Claudia Martini

Morgen wirst Du frei sein


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vor sich hin und betrachtete sie. »Kennst du die Nummer?«, fragte sie fast beiläufig.

      Ich schaute erstaunt auf. »Nein.«

      »Wo kann sie sie notiert haben?«

      »Keine Ahnung.«

      »Denk nach!«, bellte sie.

      Ich erschrak. »Ich ... Ich weiß nicht. Vielleicht in der Dose?«

      »Welche Dose?«

      »Die auf dem Schrank. In dem sie das Haushaltsgeld ...«

      »Hol sie!«

      Ich gehorchte.

      Thea griff nach der Kaffeedose, die schon meiner Großmutter gehört hatte und aus der ich als Kind Kleingeld für Kaugummi und Schokolade nehmen durfte, bevor sie wieder für mich unerreichbar im obersten Regal in Sicherheit gebracht wurde.

      Sie schraubte sie auf und kippte sie, schüttelte einige Banknoten und Papiere heraus. Das Geld legte sie beiseite, sortierte die Notizzettel.

      »Da ist sie ja.«

      Sie stand auf. »Wir fahren in die Stadt.«

      Wir schwiegen, bis Thea an der Hauptstraße auf eine Parklücke deutete. »Halt hier an!«

      Sie stieg aus, lief zwischen zwei Autos über die Straße zur Sparkasse, verschwand hinter den Glastüren. Schemenhaft sah ich sie zum Geldautomaten gehen. Als die Türen sich wieder öffneten, stopfte sie achtlos ein Bündel Geldscheine in eine Geldbörse. Es war nicht die meiner Mutter, die lag noch auf dem Esstisch.

      Sie warf einen Blick nach links, winkte mir zu und formte mit den Lippen ein Wort. Dann eilte sie die Straße entlang und betrat eine Bäckerei.

      »Schau mal, ich hab dir Nusshörnchen geholt. Die magst du doch so gern«, strahlte sie mich an, als sie sich außer Atem auf den Beifahrersitz fallen ließ.

      »So, was haben wir jetzt vor? Wir müssen zum Supermarkt, danach Getränke holen. Und ich möchte im Gartencenter ein paar Herbstpflanzen besorgen. Ist ja ziemlich trist, so ohne Farbe im Garten. Alles braun und grau. Was meinst du?«

      Ich nickte ergeben, trat auf die Kupplung, startete den Motor. »In dieser Reihenfolge?«

      »Du bist der Kapitän«, lachte sie.

      Ich wurde nicht schlau aus dieser Frau. Weder verstand ich, was sie von mir wollte, noch konnte ich ihre extremen Stimmungsschwankungen nachvollziehen. Die waren selten, aber sie ängstigten mich.

      Dennoch war Thea, deren Namen und Herkunft ich noch immer nicht kannte, ein netter Mensch; sie sorgte sich um mich, um den Haushalt, um den Garten. Sie kochte, backte, putzte, kümmerte sich um die Wäsche. Sie war wie ... Ja, wie eine Mutter. Eine Mutter, wie ich sie nie hatte, mir immer gewünscht hatte. Eine, die Emotionen und Empathie zeigte, Zuneigung vermittelte. Ich mochte diese Fremde, hatte mich an sie gewöhnt, fühlte mich wohl bei dem Gedanken, dass sie da war, wenn ich nach Hause kam.

      Sie schien alles über mich, meine Eltern, über unser Leben zu wissen. Woher? Ich wollte mit ihr darüber reden, doch ich fand nie den Mut. Was mich abhielt, die naheliegenden Fragen zu stellen, war mir nicht klar. Sie hatte etwas an sich, das es mir unmöglich machte. Ich wäre gern der coole Typ gewesen, der sich, lässig an die Wand gelehnt, eine Zigarette zwischen den Zähnen, erkundigen würde, wie lange sie zu bleiben gedachte. Warum sie hier war. Und was sie wusste.

      Ich war dieser Typ nicht, und das quälte mich.

      Sie spürte, wenn das, was in mir arbeitete, kaum noch zu unterdrücken war, wenn der Druck zu groß wurde, ich mich straffte. Dann sah sie mich nur an. Sagte kein Wort. Wartete.

      Der Moment kam, ich holte Luft, schaute auf, blickte in ihre Augen - und senkte die Lider. Atmete aus. Sank in mich zusammen.

      Es war kein Spiel. Es war ein Kampf. Und ich hatte ihn von Beginn an verloren.

      6. Kapitel

      Das Wintersemester begann, und mit ihm kehrte die Regelmäßigkeit zurück, die das Leben ordnet und beruhigt.

       Ich nahm ganz selbstverständlich das Auto, kaufte auf dem Rückweg von der Uni ein, jobbte mittwochs und donnerstags von Mittag bis Ladenschluss in der Buchhandlung. Kam ich abends nach Hause, warteten ein warmes Essen auf mich und der Fernsehsessel. Hatte ich nachmittags frei, lernte oder las ich, auf dem Sofa liegend, oder surfte im Internet, während ich Thea irgendwo werkeln hörte. Sie war ständig beschäftigt, nie sah ich sie tagsüber ein Buch oder die Zeitung lesen.

      Jeden Tag beim Essen fragte sie mich, was ich erlebt und erfahren hatte, wie ich Sachverhalte beurteilte, zu politischen und gesellschaftlichen Ereignissen stand. Ich wurde lockerer, selbstsicherer, offener.

      Mit ihrer Hilfe bereitete ich ein Referat vor, das mir großen Beifall meiner Kommilitonen einbrachte und ein anerkennendes Nicken des Doktoranden, der das Seminar leitete. Ich ergriff öfter als noch im vergangenen Semester und in allen davor das Wort, beteiligte mich an Gesprächen und Debatten. Ich nahm mich einiger Erstsemester an, erklärte ihnen Abläufe, gab Tipps und Ratschläge. Dankbar luden sie mich auf ein Bier in die Kneipe zwei Querstraßen von der Uni entfernt ein. Ich lehnte ab.

      Meine Mutter hatte mich spätestens zur Tagesschau erwartet. Verspätete ich mich, weil ein Dozent ein Abendseminar überzog oder sich an eine Lesung eine Diskussion anschloss, die mich fesselte, bekam ich Ärger.

      Thea musste meine Unsicherheit, meinen inneren Konflikt gespürt haben, denn sie sprach mich eines Abends an: »Warum gehst du nicht mal weg? Such dir Freunde, geh ins Kino oder was auch immer junge Leute so tun. Ich kann dir nun wirklich kein Ersatz sein für Unterhaltungen mit deinesgleichen und Gleichaltrigen.«

      »Das wird dann aber ziemlich spät. Ich meine, bis ich hier bin ... Der Zug fährt nachts nur noch stündlich«, glaubte ich, mich verteidigen zu müssen.

      »Na und? Du bist doch kein Teenager mehr! Freitags einen draufmachen, tut man das nicht als Student?« Sie nickte mir aufmunternd zu.

      »Vermutlich«, murmelte ich.

      »Gib einfach Bescheid, ruf kurz an, dann weiß ich, dass ich nicht auf dich warten muss.«

      Damit war das Thema erledigt. Ein Dogma, das jahrelang Bestand gehabt hatte, war plötzlich keines mehr.

      Ich schaute aus dem Fenster hinaus in die Abendröte und fühlte mich großartig. Ich war ... frei!

      7. Kapitel

      Mitte Dezember lernte ich ein Mädchen kennen. Eigentlich kannte ich sie schon länger, sie war mir bereits vor mehr als einem Jahr aufgefallen. Sie saß in den Vorlesungen meistens am selben Platz in der dritten Sitzreihe am Fenster. Ihr halblanges, blondes Haar strich sie mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks mit dem Daumen aus der Stirn.

      Ich hatte mich nur ein einziges Mal mit ihr unterhalten, vor einigen Monaten. Es ging um ein Skript, das ich für sie kopieren sollte. Meine Notizen waren begehrt bei meinen Kommilitonen, denn ich schrieb nicht nur mit, sondern tippte meine Aufzeichnungen zu Hause ins Reine und versah sie mit Anmerkungen.

      Sie hatte die gehefteten Blätter genommen, mir höflich gedankt, blendend weiße Zähne und ein Blitzen ihrer hellblauen Augen präsentiert. Dann war sie mit ihren Freundinnen in der Mensa untergetaucht.

      Ich hatte ihr nachgeschaut.

      Wie es sich ergab, dass ich beim Mittagessen neben ihr saß, weiß ich nicht mehr. Ich schaufelte Schnitzel mit Pommes in mich hinein, sie stocherte gedankenversunken in welkem Salat. Um uns herum Stimmengewirr.

      Plötzlich sah sie mich an. »Was ist Dein Thema?«

      Meine Gabel stoppte auf halber Höhe zum Mund. »Wie bitte?«

      »Dein Thema. Für die Seminararbeit.«

      »Ach so. Ich werde Stolzenberg analysieren.«

      »Diesen Labersack. Blabla,