Gemüsegärtnerin und Kräuterkundlerin.
Nicht unbedingt höflich unterbreche ich Klaudias Bericht zur Nervosität der Kühe bei der Almabfahrt und frage nach meinem Bruder Klaus: „Ist er noch nicht gekommen?“
„Er hat abgesagt. Der Weg von Darmstadt hierher ist zu mühsam für die Kinder. Außerdem hat seine Frau eine wahnsinnig komplizierte Jagdprüfung.“
„An einem Wochenende wird geprüft? Diese Drückeberger haben wahrhaftig immer eine Ausrede“, bemerkt Lena in bissigem Ton. „Zu eurer Hochzeit damals waren sie verhindert, weil der Hund einen Bandscheibenvorfall hatte und häuslicher Betreuung bedurfte durch Herrchen und Frauchen persönlich.“ Der Hund heißt Virginia, gehört Klausis Frau Liliane und ist ungeheuer kostbar, da er einer vom Aussterben bedrohten Rasse zugerechnet wird. Das Heil Virginias hat jederzeit und unumstößlich die absolut oberste Priorität.
Wir schweigen und schlürfen das lauwarme Aromasaftl.
„Und Pius?“
„Der will kurz hereinschauen. Seit er der Kommandant bei der Feuerwehr ist, hat er nicht eine echte freie Stunde. Für ihn geht sich leider bloß ein schneller Hupf zu uns herüber aus.“
„Dieser Sack“, sagt Lena spitz und nestelt an ihrem Dutt, zieht Haarnadeln heraus und sticht sie zurück, wieder und wieder. Ich zwirble meine Krause um den Zeigefinger. Im Grunde bin ich nur mehr müde. Kein Wunder, bin ich doch noch früher als sonst aufgestanden, um eine Extra-Laufeinheit vor dem Bürobeginn einzulegen. Ohne die tägliche Laufeinheit wär ich eine tote Frau.
„Tja, wir müssen jedenfalls morgen auf die Alm.“ Klaudia rekapituliert ihre Arbeitspflichten. „Die Jungtiere sind noch oben, wir treiben sie zusammen und schaffen sie runter, und danach miste ich den Stall aus. Das wird bis Mittag dauern. Mammi bleibt hier und kocht für uns. Entschuldigung, der Teig!“, ruft sie und rennt in die Speisekammer. Sie bringt die Rührschüssel und macht die Schokomasse fertig zum Einschieben in den Ofen.
Das Geschenk!, fällt mir ein und ich sage laut: „Mädels, ich habe kein Geschenk für Tatti. Mir wollte einfach nichts in den Sinn kommen, was ihn ansprechen könnte. Es ist mir furchtbar peinlich, ehrlich, Schimpf und Schande, ich habe kein Geschenk dabei, und …“
„Das macht nichts!“, funkt Klaudia dazwischen. „Das größte Geschenk ist, dass du zu Besuch hergefahren bist. Tatti freut sich riesig, seine Kinder zu sehen.“ Und Lena setzt beinahe unisono ein: „Oh, da bin ich erleichtert. Mit meinem Geschenk hat es nämlich auch nicht geklappt.“ Sie erzählt, sie habe im Universitäts-Landesarchiv eine sogenannte Geburtstagszeitung bestellt, einen „Allgemeinen Anzeiger“ mit Datum 28. September 1933, der über die damaligen lokalen Ereignisse berichtet. Die Archivbeamtin habe eine fristgerechte Zusendung des Zeitungsexemplars versprochen, aber dann sei Anfang der Woche eine E-Mail eingelangt, wonach die zuständige Sachbearbeiterin bis auf Weiteres erkrankt darnieder liege und daher sämtliche offenen Aufträge ihres Aufgabenbereiches nicht abgewickelt werden könnten. „Jetzt steh ich ohne Zeitung da“, sagt Lena gallig, „und was andres hab ich nicht. Ich habe Prinzenrollen für die Bambini im Gepäck, vielleicht sollte ich dem Tatti eine Scheibe davon abschneiden?“
Prinzenrollen? Diese pampigen Keksräder? Ich kann mir nicht helfen, ich muss kichern, und als Klaudia anfügt, sie habe einen neuen Stützstrumpf gekauft, weil Tattis alter Strumpf im Sommer bei der Arbeit auf der Alm völlig ausgeleiert sei und er eine frische Stütze für seine Beine bestimmt gebrauchen könne, da kippt mein Gekicher um ins Hysterische. „Sorry, Leute, ich bin zum Sterben müde“, gluckse ich mit letzter Kraft. „Bitte, ein Bett.“
„Dein Zimmer ist im ersten Stock gleich rechts. Magdalena, deines wäre direkt gegenüber auf der linken Seite. Hm, du, Magdalena“, überlegt unsere Juniorchefin und stellt die Uhr am Backofen ein, „mir fällt gerade ein, dass in den Truhen im Flur viele alte Zeitungen sind. Ich glaube, es sind auch die Bauernkalender dabei. Könnte sein, dass wir einen 33er-Jahrgang finden. Wir sollten nachforschen.“ Klaudia zückt ihr Handy und aktiviert die Taschenlampenfunktion. Ein schwacher Lichtkreis geistert über die zirbengetäfelte Decke.
„Jetzt?“, fragt Lena.
„Sicher!“
Die beiden möchten, dass ich mitkomme, aber ich habe definitiv keine Lust, in miefigen Truhen nach modriger Pappe zu schnüffeln und sage Gute Nacht. Es ist fast dreiundzwanzig Uhr und ich spüre Bleiesschwere in die Glieder sacken. Also lasse ich Schwester und Schwägerin ohne mich nächtliche Archivarbeit betreiben und gehe in das mir zugewiesene Zimmer, das im Winter an genügsame Schisportgäste vermietet wird, ansonsten Verwandtschaftsbesuchen als Lager dient. Das Bett ist klein, ich rolle mich zurecht und schließe die Augen. Bevor ich einschlafe, steigen Bilder auf von einer Frau in einem Wust von milchweißen Tüllschleiern, die mit wippenden Haarlocken eine breite Steintreppe hinauftänzelt und dort oben im nachtschwarzen Inneren eines reich verzierten, golden glitzernden Portalbogens verschwindet.
Kobolde
Klopf, Klopf.
Ich hebe meinen Kopf vom Polster.
Getuschel, Geraschel, klopf, klopf, und die Zimmertür öffnet sich allmählich zu einem Spalt, in dem zwei Kinderköpfchen auftauchen, eines über dem andern.
„Tante Sesilia, tust du schlafen?“, lispelt laut ein Stimmchen.
„Hallooh, ihr süßen Zwerge!“, rufe ich und strecke meine Arme aus. „Da seid ihr ja. Kommt her zu eurer tollen Tante!“
Wie Pfeile losgeschossen sausen die zwei Mädchen vor zu meiner Bettkante. Sie sind barfuß und im Pyjama. „Kuschelt unter die Decke“, lade ich sie ein und ohne die mindeste Scheu hüpfen die beiden Frösche auf und über mich. Quietschend und strampelnd versuchen sie, eine optimale Liegeposition auf der schmal bemessenen Matratze zu finden, wobei mir Papierbogen um die Ohren flattern, die die Mädchen in ihren Händen geklammert halten. „Was habt ihr denn da?“
„Wir haben für die Tanten gemalt“, erklärt Marlies gewichtig. Seit einem Monat etwa geht sie in die Schule, worauf sie, die erste der Geschwister, gewiss sehr stolz ist. Die jüngere Luise hält mir ein arg zerknautschtes Blatt vor die Nase: „Das habe ich für dich gemacht.“
„Ui, zeig her!“ Ich setze mich ordentlich auf, entfalte den Bogen und studiere das Werk der Künstlerin. Eine Schar schwarzer Strichmännchen reckt überlange Arme mit grotesk gespreizten Fingern hoch über die Köpfe einer gelben Halbkugel entgegen, die einen Gutteil des Blattes einnimmt und eine Menge Farbmine verbraucht haben dürfte. „Das sind deine Kinder in Afrika, die Waise-Kinder“, sagt Luise voll Eifer und zeigt auf die fadendünnen Figuren mit den runden Smiley-Gesichtern, die kohlschwarz sind bis auf zwei blau ausgemalte Kreise als Augen und einen roten gebogenen Balken als Mund.
Meine Waisenkinder in Afrika! Klaudia, oder eventuell auch Mammi, muss den Mädels von meinem Volunteer-Einsatz in Uganda erzählt und dabei die dunkle Haut der Menschen dort, und die sengende Sonne am Himmel, eindringlich geschildert haben.
Ich drücke die kleine, die zarte weiche Luise an meine Brust und ein gepresster Laut entwischt meiner Kehle. Ich räuspere mich und frage Marlies: „Und du, was hast du gemalt?“
„Mein Bild ist für die Tante Maddalena“, sagt das Mädchen, zeigt es mir aber doch und faltet den Bogen auseinander.
„Gewaltig!“, staune ich und vermute, dass für dieses monumentale Gemälde gleich mehrere Farbstifte ihren finalen Daseinszweck erfüllt haben. Eine höchst energische Strichführung aus verschieden blauen Kringeln, Schleifen und Zacken bedeckt die zwei unteren Drittel des Papierblattes – „das ist das Meer“ –, aus dessen Mitte, ebenso energisch, pfeilähnliche Flammen einer winzigen, in etwa kreisförmigen Sonne entgegenlodern – „das ist ein Wull-Kahn“ –, deutet Marlies auf die Feuerfontäne.
„Ein Vulkan“, wiederhole ich verblüfft. „Mitten im Meer.“
Die Mädchen gucken zufrieden auf ihre Werke, die ich uns dreien zum Bestaunen vor die Augen halte. Ich lobe die Künstlerinnen