe seines Betriebs, die er sich leisten konnte und zog bei Lisa aus. Allerdings sind beide nach diesem Ereignis weiterhin beste Freunde geblieben. Wegen dem Sorgerecht für Valentina gab es keinerlei Probleme, da sie sich nach wie vor sehr gerne hatten und sich auch gegenseitig unterstützten. An jenem Wochenende wäre Lisa am liebsten mit zu seinen Eltern gefahren, da sie schon seit Längerem nur noch regen Kontakt zu ihnen hatte. Allerdings kam ihr ein nicht zu verachtendes, berufliches Projekt dazwischen, welches hervorragende Aussichten auf eine horrende Provision versprach. Deshalb wollte sie eine spätere Gelegenheit des Wiedersehens nutzen und dieses Wochenende Martin und Valentina überlassen.

      Thomas schlug im Gegensatz zu seinem Bruder einen ganz anderen Lebensweg ein. Nachdem er das Gymnasium absolviert hatte, versuchte er sich ebenfalls in einem handwerklichen Beruf, um seiner Familie in gewisser Weise treu zu bleiben - trotz höherer Schulung - und begann eine Lehre zum Mechatroniker. Doch anders als Martin