Lennys sich nur alle paar Stunden einmal für kurze Zeit blicken ließ und sich sogleich wieder entfernte, sobald sie einander bestätigend zugenickt hatten.
Ihr stand nicht der Sinn nach langen Reden. So viele Monate, so viele Jahre, hatte sie den Tag herbeigesehnt, an dem sie mit Sichel und Shajkan in den Süden reiten durfte und sich nicht zügeln musste, alle zu erschlagen, die sich ihr entgegenstellten. Eine gewaltige Woge des Blutes rollte auf sie zu und sie musste für die nächste Zeit keinen Durst mehr leiden.
Aber der Zeitpunkt des Krieges machte jenes Hochgefühl, das hätte vorherrschen sollen, zunichte. Andererseits stellten sich einige Probleme ja erst durch diese Situation. Sie hätte es vorhersehen müssen. Dann hätte sie rechtzeitig reagieren können.
Ash-Zaharr war allgegenwärtig. Er schickte Träume, Erinnerungen und verlorengeglaubte Empfindungen. Er lenkte ihre Gedanken ab, raubte ihre Konzentration und ihre Kraft, dämpfte ihren Ehrgeiz und stärkte ihre Gleichgültigkeit gegenüber wichtiger Entscheidungen. Und er wurde von Tag zu Tag stärker. Kein betäubender Trank konnte mehr davon ablenken.
Imra war noch nicht bereit für das, was sie von ihm erwartete. Sie hätte noch einige Wochen benötigt, um ihn in das Nötige einzuweihen - in das, was er eigentlich wissen musste, um den Anforderungen gerecht zu werden, die sie an ihn stellte.
Eskjat zu finden und ihm die geheime Botschaft zu übergeben, war sicher nicht das Problem. Und der Tod des Tempelschülers Ascam würde durch den Shaj der Erde sicher bald aufgeklärt werden, dazu bedurfte es nur etwas Geduld und Hartnäckigkeit. Auf Talmir konnte ihn niemand vorbereiten, er musste selbst einen Weg finden, dem Shaj des Himmels auf die Finger zu schauen. Doch die letzte Aufgabe, die schwerste, konnte er kaum bewältigen. Er war zum Scheitern verurteilt, aber er musste es zumindest versuchen. Imra, der Weber, der nun zum Herrscher geworden war, war vielleicht ihre letzte Chance, das Schlimmste zu verhindern. Aber sie glaubte nicht daran.
Das Schicksal – das ihres Landes wie auch ihr eigenes – schien ihr aus den Händen zu gleiten, sofern sie es jemals überhaupt hatte bestimmen können. Wenn sie es tatsächlich nicht mehr schaffte, die Situation unter Kontrolle zu bringen, dann würde sie – wie ihr Name es von ihr verlangte – das Ende bringen. Wenn auch auf eine Art und Weise, die sich niemand jemals gewünscht hätte.
Ein ganzes Stück hinter sich hörte sie Stimmen. Die Cas hatten wieder zu ihr aufgeschlossen.
Lennys fragte sich, ob sie enttäuscht waren, weil sie sich so von ihnen fernhielt. Es waren gute Krieger. Alle. Auch wenn sie zuweilen den einen oder anderen tadelte, so hatte doch jeder von ihnen Qualitäten, die aus den anderen hervorstachen. Im Grunde hatten sie es nicht verdient, so von der Herrin behandelt zu werden, deren Leben sie mit ihrem eigenen zu schützen geschworen hatten. Wer von ihnen wusste schon, dass sein Tod vielleicht umsonst sein würde? Die größte Gefahr, die ihr eigenes Leben bedrohte, war ausgerechnet eine, vor der kein Cas, kein Krieger und auch sonst kein Mensch sie schützen konnte. Und die gefährlichste Waffe, die sich gegen sie richtete, war in ihr selbst.
Obwohl sich alle Sieben versammelt hatten, herrschte Stille in dem Raum. Keiner von ihnen konnte leugnen, dass ihm der scharfe Grat, auf dem sie sich eben bewegten, nicht bewusst war. Und jedem einzelnen machte etwas anderes zu schaffen. Das, was sie alle trotzdem verband, war zwar stark genug gewesen, sie zusammenzubringen, aber es reichte noch nicht, um diese Gemeinsamkeit in Worte zu fassen oder gar Taten daraus folgen zu lassen. Einer musste den Anfang machen.
Schließlich stand der, der sie zusammengeführt hatte, auf.
„Ihr alle wisst, dass unser Kreis nicht vollständig ist.“ sagte er und hier und da antwortete ihm ein schwaches Nicken. „Wir haben ein Ziel, aber niemand weiß, welcher Weg dorthin führen wird. Einige glauben, ihn zu kennen und sind deshalb nicht hier, weil sie ihm bereits folgen. Jetzt lautet die Frage für jeden von uns, welchen wir einschlagen wollen.“
„Sind wir denn wirklich sicher, was das Ziel ist?“ fragte ein anderer. „Es ist nicht immer leicht, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden.“
Der Älteste in der Runde stand auf. „Akosh, Schmied aus Goriol. Cas und Waffenschmied unter Saton. Du hast uns aufgesucht. Jeden einzelnen von uns. Und du hast uns dein Wissen offenbart. Jeder von uns hat einen anderen Grund, weshalb er hier ist. Wir könnten unterschiedlicher nicht sein. Sprich noch einmal zu uns und sage uns: Welche Wege tun sich auf, zwischen denen wir uns entscheiden könnten?“
Akosh dachte lange nach. Er sah in jedes einzelne der sechs Gesichter und stellte sich vor, was sich dahinter verbarg. Welche Gedanken, welche Fähigkeiten, welche Wünsche und welche Ängste.
„Die Shaj der Nacht ist mit den Cas in den Süden geritten, um dort Iandal und Log zu schlagen und um einen Krieg zu gewinnen, der schon vor zwölf Jahren begann. Es heißt, niemand könne sie im Zweikampf besiegen. Doch wie ich euch bereits sagte, ist das ein Irrglaube. Ihre Kraft bröckelt von Tag zu Tag und ihr Wille ist so angreifbar wie nie zuvor. Was liegt da näher, als ihren Spuren zu folgen?“
Wieder war es der Älteste, der zuerst antwortete: „Mir fehlt es an Jugend und Stärke für eine solche Reise. Ich wäre dir eine Last und kein Gewinn. Dieser Weg, Akosh, bleibt mir verwehrt.“
„Einen weiteren kennt ihr bereits, denn einige gehen ihn schon. Doch nicht alle können sich ihnen anschließen, wie ihr wisst. Wer die Bedingungen erfüllt und es wagen möchte, wäre ihnen sicher eine große Hilfe.“
Der Älteste nickte zufrieden. Er schien seine Aufgabe gefunden zu haben. Dann aber wurde sein Ausdruck sorgenvoll.
„Werde ich Nachrichten von dir erhalten? Es mag sein, dass wir ein gemeinsames Ziel haben, aber doch haben wir unterschiedliche Gründe, warum wir es verfolgen. Du kennst den meinen.“
„Ich kenne ihn und ich werde ihn nicht vergessen.“
Der Älteste schien etwas beruhigter.
„Es gibt noch etwas, was getan werden muss. Glaubt nicht, dass wir unbeobachtet sind. Die Shaj der Nacht ist bekannt für ihr Misstrauen und sie lässt es gegen jeden walten. Es wird nicht leicht sein, sie zu täuschen. Und da sie sich schon jetzt nicht mehr in ihrem Land befindet, werden andere für sie das in Erfahrung bringen, was sie wissen möchte. Wir können unser Geheimnis sicher nicht auf Dauer bewahren, aber vielleicht können wir den Augenblick der Wahrheit noch ein wenig herauszögern. Falsche Fährten, offene Augen und Ohren und die Bereitschaft, Gefühle von Vernunft zu trennen, können uns dabei helfen. Muss ich deutlicher werden?“
Ein anderer, der sich den ganzen Tag über eher still verhalten hatte, richtete sich auf.
„Nein, Akosh. Wir wissen, was du meinst. Besonders mir fällt es schwer, die Notwendigkeit einzusehen, uns gegen jene zu stellen, die uns unter anderen Umständen vielleicht freundlich gesonnen wären. Aber ich bin bereit dazu. Wir sind bereit dazu.“ Die dunkle Gestalt neben ihm neigte den Kopf zum Zeichen, dass sie derselben Meinung war, sagte aber nichts.
„So werde ich gen Süden ziehen, einer folgt unseren Gefährten und zwei halten uns den Rücken frei. Was ist mit euch dreien? Für welchen Weg entscheidet ihr euch?
Die Antworten der letzten Drei überraschte ihn nicht, auch wenn er sich eine andere gewünscht hätte.
Afnan vergötterte Imra. Es fiel ihm nicht schwer, in Abwesenheit seiner eigenen Herrin dem früheren Weber zu gehorchen und ihn insgeheim als vorübergehenden Gebieter über Vas-Zarac anzusehen. Eines Tages, wenn Lennys siegreich zurückkehrte, würde der Shaj der Erde sein eigenes Domizil beziehen – vermutlich in Askaryan oder Zarcas. Doch vorerst blieb er hier. Nicht nur, weil es Lennys' ausdrücklicher Wunsch war, sondern weil er hier vieles zu erledigen hatte, worüber er aber mit niemandem sprach. Zumindest mit fast niemandem.
Imra hatte nicht vergessen, dass Lennys ihm zugestanden hatte, sich Vertraute zu suchen, auch wenn sie diesen Ausdruck niemals benutzt hatte. Doch Imra besaß eine gute Menschenkenntnis und er hatte schnell erkannt, dass er in Afnan einen treuen und zuverlässigen Diener gefunden hatte. Ein weiteres Talent von Imra, das Lennys im Übrigen vollkommen fehlte, war sein Taktgefühl. Er wusste, zu