sie den Fußtruppen begegnen, die aus den südlicheren Dörfern über die Grenze reisten. Aber Horem und Karuu, die sich wieder auf ihren Späherposten befanden, hatten gute Augen. Sie würden sie rechtzeitig warnen.
„Wir sollten nicht mehr lange warten. Bald wird es hell.“ Rahor betrachtete den Himmel, der weit im Osten schon die ersten violetten Streifen erkennen ließ.
Lennys gab ihm im Stillen Recht. Vor ihnen lag ein langer Tag, der Pferden wie Reitern alles abverlangte. Es war besser, ihn so früh wie möglich anzugehen.
„Sag den anderen, dass die Rast beendet ist.“
Rahor nickte. Er musste nicht laut rufen, ein einziger Wink genügte, um die Cas aufspringen zu lassen. Einer nach dem anderen überprüfte ein letztes Mal den Inhalt seiner Wasserflasche, kontrollierte seine Kleidung und den Sitz seiner Waffen und schwang sich dann aufs Pferd. Ein letztes Mal wandten sie sich nach Norden und ließen den Blick über die wilde cycalanische Landschaft schweifen, die sich dort vor ihnen ausbreitete. Keiner wusste mit Sicherheit, ob er von diesem Feldzug zurückkehren würde.
Sie sogen den Anblick in sich auf. Nebel hüllte die fernen Silberberge ein, dunkel und drohend stachen die schwarzen gezackten Umrisse der Tannen und Fichten aus dem silbrig-weißen Dunst. Doch selbst jetzt im Winter war es schön, das Sichelland. Hier und da schimmerten immer noch grüne Ebenen, wenn auch nicht so saftig und üppig wie im Sommer. Der Morgenhimmel verfärbte sich allmählich blass-blau und man konnte über den Nebelfeldern erahnen, dass die Wintersonne heute einen besonders herrlichen Tag hervorzubringen gedachte.
Dann stießen sie den Tieren die Fersen in die Flanken und galoppierten der Grenze entgegen. Niemand war in der Nähe. Niemand sah, wie die Cas und die Shaj der Nacht ihr Land verließen.
Die Diener waren zuverlässig. Selbst in diesen frühen Morgenstunden hatten sie die zahlreichen Kaminfeuer in Vas-Zaracs Räumen angeschürt, um den verbliebenen Bewohnern eine behagliche Wärme zu verschaffen. Es war eine unbeliebte Aufgabe. Kein Sichelländer mochte das Feuer, sie hielten sich lieber fern davon. Doch die Winter in Cycalas waren lang und eisig.
Dennoch vermisste Imra das mildere Klima des Mongegrunds nicht. Er war froh, wieder in seiner Heimat zu sein, auch wenn ihm der Abschied von seinem bescheidenen Haus in Fangmor zunächst schwergefallen war. Fast dreizehn Jahre hatte er dort unten im Süden ein beschauliches Leben geführt, wenn man von den ersten Monaten, in denen der Krieg tobte, absah. Sein Vater war damals stolz gewesen, dass sein Sohn sich der Herausforderung der Fremde stellen wollte. Einmal hatte er ihn sogar besucht und ihm bei der Besichtigung der kleinen, aber gut ausgestatteten Weberei anerkennend auf die Schulter geklopft.
Nicht lange danach war er im Sichelland einen friedlichen und schmerzlosen Tod gestorben. Und Imra musste erkennen, dass eine weitere Verbindung nach Cycalas – vielleicht sogar seine wichtigste – verschwunden war.
Wie hatte er sich doch geirrt.
Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem Akosh, Sara und Lennys vor seiner Tür gestanden waren. Erst kurz zuvor hatte er einen sehr überraschenden Besuch von dem bekannten Heiler Menrir erhalten, der das Kommen der Shaj angekündigt hatte. Nie zuvor war Imra eine solche Ehre zuteil geworden. Gewiss, er kannte Lennys noch von früher, wie er auch ihren Vater Saton gekannt hatte. Aber er hatte nie zu träumen gewagt, dass sie eines Tages Gast in seinem Hause sein würde.
Und jetzt... jetzt war er in ihrem Hause. Und er war mehr als nur ein Gast. Er war ihr gleichgestellt worden – ein Shaj des Sichellandes, die Krone seiner Säule. An dem Tag, da Lennys über seine Schwelle getreten war, hatte er gespürt, dass sich sein Leben von nun an entscheidend verändern würde. Und er hatte das Sichelland wieder in sich gefühlt, das Heimweh war erwacht. Und noch während Lennys, Akosh und Sara durch die Mittelebenen nach Norden zogen, hatte er einen Entschluss gefasst, den Oras, der Vogelmann, nur wenig später noch bestärkt hatte. Ein Entschluss, der ihn nicht nur in seine Heimat zurück, sondern geradewegs zu diesem Thron geführt hatte.
Am meisten bedauerte Imra, dass sein Vater dies nicht mehr miterleben durfte. Aber vielleicht war dies eines der geheimen Gesetze, die Ash-Zaharr geschaffen hatte. Auch Lennys war ohne Eltern, bei Talmir war es nicht anders. All jene, die die großen Herrscher hervorgebracht hatten, waren gestorben, ehe ihre Nachkommen in ihren Rang erhoben wurden. Lennys' Mutter Cureda war bei der Geburt ihrer Tochter gestorben, ebenso wie seine eigene. Talmirs Eltern waren schon vor vielen Jahren kurz hintereinander einer schweren Krankheit zum Opfer gefallen.
Er erinnerte sich an Saton, der ein ähnlich tragisches Schicksal zu beklagen gehabt hatte. Und auch Makk-Ura war allein gewesen, als er den Thron bestieg.
'Vielleicht ist alles vorgezeichnet.' dachte er melancholisch. Vielleicht waren die Weichen seines Lebens durch den Tod seines Vaters neu gestellt worden, ohne dass es zu diesem Zeitpunkt irgendjemand hätte erahnen können. Am wenigsten er selbst. Und noch nicht einmal an dem Tag, an dem Lennys mit ihm ein ernsthaftes Gespräch darüber geführt hatte, dass er auch sich selbst als möglichen Kandidaten in Betracht ziehen müsse, hatte er sich eine solche Zukunft vorstellen können.
Sie hatte sich verändert, die Shaj der Nacht. Nicht im Ganzen, nein. Aber ihm gegenüber. Viele Stunden hatte er in den letzten Wochen in ihren Räumen verbracht, sie hatte ihn auf ihre Art für sein Amt vorbereitet, das wusste er nun. Hatte mit ihm geredet, ihm Geheimnisse offenbart und seine Ansichten teils verändert, teils gestärkt. Und obwohl er schon immer davon überzeugt gewesen war, dass die oberste Kriegerin der letzte Mensch war, den man beneiden konnte, so musste er inzwischen doch zugeben, dass er noch nicht einmal einen Bruchteil dessen erahnt hatte, was wirklich auf ihr lastete. Und dass er niemals alles erfahren würde.
Es war merkwürdig, dass er sich gerade der Linie der Sarr so verbunden fühlte. Saton war für ihn die Verkörperung aller Macht und Kraft Cycalas' gewesen, wichtiger noch als der damalige Shaj der Erde. Natürlich hätte er als Weber dies niemals laut aussprechen dürfen. Und als Lennys ihrem Vater auf den Thron folgte, war seine Treue ungebrochen geblieben. Makk-Uras Tod war für ihn eine schwarze Stunde gewesen, er hatte getrauert und geklagt und auch Angst empfunden. Im tiefsten Herzen aber war er auch dankbar gewesen, dass nicht die Sarr-Linie ausgelöscht worden war – eine der ältesten Familien des Landes und eine der mächtigsten noch dazu. Über viele Generationen hatten sie die Shajs oder zumindest einen der Cas gestellt und seit sie zu den höchsten Kriegern gehörten, war das Land sicher und siegreich gewesen. Selbst der Große Krieg war keine Niederlage gewesen, obgleich viele Cycala und unter ihnen auch der große Shaj Saton gefallen waren, denn nachdem die Feindin Orjope geschlagen worden war, war das Sichelland in noch größerem Glanz und Reichtum erstrahlt als je zuvor. Lennys' Tod wäre ein weit schmerzhafterer Verlust für das Land gewesen als das Ableben des alten und zwar beliebten, aber doch auch recht unbedeutenden Makk-Ura.
Über seinen eigenen Stellenwert in Cycalas' Geschichte machte Imra sich keine Gedanken. Er gehörte dem Stamm Waan an, der sich seit jeher durch Bescheidenheit, Geduld und Genügsamkeit ausgezeichnet hatte und der sich lieber still im Hintergrund hielt. Und so würde er auch sein Amt erfüllen. Im Grunde bildeten die Waani den vollständigen Gegensatz zu den Batí, die impulsiv, temperamentvoll, ungeduldig und ausgesprochen selbstbewusst waren. Umso seltsamer kam es Uneingeweihten vor, dass es gerade die Waani waren, denen am ehesten ein gewisser Respekt von Seiten der Batí entgegenschlug. Sie ergänzten einander und kamen sich dennoch nicht ins Gehege und sie schätzten ihre gegenseitigen Fähigkeiten und Talente. Bei allen Gegensätzen gab es aber auch Gemeinsamkeiten zwischen den Stämmen. Waani wie auch Batí waren eher schweigsame, zurückgezogene Einzelgänger, die Oberflächlichkeit und Prunksucht verabscheuten.
Imra sah es als ein Zeichen des Dämonen Ash-Zaharr selbst, dass zwei der momentan regierenden Shajs aus eben diesen beiden Stämmen hervorgingen. Und auf seine Art bildete Talmir ein Gegengewicht, denn er unterschied sich in jeglicher Hinsicht von ihnen. Dies mochte gut oder schlecht sein, in jedem Falle aber bedeutsam. Er glaubte fest daran, dass auch Talmir noch seine Rolle in der Geschichte zu erfüllen hatte.
„Achte auf ihn.“ hatte Lennys kurz vor ihrem Aufbruch in den Süden gesagt. Auch in jener Nacht hatte sie Imra zu einem persönlichen Gespräch geladen. Und Imra wiederum wusste, dass vor ihm der Shaj