Christine Boy

Sichelland


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durfte man es nicht verwehren – das galt auch für Imra und Talmir. Und sie hatte dazu aufgefordert. Natürlich konnte Imra nur ahnen, was sie mit Talmir besprochen hatte. Und er ahnte auch, was nun auf ihn zukam, als Satons Tochter von ihrem Schreibtisch aufgesehen hatte. Düster und ernst, nicht euphorisch oder überheblich, wie er es sonst von den Kriegern unmittelbar vor großen Kämpfen kannte.

      „Ich werde dir nicht verbergen, dass ich dieses Land zum jetzigen Zeitpunkt nicht gern verlasse. Und ich bin es nicht gewohnt, andere um Hilfe zu bitten. Du wirst also niemals von mir etwas derartiges hören. In Kriegszeiten steht ganz Cycalas unter meinem Befehl. Und ich erwarte, dass man sich ihm beugt.“

      Imra hatte genickt. Für ihn bedeutete es keine Degradierung, wenn sie so sprach, er war sogar schon fast erleichtert, dass sie die Zügel so streng in ihre Hände nahm.

      „Und was dich betrifft, Imra, so wirst du dich um sehr viele Aufgaben zu kümmern haben, während ich fort bin. Ich verstehe es, wenn du dich dem nicht gewachsen fühlst, aber du hast nicht das Glück, dich frei entscheiden zu können. Bist du bereit, mir zuzuhören?“

      Natürlich war er bereit gewesen.

      „Du musst ein Auge auf Talmir haben. Solange ich nicht hier bin, wird er sich aufspielen und versuchen, sich über dich zu stellen. Aber das ist sicher nicht alles. Du kennst inzwischen seine Haltung, was die Batí betrifft. Als oberster Priester und Shaj des Himmels ist er in der Lage, sehr viel Macht auszuüben. Vielleicht versucht er, meine Abwesenheit auszunutzen und den Batí zu schaden. Ich erwarte regelmäßige Berichte von dir in Hinblick auf sein Verhalten. Und natürlich wirst du mich sofort informieren, falls er anfangen sollte, gegen die Batí vorzugehen. Du solltest deshalb auch mit Mondor in Kontakt bleiben, obwohl ich glaube, dass er bald nicht mehr hier sein wird.“

      Für Imra war es eine große Anerkennung, dass Lennys ihn damit betraute, für die Belange der Batí einzutreten. Er hätte es auch ohne diese Aufforderung getan, aber die Bestätigung, die er durch die Shaj der Nacht erhalten hatte, tat gut.

      „Das ist noch nicht alles. Es gibt einige… sagen wir, persönliche Anliegen. Ich könnte Mondor oder Wandan damit beauftragen, doch beide haben sich da in eine Geschichte verrannt, von der ich sie nicht abbringen kann und der sie ihre ganze Aufmerksamkeit widmen wollen. Du bist neu in deinem Amt und die Arbeit türmt sich vor dir auf, aber es gibt Wichtigeres, als die Silberpreise zu regeln oder die Qualität des Hühnerfutters zu prüfen.“

      „Was immer du mir aufträgst, ich werde mein Bestes tun, um es zu erfüllen. Ich habe das Gefühl, dass Ash-Zaharr mir genug Kraft geben wird, um nicht nur meinem Amt, sondern auch deinen Erwartungen gerecht zu werden.“

      „Zumindest wird er dich nicht daran hindern.“ Diese Bemerkung hatte auf eine unheimliche Art bitter geklungen, doch sie war nicht weiter darauf eingegangen. Stattdessen war sie angespannt auf und ab gegangen und während sie Imra mit Aufträgen überhäufte, hatte sie den einstigen Weber nicht ein einziges Mal angesehen.

      „Du wirst jemanden für mich ausfindig machen, an den du dich wohl kaum noch erinnerst. Es handelt sich um einen Manatarier namens Eskjat. Wenn er meine letzten Anweisungen befolgt hat, müsste er sich inzwischen in Gahl aufhalten. Befehle ihn nach Askaryan, wo er eine Nachricht in Empfang nehmen soll, die ich dir vor meiner Abreise übergebe. Er soll sie so schnell wie möglich überbringen – er wird wissen, an wen. Sorge dafür, dass niemand davon erfährt.

      Desweiteren möchte ich, dass du Ermittlungen im Tempel von Zarcas anstellst. Dort gab es vor nicht allzu langer Zeit einen merkwürdigen Unfall, bei dem ein Schüler namens Ascam ums Leben kam. Ich bin mir sicher, dass dieser Todesfall dem einen oder anderen Priester sehr entgegenkam. Finde heraus, was es damit auf sich hat und zögere nicht, die härtesten Gesetze anzuwenden, egal wer sich als Schuldiger herausstellt.“

      „Wird Talmir nicht misstrauisch, wenn ich mich um diese Angelegenheit kümmere? Immerhin geht es um einen der größten Tempel Cycalas'.“

      „Es sollte dir gleichgültig sein, was er denkt, du hast jegliches Recht dazu, diese Ungereimtheiten aufzuklären. Sollte er dennoch Schwierigkeiten machen, kannst du offiziell vor den Rat treten und erklären, dass ich aus persönlichen Gründen wünsche, dass du dich damit befasst. Aber so weit wird es nicht kommen. Talmir wird nicht riskieren, dass dieser Mord – und das war es – allzu öffentlich gemacht wird.“

      „Ich werde mein Bestes tun.“

      „Das ist noch nicht alles. Doch das Nächste wird dir nicht gefallen. Dennoch ist es wichtiger als der Botengang von Eskjat oder der Mord in Zarcas. Und ich kann dir noch nicht einmal die Wahl lassen, dich diesem Wunsch zu verweigern.“

      „Ich höre.“

      „Du wirst dazu Hilfe brauchen. Traue niemandem, aber wähle dennoch so sorgfältig wie möglich, wen du hinzuziehst. Ich möchte, dass du noch einige weitere Personen im Blick behältst. Ich will wissen, wann sie sich wo aufhalten, was sie tun, mit wem sie Kontakt haben und alles, was sonst noch herauszufinden ist. Du wirst mich auch hierüber auf dem Laufenden halten.“

      „Wer sind diese Personen?“

      „Wandan, Mondor, Akosh, Oras und Sara.“

      „Wie bitte?“ Imra war aufrichtig entsetzt gewesen. „Du willst, dass ich meine eigenen Freunde beschatte? Die auch deine Freunde sind!“

      In diesem Moment war Lennys' Stimme eisig und ihr Blick hart geworden. „Ein Shaj hat keine Freunde. Auch du wirst das noch lernen. Und genau aus diesem Grund wirst du genau das tun, was ich dir gesagt habe. Das war keine Bitte.“

      „Und wenn ….“

      „Wenn du dich doch weigerst? Merke dir eines, Imra. Unter Ash-Zaharrs Augen zählen persönliche Bande nichts. Freundschaften sind wertlos. In diesem Lande gibt es Dinge, für die jeder Einzelne sein Leben opfern würde – uns beide eingeschlossen. Und genau deshalb wirst du meinem Wunsch nachkommen. Sei dankbar, dass du sie nur beobachten sollst – es könnte weit schlimmer kommen.“

      Jetzt, in der Stille dieses Zimmers, das ihm als Arbeitsraum diente, dachte Imra mit Unbehagen an dieses Gespräch zurück. Lennys hatte ihm viele Pflichten auferlegt und er war klug genug, zu begreifen, dass sie das nicht getan hätte, wenn sie eine andere Wahl gehabt hätte. Er seufzte. Schon immer hatte man in Cycalas gesagt, dass das Amt eines Shajs der größte Fluch sei, der einen überhaupt treffen konnte, wenn man einmal von Ash-Zaharrs Rachegelüsten gegenüber hoher Batí absah. Nun spürte der Weber zum ersten Mal, was damit gemeint war.

      Die verwilderte Landschaft zwischen der südöstlichen Grenze Cycalas' und den nördlichsten Ausläufern Valahirs sah selten einen Besucher. Es gab keinen Grund, sich hierher zu verirren, weder reiche Bodenschätze noch seltene Pflanzen- oder Tierarten lockten jemanden hierher. Es war ein Niemandsland, für das keiner Interesse hegte und nur die askaryschen Grenzwächter warfen dann und wann einen Blick hierher, um sicherzugehen, dass nicht doch der eine oder andere größenwahnsinnige Hantua sein Unwesen nahe der geschützten Grenzen trieb. Noch nie war dieser Verdacht begründet gewesen.

      Die unberührte Natur in dieser Gegend begegnete der Gruppe mit Gleichgültigkeit. Weder unterbrachen die Vögel ihren morgendlichen Gesang, noch ergriffen die Hirsche und Füchse die Flucht und das Gras würde sich schon bald wieder aufrichten, auch wenn es jetzt unter dem Gewicht der Pferde in den Boden gestampft wurde.

      Dichtes Unterholz und dornige Ranken verhinderten ein schnelles Vorankommen, nur selten konnten die Krieger auf kurzen Wiesenstücken ihre Rösser zum Galopp antreiben. Aber sie kamen gut voran. Die Berge rückten immer näher.

      Es war ein schweigsamer Ritt, ein jeder hing seinen Gedanken nach. Manchmal wurden die Abstände zwischen ihnen so groß, dass sie einander nur noch aus der Ferne ausmachen konnten, doch wie von selbst fand sich die Gruppe auch immer wieder zusammen.

      Mit einer Ausnahme.

      Lennys war weit voraus geritten. Mit dem Tempo und der Ausdauer ihres Hengstes konnten die anderen Tiere nicht mithalten. Und die Cas hatten ein feines Gespür für die Launen ihrer Herrin und sie wussten,