Christine Boy

Sichelland


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sich nicht so schnell geschlagen zu geben.

      „Menrir wird ebenfalls mit in den Süden kommen.“ sagte er ohne weitere Einleitung, während er Sara und Racyl mit seinem Blick fixierte. „Er ist sich der bevorstehenden Strapazen durchaus bewusst und ebenso wie du, Sara, kann er sie einschätzen, da er die Strecke kennt und weiß, was uns dort unten erwartet. Allerdings ….“

      „... denkst du, dass Racyl dem Ganzen nicht gewachsen ist.“ beendete Sara den Satz mit einem leicht angriffslustigen Unterton.

      „Ja, das denke ich.“ gab Akosh zu und reckte das Kinn provozierend nach vorn. „Und bevor ihr beide mir sofort widersprecht, bitte ich euch, mir zuzuhören. Wir können uns keine Experimente erlauben und wir sollten wirklich keine unnötigen Risiken eingehen. Abgesehen davon muss sie erst einmal selbst mit sich ins Reine kommen. Nein, Sara, jetzt rede ich. Du wolltest unbedingt, dass sie sich nicht länger selbst einsperrt, aber du hast nicht darüber nachgedacht, ob das, was wir tun, auch tatsächlich gut für sie ist. Racyl...“ Er bemühte sich um einen freundlichen Gesichtsausdruck. Das flachsblonde Mädchen sah zu ihm auf und als er in ihr alabasterfarbenes Gesicht blickte, erinnerte er sich wieder daran, dass Lennys einmal durchaus angetan von ihr gewesen war.

      „Racyl,...“ wiederholte er, „... ich denke, dass du uns helfen kannst. Aber nicht, indem du dich durch mittelländische Sümpfe oder manatarische Wälder schlägst. Vergiss nicht, was du bist. Eine Priesterin. Ja, du bist immer noch eine. Du hast viel gelesen und gelernt im Zera-Tempel. Das alles kann uns zugute kommen, wenn du mit deinem Wissen und deinem Können jene unterstützt, die den anderen, den stillen Weg eingeschlagen haben. Den, dem auch Mo folgen möchte.“

      „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Sara sprang auf. „Ich habe dir gesagt, dass mein Misstrauen noch längst nicht überwunden ist. Und jetzt verlangst du, dass ich…“

      „Ich verlange nichts, Sara.“ erwiderte Akosh hart, ohne sie aussprechen zu lassen. „Ich bitte darum, dass Racyl darüber nachdenkt. Sie, Sara, nicht du. Ich kann weder dir noch ihr etwas befehlen und das will ich auch gar nicht, denn damit hätte ich nichts gewonnen. Geht nach nebenan und redet miteinander, aber lass ihr die Entscheidung.“

      Sara presste die Lippen aufeinander und ging hinaus. Sie hätte gern die Tür hinter sich zugeschlagen, doch aus dem Augenwinkel hatte sie bemerkt, dass Racyl ihr folgte.

      Auf dem Flur schlug ihr die Erinnerung, die sie beim Betreten des Hauses vehement verdrängt hatte, unvermutet heftig entgegen.

      Sie stand genau gegenüber jener Tür, hinter der sich das Schlafzimmer verbarg, in welchem sie die Nacht der Cas-Feier verbracht hatte. Ein unerklärlicher Schmerz erfüllte ihre Brust und sie hätte in diesem Moment am liebsten alles aus sich herausgeschrien. Sie spürte, wie ein Zittern ihren ganzen Körper erfüllte und obwohl sie sich mit aller Kraft dagegen wehrte, flackerten die Bilder vor ihren Augen auf. Lennys' nackter Körper, wie er sich über sie beugte. Ihre glatte Haut, über die sich an einigen Stellen noch die Narben früherer Kämpfe zogen. Ihre glühenden schwarzen Augen und ihre vorsichtigen Hände, die diesmal keine Schmerzen brachten, sondern ein unstillbares Verlangen entfachten. Ihre langen, heißen Küsse und ihre leise, heisere Stimme, die manchmal so klar wie der Morgen wurde.

      „Sara?“ Als Racyl sie am Arm berührte, zuckte sie zusammen. Die Bilder waren wieder fort und die Tür war wieder eine Tür wie jede andere auch. „Ist alles in Ordnung?“

      „Natürlich.“ antwortete Sara knapp und ging ein paar Schritte weiter, wo ein Durchgang eine bescheidene Sitzecke mit einigen Holzhockern freigab.

      „Du solltest Akosh nicht böse sein.“ fing Racyl etwas hilflos an, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Es ist wichtig, dass wir gut überlegen, was wir tun. Oder besser, ihr müsst wissen, was ihr tut. Ich kann verstehen, dass er mich nicht dabeihaben will.“

      „Es war meine Bedingung. Du solltest nicht länger in Semon-Sey vor dich hin vegetieren wie ein eingesperrtes Tier.“

      „Ich weiß. Und ich bin dir sehr dankbar dafür, dass du mich nicht schon vergessen hast. Aber das, was ihr vorhabt... Ich weiß nicht, ob ich das tun kann. Es ist nicht nur wegen ihr. Rahor ist mein Bruder, Sara. Ich fühle mich wie eine Verräterin – auch ihm gegenüber.“

      „Hast du dich auch als Verräterin gefühlt, als du dich gegen die Säule der Nacht entschieden hast?“ fragte Sara bissig zurück, doch sogleich bereute sie die letzte Bemerkung. Racyl sah traurig zu Boden.

      „Es tut mir leid.“ Sara nahm ihre Hand. „Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich dachte nur, du willst... mit uns mitkommen.“

      „Das will ich ja auch. Aber vielleicht hat Akosh recht. Vielleicht würde es uns allen mehr helfen, wenn ich… hierbleibe. Wenn ich mit Mo gehe.“

      „Mo bleibt hier, weil er Angst vor den Fremdländern hat und weil er alt ist. Aber nicht, weil er an den Erfolg glaubt.“

      „Aber...“ Racyl sah sich um, als hätte sie Angst, dass jemand ihnen zuhören könnte. Sie senkte die Stimme. „Aber ich tue es. Ich glaube, dass sie recht haben könnten.“

      „Was meinst du?“

      „Wandan und Mondor. Die Legende, nach der sie suchen. Ich glaube, dass es nicht unmöglich ist. Ich glaube, sie könnte wahr sein. Und vielleicht kann ich ihnen wirklich helfen, sie zu finden. Zusammen mit Mo.“

      Sara runzelte die Stirn.

      „Für mich klingt das wie ein Hirngespinst. Abgesehen davon, dass mir noch niemand sagen konnte oder wollte, was das überhaupt für eine Legende ist. Ich weiß nur, dass Lennys ihnen erlaubt hat, danach zu suchen. Warum sollte sie das tun, wenn es ihr schadet? Worum geht es bei diesem Märchen überhaupt?“

      „Sie hat es ihnen erlaubt, weil ein Verbot erst recht darauf aufmerksam gemacht hätte. Und was sollte ihr schaden? Was meinst du? Diese Legende kann uns allen helfen!“

      „Das sehen einige wohl etwas anders. Aber ich kann es nicht beurteilen, da ich hier anscheinend die einzige bin, die nicht weiß, wovon ihr überhaupt sprecht!“ Es klang ungeduldig und Racyl seufzte.

      „Nein, du bist nicht die einzige. Auch Menrir weiß es nicht. Und auch Haya nicht. Kannst du dir nicht denken, warum?“

      „Weil wir Fremdländer sind, natürlich. Hat es etwa wieder etwas mit eurer seltsamen Geschichte zu tun? Mit Ash-Zaharr und seinem Blutgeschenk?“

      Racyl nickte düster.

      „Ich werde es dir sagen, Sara. Weil ich glaube, dass du ohnehin schon viel mehr weißt, als sonst irgendein Fremdländer und weil ich glaube, dass dieses Wissen bei dir in guten Händen ist. Aber bitte, wenn ich es dir erzähle, dann tu du mir auch einen Gefallen.“

      „Und welchen?“

      „Überlasse mir die Entscheidung, welchen Weg ich gehe.“

      Sara zuckte die Achseln.

      „Das tue ich. Aber … du hast nie gesagt, was du willst.“

      „Ich werde es dir sagen. Aber erst erkläre ich dir, was es mit dieser Legende auf sich hat.“

      Sara konnte ihre Neugier nicht verbergen und Racyl lächelte sanft als sie anfing:

      „Einst erwählte Ash-Zaharr drei Cycala, mit denen er jeweils einen Nachkommen zeugte und denen er so sein Blut zum Geschenk machte. Der eine, der das Blut der Nacht erhielt, verriet Ash-Zaharr, jedoch nicht aus Böswilligkeit, sondern zum Schutze des Blutes, denn er teilte es mit seinen engsten Vertrauten, aus denen der Stamm der Batí hervorging. Doch trotz allem blieb er der einzig wahre Blutsträger der Nacht. Die anderen aber, die Blutsträger des Himmels und der Erde, bewahrten das kostbare Geschenk für sich und gaben es immer weiter – an ihren einzigen Nachkommen, denn mehr als einen durfte es nie geben. Eines Tages jedoch starb der letzte Blutsträger der Erde, bevor er einem Kind das Leben schenken konnte. Es war ein schreckliches Unglück und die Cycala trauerten viele Jahre über den unwiderbringlichen Verlust. Doch irgendwann ging das Leben wieder weiter.