Claudia Martini

Morgen wirst Du frei sein


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die vor Jahren geplante Ansiedelung von das Landleben schätzenden Kleinfamilien aber noch nicht umgesetzt worden war. Während man im Gemeinderat über Grundstückspreise und Baugebiete stritt, zogen die Kinder der Bauern in die Städte, Brachen und Ruinen hinterlassend.

      Gelegentlich bewegte sich hinter einer der kleinen schmutzstarrenden Scheiben eine Gardine. Man sah sie kaum, die Alten, die hier ihr Dasein fristeten.

      In diesem Ort namens Kleinspornach, einst das Landgut eines Barons, waren Armut und Verfall an löchrigen Straßen und bröckelndem Putz deutlich sichtbar. Es lag abgelegen, der Zufall brachte keine Besucher in diese Gegend.

      Hin und wieder hörte man eine Kuh, einen Traktor, seltener ein Auto. Niemals sah ich plaudernde Menschen, die über die Straße hinweg oder an Gartenzäunen Neuigkeiten austauschten. Niemand zog Erkundigungen nach dem Befinden der wenigen Familien des Ortes ein. Es gab keine Fragen nach den Kindern und deren schulischen Erfolgen. Man fachsimpelte nicht über Mähdrescher, besprach sich nicht zu geeignetem Saatgut oder stimmte Erntetermine ab. Eine Kirche, in der man sich hätte treffen können, fehlte.

      Jeder hatte seine eigenen Probleme, die die Nachbarn nichts angingen. Man ging sich aus dem Weg, beäugte sich misstrauisch, pflegte alte Feindschaften.

      Dieser Ort war perfekt für mich, den Eigenbrötler, der sich stundenlang in der Hängematte liegend in die Welt hinaus träumte, las, mit dem Fahrrad die Gegend erkundete, durch Wälder streunte.

      Und dieser Ort war perfekt, um einen Menschen verschwinden zu lassen.

      Ich hatte eine Weile nachgedacht.

      Ich wollte meine Mutter in einen Teppich rollen, mir über die Schulter werfen, das Paket in den Kofferraum laden, irgendwohin fahren, meine Fracht abladen und entsorgen.

      Das war der Plan.

      Er scheiterte bereits am Teppich, wie ich erkannte, als ich auf ihm stand. So groß hatte ich ihn nicht in Erinnerung.

       Also nahm ich aus dem Wohnzimmer eine Decke, ging in die Küche und warf sie von der Tür aus über die auf dem Boden Liegende.

      Ich hatte gehofft, dass sie ausreichen würde, meine Mutter zu bedecken, diesen Körper, das Blut, vor allem aber dieses Auge, das mich zu verfolgen schien, zu verbergen, doch ich wurde enttäuscht.

      Ich ging ins Schlafzimmer, um die gesteppte Bettdecke zu holen. Ich zerrte sie vom Bett, erkannte aber rasch, dass auch sie den Zweck nicht erfüllte. Sie war zu voluminös, zu weich und ebenfalls nicht breit genug.

      Meine Verzweiflung wuchs.

      Hektisch sperrte ich die Haustüre auf, spähte in die mondlose, klare Nacht hinaus. Niemand war zu sehen.

      Den Autoschlüssel hatte ich bereits in der Hosentasche. Ich lief über den Hof, sprang in den Wagen und fuhr ihn mit dem Heck vor die Haustüre. Dann öffnete ich den Kofferraumdeckel und starrte ins Innere.

      Zu wenig Platz.

      Meine Mutter war nicht groß, aber beleibt. Ehrlich gesagt war sie korpulent. Fett. Sie würde niemals in den Kofferraum passen.

      Resigniert ließ mich auf die Stufen am Eingang sinken, legte den Kopf in die Hände und seufzte.

      Was ich brauchte, war eine Eingebung. Und zwar sofort.

      Mein Vater war Jäger gewesen. Jede freie Minute verschwand er im Wald, blieb oft die Nacht über weg. Die verbrachte er im Hochstand, eingehüllt in einen Schlafsack, das Fernglas vor sich, dampfenden Kaffee neben sich.

      Von September bis Januar gab es zu Vaters Lebzeiten bei uns täglich Fleisch. Rehe und Wildschweine landeten in allen erdenklichen Variationen auf unseren Tellern; mein Vater war ein hervorragender Schütze.

      Ich war fasziniert von der Jagd, auch wenn diese Faszination eine war, die in mir niemals die Vorfreude auf das Töten weckte, wie ich sie bei anderen beobachtete. Im Gegenteil. Die Pirsch, das Ansitzen und Beobachten, die Hege während des Winters liebte ich. Die Gewissheit aber, dass der Schuss fallen, das Reh zusammenbrechen und ein Leben beendet sein würde, machte mich traurig.

      Sobald das Lebewesen zu Fleisch wurde, waren meine Skrupel verflogen. Eifrig half ich beim Häuten, Ausweiden, Zerteilen. Ich hatte mir eine eigene Technik angeeignet, für die mir die Jäger der Nachbarreviere Respekt zollten. Saßen sie nach einer Treibjagd in der Hütte und stießen mit dem obligatorischen Schnaps an, nahm ich mich ihrer Beute an.

      Heute lagerten die Flinten und Messer meines Vaters auf dem Dachboden. Ich hatte nach seinem Tod an keiner Jagd mehr teilgenommen, obwohl ich oft eingeladen worden war.

      Ich stand auf und ging ins Haus.

      Im Flur blieb ich unter der Dachluke stehen. Die Stange, mit der man sie öffnen konnte, lag auf dem Schrank. Ich fädelte den Haken in die Öse, zog kräftig an. Die Klappe öffnete sich. Ich klappte die Leiter aus, schaltete das Licht an und stieg hinauf.

      Oben angekommen, orientierte ich mich. Ich war Jahre nicht mehr hier gewesen. Staub und Spinnweben hatten Kisten und Schachteln zugedeckt. Es war düster, warm und stickig. Ich hustete. Eine große Spinne rannte über einen Holzbalken.

      Da war er, Vaters metallener Flintenschrank, daneben die Holzkiste, in der er seine Jagdutensilien aufbewahrt hatte. Ich öffnete sie. Obenauf lag das abgegriffene Lederfutteral mit den Messern. Ich nahm es, warf den Deckel zu und kletterte rasch die Leiter hinab.

      Im Flur holte ich tief Luft und wandte mich zur Küche.

      Minutenlang stand ich da.

      Sie lag vor mir, nicht anders als früher die Rehe und Wildschweine, die mein Vater geschossen hatte. Noch immer war wenig Blut zu sehen, lediglich vor dem Herd ein verschmierter Streifen, dort, wo ich ausgerutscht war. Die Flecken auf dem weißen Bademantel waren nicht rot, sondern braun, fast wie die Decke, die halb über der Leiche lag.

      Ich öffnete das Mäppchen mit den Jagdmessern und prüfte den Inhalt. Alles war an seinem Platz. Sauber und scharf.

      Einsatzbereit.

      Ich zog die vom häufigen Schleifen schmal gewordene Klinge heraus, die ich früher zum Ausbeinen von Wildschweinen verwendete hatte. Wog sie in der Hand. Ging in die Knie, zog die Decke von den blassen Schenkeln meiner Mutter, schob den Bademantel zur Seite.

      Es würde genügen, die Beine an den Hüften abzutrennen. Der Körper könnte Platz finden im Kofferraum. Es würde einiges an Kraftaufwand beim Verladen bedeuten, doch das traute ich mir körperlich durchaus zu.

      Ich schob das Nachthemd höher.

      Noch ein Stück.

      Meine Mutter war gewalttätig gewesen. Ich, der Germanist, fand keinen passenderen Ausdruck dafür; kein Attribut beschrieb sie treffender.

      Sie schlug mich niemals. Sie redete. Viel und, meinem Gefühl nach, ständig. Sie brachte meine Ohren zum Summen und meinen Kopf an die Grenze seiner Kapazität. Ich konnte körperlich schon als 15-Jähriger auf meine Mutter hinunterschauen, doch das änderte nichts daran, dass ich mir neben ihr wie ein Zwerg vorkam. Und ich wurde kleiner und kleiner. Eines Tages, so stellte ich es mir vor, verschwände ich in einer Ritze im Dielenboden.

       Sie fällte Urteile und ließ sie krachend auf mich herunterfallen wie eine Guillotine ihr Messer. Sie pflegte sich in meinem Zimmer vor mir aufzubauen und schier endlose Monologe zu führen. Ich war zum Zuhören verurteilt. Für Widerworte fand ich keinen Raum. Bekam ich eine der seltenen Gelegenheiten, mich zu rechtfertigen, erzielten meine Argumente kaum mehr als den Effekt, dass sich ihr Erregungszustand steigerte. Die nächsten Minuten spielten sich dann um eine Oktave höher und um einige Dezibel lauter ab.

      So lauschte ich ergeben dem, was sie mir zu verkünden hatte. Oder ich schaltete ab und ließ meine Gedanken wandern.

      Mein Vater verließ wortlos das Haus, wenn sich meine Mutter in Rage redete. Ich hatte diese Möglichkeit nicht, niemals. Ich hasste meinen Vater dafür, dass er mich ihr auslieferte, diesem Wortschwall, der auch ihn anging.

      Ich