Ines Mandeau

Mandalay und Monaco


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Es ist sechszehn Uhr, vierzehn Minuten und zwanzig Sekunden“, gibt Rocket-Richi die automatische Zeitansage.

      Ich springe vom Boden hoch. Mein Zug! Lena hin und Richi her und Mona möge glücklich sein mit einem Ehemann, der leidenschaftlich fremde Betten frequentiert – ich muss los, und zwar pronto. So schnell kann mein Jüngling nicht mucksen, wie ich den Neoprenanzug im Rucksack verstaut und das Rad startklar habe. „Mein Zug wartet nicht“, erkläre ich Richi, der, mit dem Smartphone in der Hand, unschlüssig rumsteht und seine flotte Cilli im Einsatzmodus beobachtet.

      „Soll ich dich zum Bahnhof bringen?“, fragt er.

      „Danke, nein, ich radle, siehst du doch.“

      „Also treffe ich dich nicht mehr?“

      „Heute nicht, nein. Ich reise zu meinen Eltern. Sagte ich das nicht? Mein Vater hat Geburtstag und alle tanzen an. Familie hat Vorrang, das kennst du ja, mein Lieber, oder?“ Ich kann mir hin und wieder kleine Spitzen gegen meine verheirateten Sportkollegen nicht verkneifen. Die sind trainiert genug im Einstecken und verkraften auch mal eine scharfe Zunge. Wie lautet unser inoffizielles Vereinsmotto? – Nichts anbrennen lassen.

      „Schade“, meint er. „Ich habe dieses Wochenende sturmfreie Bude. Mona ist mit den Kids bei ihrer Mutter. Mann, wir könnten das ganze Wochenende zusammen …“

      „Emmerich, renk dich ein“, unterbreche ich ihn. „Geh in den Club. In der Bude ist bestimmt was los. Ich bin jetzt weg. Bye-bye and see you!“ Rennbrille auf, ein kurzer Wink über die Schulter, dann tret ich die Pedale und schau in die Sonne nach vorn. Sie steht tief und strahlt so warm als wär’s ein milder Juliabend.

      Im Zug nach Kreuzegg

      Das war knapp. Abfahrt geschafft auf den Pfiff exakt. Ich bin im Zug, den ich keinesfalls verpassen durfte, will ich in Waldberg den letzten Anschluss des Tages nach Kreuzegg erwischen. Meinen treuen Drahtesel konnte ich vorhin gerade noch ordnungsgemäß in seinem Stall, sprich im Hauskeller, anhängen, aber für einen Kleiderwechsel in meiner Wohnung hat die Zeit nicht mehr gereicht. Das ist nicht weiter tragisch, da es auf dem Bauernhof meiner Eltern niemanden stört, wenn ich in Trainingsklamotten umherschwirre, und was für ein paar auswärtige Übernachtungen an Utensilien nötig ist, habe ich in meinem Rucksack permanent dabei. Einzig der Neoprenanzug ist fehl im Gepäck, denn in Kreuzegg kann ich ihn mangels Schwimmgelegenheit nicht gebrauchen.

      Ohnehin wird morgen nicht geschwommen, sondern der achtzigste Geburtstag meines Vaters gefeiert. Wie genau das Festprogramm organisiert sein wird, weiß ich nicht, weil ich keinen Plan vom Ablauf der Party habe und die Einladung sich auf wenige mickrige Sätzchen am Telefon beschränkte: „Komm uns doch besuchen“, bat meine Mutter. Sie und Bernadette, meine Schwester, haben sich beratschlagt mit dem Ergebnis, niemand von uns sei erpicht auf eine pompöse Zeremonie, weshalb man eine solche auszuklügeln gar nicht erst in Betracht ziehe; stattdessen sollten wir eine schlichte und zwanglose Familienversammlung abhalten und alle mögen anwesend sein, denn wann waren wir zuletzt vereint im Hause, ohne dass nicht irgendwer gefehlt hätte? Eine gefühlte Ewigkeit ist das her und es sei sicherlich von jedem erwünscht, einfach nur mal wieder zusammenzutreffen. Unser Jubilar, der wie gewöhnlich auf sperrige Art vorgab, von seinem Geburtstag nichts zu wissen, werde sich fraglos freuen, wenn sein eigen Fleisch und Blut samt Anhang geschlossen anrückt auf dem Hof zu Plancken, dem Nabel des Universums meiner Eltern.

      Das Zugabteil ist rammelvoll. Die halbe Stadtbevölkerung scheint freitags nach der Arbeit auf das Land zu flüchten. Ich lümmle mich in einen wundersamerweise leer gebliebenen Fenstersitzplatz und checke den Nachrichteneingang auf meinem Handy. Neue SMS in Mengen, keine von Bedeutung. Ein witziger Spruch für diese und jene Freundin als Antwort, das reicht. Klaudia allerdings, meine Schwägerin und die Jungbäuerin von Plancken, sollte ich anrufen und mit einem Statusbericht versorgen. Als sie abhebt, schallen wilde Geräusche an mein Ohr, es scheppert und kracht, zackige Rufe von Männern im Hintergrund und dann ein dünnes: „Servus, Cäcilia, einen Moment, warte, ja, hier bin ich.“ Die Fistelstimme hat fast keine Chance gegen die Lärmkulisse.

      „Klaudia, hey, wo bist du?“

      „Im Stall. Die Kühe sind nervös. Jetzt rühr dich, Soraya!“ Ich nehme an, damit ist eine Kuh gemeint. Mein Anruf kommt offenbar ungelegen, also fasse ich mich kurz und bündig.

      „Du, ich bin im Zug und um halb neun am Bahnhof in Kreuzegg.“

      „Ich hol dich ab. Magdalena ist auch in diesem Zug und ich kann gleich euch beide aufladen. Soraya! Rühr dich, marsch!“

      „Toll, alles klar, wir sehen uns in Bälde.“

      „Passt, ich freu mich schon.“ Und piep-piep, das war’s.

      Lena ist auch im Zug? Wenn sie aus Nizza anreist, wovon ich ausgehe, dann steigt sie wie ich in Waldberg in die Lokalbahn, die durch das Gebirgstal hineinführt zur Endstation Kreuzegg. Auf einmal rückt mir die große Schwester verflixt nah. Wir haben uns jahrelang nicht mehr getroffen. Irgendwie klappt es nie mit dem leibhaftigen Kontakt. Vorhin am Mallsee sah ich sie zwar im James Bond-Filmchen von Richi, aber unwirklich erscheint mir der Auftritt, diffus wie eine Erinnerung an eine Sequenz aus einem schmalzigen Hollywoodstreifen. Roter Ferrari und weißgekleidetes Model auf den Stufen des Casinos von Monte-Carlo – bitte, was hat diese kitschige Szenerie mit Lena zu tun, meiner Schwester? Was treibt die eigentlich?

      Ich bin kein Mensch, der sich in Grübeleien verliert, dennoch, als ich aus dem Fenster in die vorbeigleitende Hügellandschaft schaue, über die sich leise die Dämmerung legt, und ich eine weiche Mattigkeit in meine Glieder kriechen spüre, da zieht so einiges durch meinen Sinn – zöge durch den Sinn, wenn nicht der Magen rebellierte und meine Aufmerksamkeit auf das mulmige Gefühl lenkte, das zum Zwerchfell hochsteigt und dort ich weiß nicht welches Organ zusammenstaucht. Ominöse Sache. Ich muss aufstehen und tüchtig durchschnaufen, um diese Klemme zu lockern. Bevor jedoch die Mitreisenden wegen einer hechelnden Yogini in Wallung geraten, die sich zwischen ihren Beinen aufgepflanzt hat, beschäftige ich mich mit einer plausibleren Übung als exotischer Atemgymnastik: Ich hieve meinen Rucksack aus der Ablage über den Sitzplätzen.

      Habe ich nicht ein paar Energieriegel vom letzten Triathlonbewerb im Gepäck? Bingo, hier schlummert die Athletenlabe griffbereit in einer Innentasche, und bei ihr jene Schachtel Schmerztabletten, die ich stets mit mir herumtrage. Die Pillen brauche ich, falls meine Narbe am Bauch, die zur Stunde eh recht brav ist und bloß dezente grantelt, sich stärker melden und mir den Nachtschlaf rauben sollte. Wohlmeinende Ärzte haben mich vor Gebärmutterhalskrebs bewahren wollen, aber leider die diesbezügliche Operation nicht optimal hingekriegt. Seit dem Eingriff vor drei Jahren verfolgen mich Schmerzen, gegen die keiner der Experten einen Rat gefunden hat, außer eben diverse Pillen schlucken.

      Erstmal den murrenden Magen besänftigen. Ich nasche von dem Power-Imbiss, meine erste Mahlzeit seit der Käsesemmel am Vormittag im Büro, und hoffe, auf das hin herrscht Frieden im heiklen Streckenabschnitt von der Gurgel bis zum Nabel. Ergänzend zum kulinarischen genehmige ich mir einen akustischen Leckerschmaus, indem ich mir Nevermind ins Ohr stöpsle, eines meiner Lieblingsalben, ah, ja, das tut so gut zu hören:

       Come as you are …

       As a friend, As a friend,

       As an old enemy …

      Bin ich weggedöst? Ich reiße meine Augen auf. Draußen ist es dunkel. Ich darf meine Haltestation nicht verdusseln! Alles bestens, nur die Ruhe, Waldberg sei zehn Minuten vor uns, versichert mein Sitznachbar auf Anfrage. Ich schultere vorsorglich meinen Rucksack und postiere mich vor dem Waggonausgang, um an vorderster Front auf den Bahnsteig hüpfen zu können.

      Das schmucke Züglein nach Kreuzegg wartet am gegenüberliegenden Gleis. Ich muss ein Stück nach vorne laufen und springe in die erste offene Zugtür. Und dann ist sie plötzlich da, meine Schwester Lena. Wie aus der Luft gezaubert steht sie vor mir in dem Abteil, in das ich eingestiegen bin, und grüßt lächelnd: „Hallo, Cilia!“, – ohne geringstes Zeichen einer Überraschung, als hätten wir