Claudia Martini

Morgen wirst Du frei sein


Скачать книгу

hier?«

      Sie schaute mich an, fragend, als würde sie an meinem Verstand zweifeln. »Ich vertrete deine Mutter.«

      Ich schluckte. »Ich ... Ich ver ... Ich verstehe nicht«, stotterte ich.

      Sie lachte. »Natürlich verstehst du, mein Junge! Wir werden uns gut vertragen, glaub mir. Und jetzt sag mir endlich, was wir uns heute anschauen. Was haben wir eigentlich für einen Tag? Donnerstag?« Sie schüttelte das Geschirrtuch und hängte es über die Stuhllehne.

      Ich schlug den 6. September auf. »Was, äh, interessiert Sie denn?«

      »Hör mal, du wirst mich doch nicht siezen?!« Sie stemmte die Fäuste in ihre Flanken, schaute mich gespielt böse an. »Wenn du mich nicht Mutter nennen willst, ist das Okay. Dann eben Resi. Oder Thea? Ich meine, deine Mutter hieß doch Theresa, nicht wahr? Such dir aus, was dir gefällt. Dein Vater hat sie meines Wissens Reserl genannt. Aber das ist wohl eher unpassend für einen Sohn, oder?«

      In meinem Kopf summte es. Das konnte doch alles nicht wahr sein? Ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte sich an der Szenerie nichts geändert. Die fremde Frau stand genau an der Stelle, an der meine Mutter gelegen hatte.

      Getötet mit einem Messer. Einem Fleischmesser. Von mir.

      Ich drehte mich um, lief ins Bad, hielt den Kopf unter den Wasserhahn. Die Wunde schmerzte, als eiskaltes Wasser über sie rann. Sie hätte genäht werden müssen. Ich nahm ein Handtuch, trocknete mich ab und schaute in den Spiegel.

      »du bist am Arsch«, flüsterte ich dem bleichen Gesicht mit den roten, weit aufgerissenen Augen zu.

      Ich hatte beschlossen abzuwarten, was passieren würde. Passiv sein, das konnte ich, das hatte ich gelernt. Also, überlegte ich, wäre es als Stärke zu bezeichnen. Und die sollte ich einsetzen.

      Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß die Frau auf dem Sofa, die Fernbedienung in der Hand.

      Sie zappte.

      Meine Mutter hatte niemals durch die Programme geschaltet. Sie war der Überzeugung gewesen, dass jemand, der nicht wisse, was er sehen wolle, etwas Sinnvolleres mit seiner Zeit anfangen müsse.

      Ich setzte mich auf einen Stuhl am Esstisch.

      »Und? Weißt du schon, was wir anschauen sollen?« Sie nickte Richtung Bildschirm. »Da kommt was über junge Ärzte, ganz frisch von der Uni. Die ersten Schritte im Krankenhaus, begleitet von einer Kamera. Hört sich interessant an. Lebensnah. Aber stell dir vor, du liegst im Bett mit Schmerzen, und so ein Jüngling kommt und erzählt dir, was dir fehlt. Also, was dir vielleicht fehlt. Immerhin ist er ja nur ein Lehrling. Er kann recht haben oder auch nicht. Wie findest du das? Irgendwie keine so gute Vorstellung, oder?«

      Ich schwieg.

      »Aha, da ist ja noch der Oberarzt, der kontrolliert das«, kommentierte sie das Geschehen. »Schau mal, die mit den langen Haaren, die hat noch nie ein Ultraschall gemacht.« Sie lachte laut auf. »Der Patient schaut ziemlich kariert aus der Wäsche. Gleich springt er aus dem Fenster.«

      Sie griff nach einer Wolldecke und einem Kissen und machte es sich bequem. »Jetzt komm schon! Oder willst du auf dem harten Stuhl sitzen bleiben und dir das Genick verrenken, um was zu sehen?«

      Ich ging hinüber, setzte mich in den Lehnstuhl. Mutters Fernsehsessel. Ich hatte noch nie darin gesessen. Er war tief und breit, durchgesessen bis auf die Gurte.

      Die Frau auf dem Sofa lächelte mir zu und schaute dann wieder auf den Bildschirm, wo Menschen in weißen Kitteln über lange Gänge hasteten.

      Ich betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Wie alt mochte sie sein? So alt wie meine Mutter, knapp 60, schätzte ich. Sie reichte mir gerade bis zur Schulter, war vollbusig, mit rundem Hinterteil und kräftigen Beinen. Nicht dick, aber gut genährt, etwas mehr als vollschlank. Sie schien nicht unsportlich, auf alle Fälle aber körperlich aktiv zu sein, immerhin war sie vom Supermarkt bis hierher mit dem Rad gefahren. dunkles, lockiges, kurz geschnittenes Haar mit vereinzelten grauen Strähnen. Sie hatte kaum Falten, nur an den Augen sah man Krähenfüße. Ihr Blick, offen und freundlich, war von einer Intensität, die mich verwirrte. Sie trug Jeans und eine blauweiß gestreifte Bluse, dazu blaue Sneakers.

      Ich ertappte mich dabei, gespannt darauf zu sein, wie der Abend weiter verlaufen würde. Handelte es sich um ein Spiel? Welche Regeln galten? Wann endete es? Heute? Morgen? Diese Frau, wer immer sie war und woher sie auch kam, konnte doch nicht einfach bleiben?

      Als ich mit steifen Gliedern und kribbelnden Füßen aufwachte, hörte ich sie in der Küche werkeln. Ich war in Mutters Sessel eingeschlafen. Auf mir lag eine Wolldecke. Ich warf sie aufs Sofa und erhob mich ächzend. Es roch nach getoastetem Brot und frisch gebrühtem Kaffee. Aus dem Radio tönten Stimmen.

      Die Fremde lugte um die Ecke. »Na? Wieder im Lande? Ich wollte dich nicht wecken, du hast so schön geschlafen. Hast du Hunger? Geh schnell ins Bad, ich bin sicher, du kannst eine Dusche vertragen. Bis du fertig bist, ist das Frühstück auch so weit.«

      »Wie spät ist es?« Ich brachte kaum einen Ton heraus, räusperte mich.

      »Kurz nach acht Uhr. Ein wunderschöner sonniger Tag. Es soll warm werden, 25 Grad. Wir sollten uns mal den Garten ansehen, was meinst du? Der Herbst kommt, und man sollte sich allmählich überlegen, was alles zu tun ist. Hast du Zeit?«

      Ich antwortete nicht. Ich war sprachlos.

      Während wir frühstückten, fragte sie mich über mein Studium aus. »Warum studiert man als Deutscher Deutsch? Ich meine, was hat man davon, später mal? Als was arbeitet man? Willst du Lehrer werden?«

      Ich nahm einen Schluck Kaffee. Dieselbe Diskussion hatte ich nach dem Abitur mit meiner Mutter geführt, ebenfalls beim Frühstück. »Ich möchte als Lektor in einem Verlag tätig sein«, antwortete ich.

      »Was tut ein Lektor?« Sie sah mich über den Tisch interessiert an. Meine Mutter war damals aufgestanden, hatte ihre Tasse und ihren Teller genommen und im Vorbeigehen auf mich hinuntergebellt, dass solche Hirngespinste überhaupt nicht infrage kämen. Ich hätte Lehrer zu werden, Beamter mit Pensionsanspruch und privater Krankenversicherung, Ende der Debatte.

      »Er arbeitet ein Verlagsprogramm aus, sucht passende Schriftsteller, kauft ausländische Bücher ein und lässt sie übersetzen, liest Exposees und Manuskripte, verhandelt mit Autoren und Agenten und so weiter.«

      »Klingt interessant. Ich meine, es geht ja für einen Verlag nicht nur um Literatur, stimmt´s? Es geht ja auch darum, Geld zu verdienen.«

      Ich nickte. »Genau das. Meist wird Letzteres höher priorisiert, je nach Einfluss des Managements. Nur wenige Verlage können oder wollen es sich leisten, Kunst zu produzieren.«

      »Hast du denn schon Erfahrung in einem Verlag gesammelt?«

      »Ich habe zwei Praktika gemacht. Eines noch während der Schulzeit und eines unmittelbar nach dem Abitur. Ich würde gern ein weiteres machen, ein längeres, möglichst im Ausland, aber ...« Ich bremste mich.

      »Aber deine Mutter hat gemeint, du sollst lieber fertig werden mit dem Studium und keine Zeit verschwenden.«

      »Genau«, flüsterte ich.

      »Blödsinn. Was bringt die ganze Theorie, wenn du keine Ahnung hast, wie es in einer Firma zugeht? Ausmalen kann man sich viel. Man muss es erleben!«

      Ich nickte. Meine Mutter hatte meine Pläne Flausen genannt. Als Staatsdiener bräuchte ich kein Praktikum. Staatsdiener. Ich hatte höhnisch gelacht und für meine Unverschämtheit einen ermüdenden Monolog über Undankbarkeit über mich ergehen lassen müssen. Ich lernte daraus und verschwieg, dass ich nicht ‚auf Lehramt‘ studierte, nicht daran dachte, eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen.

      »Na, wir werden sehen.« Entschlossen erhob sie sich, räumte den Tisch ab und verschwand.

      »Übrigens«, rief sie irgendwoher, »bin ich nachher weg. Und du solltest endlich die Wäsche von der Leine nehmen und diese Plastikplane