Bernhard Wilhelm Rahe

1979 Transit ins Ungewisse


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meldete sich Strohdt, „ich schließe mich Herrn Kellermann an – habe noch einige wichtige Dinge zu erledigen. Hier“, er griff nach den Hallenschlüsseln, die neben der Landkarte auf dem Blechtisch lagen, „nehmen Sie die, damit Sie morgen früh den Wagen herausholen können, und geben Sie die Schlüssel dem Wachsoldaten.“

      Nachdem die Halle verschlossen war, verabschiedete Strohdt sich etwas steif und ging quer über den Hof in Richtung Stabsgebäude. Erst jetzt realisierte Grabert, dass Strohdt sein rechtes Bein etwas nachzog. Vielleicht eine Kriegsverletzung, vermutete er.

      „Nun stehen wir hier“, meinte Haake und lehnte sich lässig an die Hallentür. Er schmunzelte, angelte sich eine Zigarette aus seiner Brusttasche.

      „Eigentlich müssen die uns, bevor wir hierher kamen, ganz schön gecheckt haben, Martin. Die haben die Visa auf unsere Namen und alles andere komplett fertig gehabt. Das Ja-Wort wussten die bestimmt schon, bevor wir überhaupt von der ganzen Sache erfuhren.“

      „Mag sein“, erwiderte Grabert, „man darf die Leute nicht unterschätzen. Wer weiß, wie lange die uns vorher beobachtet haben. Ehrlich gesagt ich bin froh, wenn wir zurück sind, denn irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl, was diese mysteriösen Dosen anbelangt. Dass man für eine solch heiße Sache einfach zwei Reservisten aufgabelt, ist mir immer noch unbegreiflich.“

      „Was meinst Du mit dem unguten Gefühl, Martin?“

      „Na ja, ich will Dich nicht beunruhigen, aber manchmal hat man eben ein Gefühl, das sich nicht klar beschreiben lasst. Sicher ist das auf die eben ungewöhnliche Situation, in der wir uns befinden, zurückzuführen.“

      Grabert schüttelte den Kopf, als wolle er so seine konfusen Gedanken ordnen.

      „Ach, mach Dich nicht verrückt, Martin. Wir fahren nach Krosno, oder wie heißt noch mal dieses Dorf, laden dort alles runter vom Wagen, dann nichts wie ab nach Hause. Was dann kommt, ist wichtig, denn dann gehe ich zur Bank und lasse mir meine Kontoauszüge zeigen. Wenn der Stand meinen Erwartungen entspricht, mach ich das, was ich schon immer vorhatte. Ich steige bei meinem Schwager ein. Der hat mich gefragt, ob ich mit ihm zusammen ein Fuhrunternehmen aufziehen will.“

      „Was, Du hast einen Schwager?“, stellte Grabert verblüfft fest. „Ich denke, Du hast keine Verwandten mehr.

      „Das ist nicht ganz richtig“, korrigierte Haake. „Ich habe eine Halbschwester aus der ersten Ehe meines Vaters. Die ist denen wohl durch die Maschen geschlüpft. Wenn die das nicht merken, ich sag es ihnen auch nicht. Was machst Du, Kumpel, wenn wir mit der Sache durch sind?“

      Grabert schaute geistesabwesend hinüber zum angrenzenden Wald. Er hatte die Frage gut verstanden.

      „Ich werde mich einlösen, mich und meine Freundin einlösen gegen einen Scheck.“

      Haake schaute sein Gegenüber kritisch an. Was gemeint war, hatte er nicht verstanden, wie sollte er auch.

      „Also, ich kapiere nicht, was Du meinst, Martin. Hast Du irgendwelche finanziellen Schwierigkeiten? Ich frage nicht aus Neugier, vielleicht kann ich Dir sogar helfen?“

      Grabert musste lachen.

      „Aber nein, ich habe keine Geldsorgen. Verstehst Du, meine Freundin und ich, wir wollen auf's Land ziehen, in der Stadt gefällt es uns nicht mehr. Uns fehlt nur noch das Geld, um es auch wirklich tun zu können. Wir haben jahrelang in der stinkenden Stadt gelebt, das soll nicht immer so weitergehen. Auf dem Lande lebt es sich besser und angenehmer, verstehst Du? Wir möchten uns ein einfaches, aber glückliches Leben, umgeben von der Natur, gestalten. Weit fern von Schloten, Autobahnen und Hektik. Gewünscht hab ich's mir schon immer, nur ist es mir nie gelungen, mich von diesem Gewühle freizumachen. Nicht nur ich, sondern auch Du und alle anderen sind viel zu verwurzelt mit dieser Gesellschaft, mit ihren Zwängen. Hinderungen, die wir, also die Gesellschaft, uns selbst auferlegen.“

      „Ist schon klar, ich weiß, wie Du das meinst, Martin. Nur sehe ich das etwas anders. Ich will mich nicht freikaufen, ich will mich sozusagen einkaufen, und zwar in die Gesellschaft, die an den Fäden zieht; verstehst Du, ich will nicht immer die Marionette sein, ich will auch die Bewegungen mitbestimmen.“

      Grabert wollte nicht weiter über dieses Thema reden, denn er wusste, dass Haake sich ebenso wenig wie er von der Meinung des anderen überzeugen lassen würde. Schon oft hatte er lange Debatten über Ideologien geführt. In den meisten Fällen kam er dabei nicht gut weg, denn gegen Habgier, Gewinnsucht und skrupelloses Handeln war in der heutigen Zeit kein Kraut mehr gewachsen. Er lenkte also ein.

      „Keine schlechte Idee, das Geld zu investieren und ganz groß einzusteigen. Ich hoffe, dass Du Dich dabei finanziell verbessern kannst, Erich.“

      „Wird schon klappen, Martin; lass uns jetzt gehn, wir brauchen ja nicht bis morgen hier zu stehn.“

      Krosno, ein Ort mit einigen Tausend Einwohnern im Karpatenvorland. Dieser Ort, bis auf seine Glasproduktion und die traditionellen Ölvorkommen, verschont geblieben von der brutalen technischen Evolution der Metropolen im Osten Europas. Zuweilen findet man dort freundliche, genügsame, einfach gekleidete Menschen, die ihr Land bearbeiten. Dieses, nicht nur, um ihr Auskommen zu sichern, sondern auch, um die geforderten Ackererträge halten zu können. Die in den Fabriken arbeitenden Menschen schufteten in den Glashütten, verdienten wenig, ruinierten ihre Gesundheit durch die harte Arbeit. Der Glaube an Gott half ihnen nicht, das Leben zu verstehen, es aber tapfer zu ertragen.

      Wie der Dorfpater einer kleinen Gemeinde am Rande von Krosno es geschafft hatte, eine ganze Wagenladung Lebensmittel und Kleidung aus dem goldenen Westen ausgerechnet nach Krosno zu lotsen, war ein Wunder. Ja, für die Seelen dort ein Wink Gottes, der es gut mit ihnen meinte.

      Das ganze Dorf schien dieses Ereignis in einer Art herbeizusehnen – wie den Regen nach einer unendlich langen Dürre. Die Menschen dort befanden sich in einer feierlichen Vorfreude. Jeder von ihnen traf irgendwelche Vorbereitungen, die bei der Ankunft der Fahrer aus dem Westen einen frohen Empfang bereiten sollten.

      Auch Anton Jadrovz bereitete sich auf die Ankunft vor. Jedoch waren seine Erwartungen auf eine andere Sache fixiert. Er war der Mann, der die Konserven mit den Ersatzteilen entgegennehmen sollte. Er war über die Ladung minutiös unterrichtet und wusste, wo und wie er das, was er suchte, finden sollte. Jadrovz hatte keine Familie mehr; er war alleinstehend und betrieb die Dorfschmiede. Vor 25 Jahren hatten die Eltern des Paters ihn aufgenommen, nachdem man seinen Vater, von einem Lkw der russischen Volksarmee überrollt, auf der staubigen Landstraße gefunden hatte. Zu einer Anklage kam es damals nicht. Nichts konnte den toten Vater jemals ersetzen. Der Fahrer sollte angeblich betrunken gewesen sein, dieser verschwand nach dem Gerichtsurteil, das „Arbeitsdienst“ gelautet hatte, nach Sibirien. Man sah ihn nie wieder.

      Jadrovz pflegte guten Kontakt zum Pater und erfuhr auf diesem Wege alle nötigen Informationen, die er brauchte, um seine Position als Brücke zwischen Deutschland und seinen ausgesandten Spionen in Polen zu erfüllen. Spione, nicht gegen Polen gerichtet, sondern gegen das, was hinter dem Dukla-Pass begann: die Sowjetunion. Dieses große Land mit seinen vielen Geheimnissen. Ein Land, in dem ein starkes Volk wohnte, ein Volk mit einer rauen, strotzenden Kraft. Körper, in denen warme und zurückhaltende freundliche Seelen wohnten. Ein patriotisches Volk, das wusste, wofür es arbeitete; von morgens bis spät abends schuftete, in Fabriken, in den riesigen Verwaltungsapparaten oder in den zahllosen Kolchosen. Die Arbeit gewährte nicht nur das tägliche Brot, sie war gleichermaßen eine tiefe Überzeugung, der Glaube an Freiheit, Kraft, Fortschritt und Weltmacht.

      Ein Land, das für seine eigenen Behändigkeiten arbeitet, an dem jeder teilhaben darf, damit sich die riesigen Kornkammern füllen. Nicht nur, um dieses starke Volk mit neuer Kraft zu versorgen. Ein Kreislauf, der allzu natürlich ist und den Menschen im Westen irgendwie beklemmend und beziehungslos erscheint.

      Dieses Land, in kommunistischer Blüte, der Feind Nummer eins für die westlichen Mächte. Eine Nation, die schon allein durch seine geografische Lage den Deutschen immer wieder gestrotzt hatte.

      Was nicht nur die Deutschen, auch andere Westeuropäer mit Stolz erfüllte, war gleichermaßen das, was auch enorm schwächte. Schon