Christine Boy

Sichelland


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Die Wände der Schlucht standen so eng beisammen, dass man von oben her nur Schwärze erkennen konnte – der Grund des Spalts blieb verborgen. Was sollte es dort auch zu sehen geben? Bereits auf halber Höhe des Abgrunds stießen die beiden Seiten hier und da zusammen. Wer dort hinunterstürtzte, würde vermutlich nicht einmal auf dem Boden aufschlagen, sondern vorher steckenbleiben und so einen vielleicht noch qualvolleren Tod sterben.

      Es machte sich niemand die Mühe, den Spalt von unten her zu untersuchen. Außerdem endete er auf einer Seite in der massiven Felswand eines Berges, der die Cassydischen Gräben im Osten begrenzte, auf der anderen Seite war er wegen mehrerer Steinschläge in der fernen Vergangenheit ebenfalls nicht zugänglich.

      Und den Stollen kannte niemand.

      Nicht weit vom 'Brunnen' entfernt, doch von niemandem beachtet, klaffte eine tiefe Furche im Boden, eine von vielen in dieser Gegend. Sie verlief in bizarren Zickzacklinien, verzweigte sich mehrmals und endete nach und nach irgendwo im Nirgendwo. Keiner hätte sich in dieses Labyrinth gewagt, das tiefer und weitläufiger war, als man zunächst glaubte. Und so wusste auch keiner, dass einer dieser Ausläufer nicht einfach verebbte, sondern in einen kurzen, unterirdischen Tunnel mündete. Und dieser wiederum stieß im spitzen Winkel genau auf jene Spalte, die vielen als „Tor zur Unterwelt“ bekannt war – eben weil nie jemand ihren Grund gesehen hatte.

      Niemand, außer den Cas und den Shajs der Nacht aller Zeiten.

      Den jene Schlucht war durchaus begehbar, aber nur, wenn man diesen einzigen Zugang wählte. Wer sie durchschritt, durfte keine Dunkelheit fürchten, denn die Sonne drang nur an wenigen Tagen des Jahres bis hierher durch, und selbst dann war sie zu schwach, um mehr als einen Schritt im Umkreis zu erleuchten. Die Felswände, die immer wieder über diesem Durchlass zusammenstießen, verhinderten, dass man das Geheimnis der Schlucht von oben her ergründen konnte und diejenigen, die den Versuch mit dem Leben bezahlt hatten, waren der Lösung erst mit ihrer Verwesung näher gekommen – als sich nämlich das Fleisch von ihren Knochen gelöst hatte und die bleichen Gerippe dem eisernen Griff der Berge entkommen und durch die schmalen Spalten hinabgefallen waren.

      Man konnte bequem hintereinander gehen und dabei sogar eine aufrechte Haltung bewahren und besonders furchtlose Pferde hindurchführen, doch an eine Rast oder gar ein Nachtlager war hier nicht zu denken. Ein rauer, mit kleinen Felssplittern übersäter Boden bot eine Stolperfalle nach der nächsten auf, der Wind heulte laut und es war feucht.

      Sie gingen langsam. Nicht aus Vorsicht oder gar Beklemmung, sondern um sich mit jedem Schritt dieses Weges bewusst zu werden. Er führte sie in den Krieg. Und wenn sie ihn vollendet hatten, waren sie endgültig bereit für den Kampf.

      Plötzlich veränderte sich der schier endlose Spalt. Er wurde ein wenig breiter und höher, sein Grund wurde glatter, die Feuchtigkeit schwand. Nur die Finsternis blieb. Dies war die Stelle, an der die Schlucht auf den Berg stieß. Ein Berg, der durchzogen war von einem Gang, den die ersten Krieger des Landes geschaffen hatten. Wie viele Jahre hatten sie im Geheimen daran gearbeitet? Wie viele Generationen hatten ihn weiter getrieben? Wie viel Blut und Schweiß waren in ihm geflossen?

      Schnurgerade, eben, schmucklos und in vollkommene Dunkelheit getaucht. Man musste ihm weit länger folgen als dem „Tor zur Unterwelt“ und es brauchte besondere Mittel, um ein Pferd dazu zu bringen, hier nicht zu scheuen und in Panik zu geraten. Nur die Mondpferde der Cas und der Shaj bestanden diese Prüfung ohne betäubende Substanzen.

      Als sie sein Ende erreichten, war die Nacht schon fast vorüber. Vor ihnen lagen dunkelgrüne Wiesen. Der Mond blendete sie schon fast, so grell schien er nach dieser fortwährenden Finsternis. Bei Tage wären sie durch das plötzliche Licht vielleicht erblindet.

      Nachdem sie ins Freie getreten waren, wandten sich einige Männerr noch einmal um. Die verfallene Hütte, die sich an die Steilwand des Berges drängte, war nicht einmal mehr für Landstreicher einen Besuch wert. Und selbst dieser hätte die gut getarnte Tür in der Rückwand des Hauses weder gefunden noch hätte er sie öffnen können. Ganz abgesehen davon, dass er nicht weit gehen musste, um Obdach zu finden.

      Am westlichen Horizont ragten die Feuertürme der Stadtmauern Askaryans in den Himmel.

      Der Wachposten schüttelte verständnislos den Kopf. Ganz Semon-Sey war auf den Beinen, jeder hatte die Shaj an diesem Tage sehen wollen – sie und die Cas, wie sie gen Süden auszogen, um den Feind zu schlagen. Die Heere Cycalas' hatten sich in Bewegung gesetzt und niemand wäre auf die Idee gekommen, sein Interesse etwas anderem zu widmen.

      Zumindest hatte er das erwartet.

      Und nun öffnete er bereits zum dritten Male an diesem Tage das schmale Tor, das den westlichen Ausgang aus der Stadt bildete. Dahinter befand sich nichts als ein schmaler Pfad in die dichte Vegetation, der bestenfalls für kräuterkundige Wanderer interessant sein mochte. Er führte direkt zur Küste, es gab kein Dorf und keinen Tempel auf diesem Weg und auch sonst nichts, was einen Ausflug lohnte. Über eine Abzweigung gelangte man noch zum Fluss, aber abgesehen davon, dass man diesen sehr viel schneller über das Südtor erreichte, war es auch noch unbequemer, diesen Umweg zu wählen. Gerade jetzt im Winter. Selbst im Sommer war diese Gegend kaum besucht.

      Der jetzige Passant war – wie die vorhergehenden – in derbe Wanderkleidung gehüllt. Er hatte sein Gesicht schon einige Male gesehen und zumindest das beruhigte ihn. 'Der will vielleicht wirklich nur Kräuter sammeln.' Doch sogleich fragte er sich 'Kräuter? Um diese Jahreszeit?' Der Wächter zuckte die Achseln. Was ging es ihn an? Vielleicht wollte dieser Mann auch bloß jagen? Aber mitten in der Nacht?

      Einige Stunden zuvor hatte er sich dieselben Fragen gestellt, nämlich als ein anderer Wanderer – der ihm ebenfalls vage bekannt vorgekommen war – ohne jede Erklärung um Durchlass gebeten hatte. Und die beiden, die bereits zur Mittagsstunde die Stadt nach Westen hin verlassen hatten, wollten ihm schon gleich gar nicht mehr aus dem Kopf gehen. Von allen waren sie die auffälligsten 'Reisenden' gewesen. Er beschloss, sich endlich Klarheit zu verschaffen.

      „Sag, alter Mann, was gibt es da draußen, dass an einem Tag wie heute so viele in die Wildnis im Westen ziehen?“

      Der Alte tat, als verstünde er nicht.

      „Wo willst du hin?“ wiederholte der Wächter ungeduldig und deutete auf den Pfad.

      „Ah....“ Das Gesicht des Wanderers hellte sich auf, als habe er endlich begriffen. Er zog ein Amulett hervor, auf dem eine Schlange eingraviert war. Ein eher billiges Stück von einem fahrenden Händler.

      „Wir geben! Wir geben Opfer! Er wird den Sieg bringen!!!“ Dabei verdrehte der Alte die Augen und erweckte nun vollends den Eindruck eines Verrückten.

      Der Wächter seufzte. Es war nicht ungewöhnlich, dass einige Irre der Meinung waren, sie könnten Ash-Zaharrs Gunst besser erlangen als die Priester, indem sie irgendwelchen wahnwitzigen Ritualen nachgingen. Einige bevorzugten dafür aus verständlichen Gründen die Einsamkeit, denn es war bekannt, dass die semonischen Priester sich nicht gern ins Handwerk pfuschen ließen. Seltsam war nur, dass sich nun auch dieser Mann dazu hinreißen ließ – war er doch ein Fremdländer und somit ein Ungläubiger. 'Na, vielleicht ist er inzwischen so verwirrt, dass er selbst nicht mehr weiß, was er tut.'

      „Ach, verschwinde!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung, wartete bis der Alte durch das Tor geschlurft war und verschloss es dann wieder sorgfältig. Hoffentlich kamen nicht noch mehr Geisteskranke auf die Idee, dort draußen eine Opferzeremonie durchzuführen. Sonst würde er am Ende doch noch den obersten Säbelwächter Semon-Seys informieren müssen. Und der war, dank des Befehls, hier zurückbleiben zu müssen und nicht an den Schlachten teilnehmen zu dürfen, ohnehin schon denkbar schlechter Laune.

      Auf der anderen Seite der Stadtmauer atmete Menrir auf. Er konnte nur hoffen, dass dieser Wachposten dem merkwürdigen Auftritt keine weitere Aufmerksamkeit schenken oder ihn gar verfolgen lassen würde.

      Eilig machte er sich auf den Weg, der ihm beschrieben worden war. Wenn er Glück hatte, konnte er den verabredeten Treffpunkt noch erreichen, bevor die Sonne aufging.

      Die zehn Mondpferde grasten