auch, um die Wassertiefe auszuloten. Und um meine Mutter, sobald ich sie aus der Folie geschält hatte, unter Wasser zu drücken, bis das Moor sich ihrer bemächtigte. Ohne nachzuhelfen, das wusste ich aus Fernsehberichten, versinken Leichen nicht.
Als der Morgen dämmerte, war ich wieder im Auto. Dreckig, nass, todmüde, erleichtert. Mein Plan hatte funktioniert. Der Schlick hatte meine Mutter bereitwillig aufgenommen und würde sie nicht mehr hergeben.
Ich legte den Kopf auf das Lenkrad und schloss meine brennenden Augen. Minutenlang blieb ich so sitzen, nichts denkend, nichts fühlend. Dann startete ich den Motor.
3. Kapitel
Nachdem ich den Wagen zurückgebracht hatte und nach Hause gefahren war, warf ich mich auf mein Bett und schlief tief und traumlos. Als ich erwachte, blinzelte ich in die Sonne, schaute mich verwirrt um.
Ich lag, die Arme ausgebreitet, auf dem Bauch, die Bettdecke unter mir war zerwühlt. Jeans und Jacke trug ich noch. Einen Gummistiefel hatte ich an, der zweite fehlte.
Die Erinnerung kam mit einem Adrenalinstoß. Meine Kopfhaut zog sich zusammen, die Haare im Nacken und an den Unterarmen richteten sich auf, mein Magen schien nach vorn zu kippen. Das Licht schmerzte in meinen Augen, blieb unangenehm selbst dann, als ich sie schloss und die Helligkeit einem gedämpften Rot wich. Ich lauschte dem Kopfschmerz, der in meinem Schädel bohrte und dröhnte.
Ich hatte meine Mutter getötet. Und sie im Moor begraben. Nein, versenkt. Entsorgt. Ich, der ewige Versager, der Feigling, der Rückgratlose, derjenige, der immer kuschte.
Stolz breitete sich in mir wie warme Suppe aus. Das erste Mal hatte ich etwas getan, das Spuren hinterlassen würde. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich die Wege der anderen gegangen, vorgezeichnete Pfade ohne Gabelung. Ich war hinterhergetrottet. Jetzt aber war ein neuer Weg aufgetaucht. Ich selbst hatte ihn geschaffen.
Ich drehte mich auf den Rücken und spürte ungekannte Energie durch meinen Körper fließen.
Ich grinste.
Daran, dass die Leiche im Moor gefunden werden könnte, dachte ich nicht. Ebenso wenig daran, wie ich das Verschwinden meiner Mutter erklären würde, käme jemand auf die Idee, mich nach ihr zu fragen.
Ich stand auf, zog das Bett ab und stopfte meine Kleidung zusammen mit dem vom nassen Dreck meiner Hose verkrustete Bettzeug in die Waschmaschine. Kippte Waschmittel in die Trommel und drückte mehrere Knöpfe, bis ich Wasser einlaufen hörte. Ich duschte ausgiebig, rasierte mich, putzte sorgfältig meine Zähne. Nackt ging ich zurück in mein Zimmer, zog mich an. Dann betrat ich die Küche.
Gestern war nicht viel Blut zu sehen gewesen, einige Tropfen nur, eine handtellergroße Pfütze, ein verschmierter Streifen. Heute war es überall: auf dem Boden, an den Küchenfronten, an der Tür, am Türrahmen befanden sich Spritzer, Fußspuren, Fingerabdrücke. Das Messer war unter den Tisch gerutscht, ein Stuhl war umgekippt, der andere stand auf dem Tisch.
Ich schüttelte mich vor Ekel.
Eimer und Putzlappen fand ich im Schrank. Während Wasser in den Eimer lief, studierte ich die Etiketten der verschiedenen Putzmittel und mischte dann doch alles zusammen.
Erst als keine Spur meines Verbrechens mehr zu sehen war und sich auch das Messer gesäubert wieder an seinem Platz befand, ließ ich mich auf einen Stuhl fallen und atmete tief durch.
Später hängte ich die Wäsche zum Trocknen in den Garten, spritzte die Plane, in der ich meine Mutter transportiert hatte, mit dem Wasserschlauch ab, schmierte mir ein Brot, kochte Kaffee und leerte den überquellenden Briefkasten, der am Gartentor hing.
Erschöpft setzte ich mich mit meiner Tasse auf die Stufe vor der Haustüre und sortierte die Post. Zeitungen legte ich zu meiner Rechten ab, Briefe kamen nach links, Werbung warf ich auf den Boden. Ein Stück Papier erregte meine Aufmerksamkeit. Er war mit rotem, dickem Filzstift beschrieben.
»Morgen wirst du frei sein« stand da in ordentlichen, leicht geschwungenen Lettern.
Ratlos legte ich den Zettel auf den Stapel mit den Briefen und wandte mich den Zeitungen zu. Die älteste war vom 3. September, die heutige vom 5. September. Mittwoch.
Ich hatte Mühe, die Chronologie der Ereignisse zu rekapitulieren. Es musste Sonntag gewesen sein, als meine Mutter und ich es uns vor dem Fernseher bequem gemacht und auf eine weitere Folge des »Tatort« gefreut hatten. Waren tatsächlich bereits drei Tage vergangen? Hatte ich den Dienstag völlig verschlafen?
Ich blätterte in den Zeitungen, ohne eine Zeile zu erfassen. Dann stand ich auf und ging in das Haus, in dem ich nun alleine lebte.
Ich schlenderte durch die Räume, nahm sie erstmals bewusst wahr. Braun und Beige waren die Farben, die dominierten. Jahrzehntelang hatten meine Eltern kaum Veränderungen vorgenommen. Ich konnte mich weder an eine andere Couch erinnern noch an andere als die wuchtigen, eichenen Vitrinen. Die Blumentapete aus den Siebzigern war weißer Raufaser gewichen. Mittlerweile aber hatte diese eine undefinierbare Patina angenommen, in der Nähe des Holzofens und an den Fenstern und Ecken dunkler, zwischen Sofa und Schrank heller.
Den Holzboden bedeckte ein mehrere Quadratmeter einnehmender Perserteppich, ein Erbstück, das bereits einige Vorbesitzer hatte. Meine Mutter erwähnte häufig seinen Wert, was ihn in meinen Augen nicht attraktiver machte.
Die Küche war kurz vor dem Tod meines Vaters renoviert worden. Weiße Fronten, eine Arbeitsplatte aus Buche und helle Fliesen an den Wänden und am Boden ließen den Raum größer erscheinen, als er war. An der Wand hingen gerahmte Kritzeleien eines Kindes. Es waren meine Zeichnungen, an deren Erstellung ich mich allerdings nicht erinnern kann.
Das Bad bot einen erschreckenden Anblick. Risse in der grauen Decke, angeschlagene Keramikbecken, verkalkte und verrostete Armaturen, zerbrochene Kacheln. Niemand hatte es je für nötig befunden, tropfende Wasserhähne zu reparieren oder auszutauschen, zum Farbeimer zu greifen oder gar zum Vorschlaghammer. Dieser wäre die beste Wahl gewesen.
Ich wandte mich ab und warf einen Blick in mein Zimmer. Mein Jugendbett, Regale randvoll mit Büchern und Ordnern, ein Kleiderschrank, ein knarrender Stuhl ohne Armlehnen, der Schreibtisch mit meinem Laptop darauf und Bücherstapeln darunter. Mehr fand nicht Platz, und mehr brauchte ich auch nicht.
Das Schlafzimmer meiner Eltern betrat ich nicht. Ich wusste, wie es dort aussah. Ein bis zur Decke reichender Schiebetürenschrank mit Spiegeln, ein Doppelbett, zwei Nachtkästchen mit Schirmlampen und auf Mutters Seite einem Wecker. Geblümte, ausgebleichte Bettwäsche.
In dem düsteren Flur mit Holzboden und Flickenteppich blieb ich stehen, lehnte mich an die Wand, schaute durch die offene Haustür nach draußen.
Ich hatte keine Ahnung, was ich anfangen sollte mit meinem Leben, diesem neuen Leben, das mir so unvermittelt geschenkt worden war.
Denn so, das gestand ich mir ein, empfand ich es.
So verging der Tag. Mein erster ... Ich stutzte. Mein erster Tag in Freiheit.
»Morgen wirst du frei sein.«
Hitze schoss mir ins Gesicht. Ich rannte ins Haus. Wo hatte ich nur die Post hingelegt? Da war er, der Stapel. Auf dem Esstisch. Ich fand den Zettel, nahm ihn, starrte ihn an. Meine Hand zitterte, die Schrift vor meinen Augen verschwamm.
Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen.
Was, verdammt noch mal, bedeutete das? War ich paranoid? Oder ...
In dieser Nacht ging ich nicht ins Bett.
Ich hatte kein Geräusch gehört. Und doch war jemand im Haus gewesen.
Ein Blatt Papier lag auf der Schwelle zum Wohnzimmer, dem Raum, in dem ich die Nacht verbracht hatte. Einen Moment hoffte ich, dass die Nachricht, die ich unzählige Male gedreht, gewendet und gefaltet hatte und über der ich, den Kopf auf dem Tisch, eingeschlafen war, zu Boden gefallen und zur Tür gerutscht war.
Doch sie lag vor mir.
»Freiheit