Francisco J. Jacob

TOD IN DEN KLIPPEN


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der Sonne, immer mehr durchzudringen. Es schien wieder trocken zu werden. Die Ungewissheit, warum diese schwangere Frau tödlich verunglückt war, ließ mir keine Ruhe. Aus irgendeinem Grund zog es mich zurück zu den Klippen. Ich trank den Wein aus, zahlte die Rechnung und verabschiedete mich von Manolo.

      Wenige Minuten später war ich auf der Calle Latál unterwegs, der Straße, welche zum Kiesstrand führt. Als ich auf der rechten Seite die alte Jungenschule sah, die ich als Grundschüler besucht hatte, kamen in mir Erinnerungen an meine Kindheit auf. Damals wurde streng nach Geschlechtern getrennt, sowohl in den Klassen als auch auf dem Pausenhof, der mit einem hohen Maschendrahtzaun die Mädchen von den Jungen trennte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite und kurz vor dem Kiesstrand, kam ich an der alten herrschaftlichen Villa Latál vorbei. Sie war schon damals ein architektonisches Schmuckstück in Ribadés. Vor hundert Jahren auf einer Anhöhe erbaut, bot sie einen weitreichenden Ausblick über den Kiesstrand, auf die Klippen und auf den weiten Atlantik. Das Anwesen war mit einem tadellos gepflegten Rasen sowie hohen winterharten Palmengewächsen bepflanzt. Die große Villa, mit kunstgeschmiedeten Balkonen und hohen Fenstern und einer mittig angeordneten Terrasse demonstrierte Symmetrie und strahlte in pastellfarbenen Tönen Wärme aus. Das Besondere aber war ein angebauter quadratischer Turm, von dem sich eine weit umfassende Aussicht bot, da dieser rundherum verglast war. Wäre Hellen bei mir gewesen, hätte sie hier ein vortreffliches Motiv gefunden, um Fotos zu schießen. Von der Straße führte eine steile Treppe hinunter zum Kiesstrand.

      Das weiche Toben der Wellen und die frische jodhaltige Luft ließen mich auf der obersten Stufe für einen Moment verweilen. Ich zog mir den Hut ins Gesicht und sah über den Strand hinweg auf das Meer. Als mein Blick weiter zu den Klippen schwenkte, bemerkte ich, wie sich etwas Graues fortzubewegen schien. Vor dem ebenso grauen Hintergrund war es nicht deutlich zu erkennen. Schnell zog ich das Fernrohr aus der Tasche und sah, wie ein Mann, mit einem übergestülpten grauen Müllsack, einem ausgebeulten Hut und einer Plastiktasche in der Hand, behäbig in meine Richtung hetzte. War es möglich, dass dieser Mensch etwas mit der gefundenen Leiche zu tun hatte? Ich lief rasch die Treppe hinunter auf den Kiesstrand, nur, als er mich auf sich zueilen sah, bog er ab und verschwand in den Klippen. Ich eilte ihm nach, doch von ihm war keine Spur mehr zu sehen. Er war wie vom Erdboden verschluckt, oder genauer gesagt, von den Klippen verschlungen. An jener Stelle spalteten sich die Felsen grob nach oben, und in den Spalten konnte ich nichts erkennen. Er hätte sich sonstwo verstecken können. Das Gestein war von senkrechten Schlitzen unterschiedlicher Größe durchzogen. Ebenso waren Aushöhlungen, die teils bis unterhalb des Wasserspiegels ragten, zu sehen. Ich kannte es noch sehr gut aus meiner Kindheit. Dieses Gebiet gehörte damals, so wie die prähistorische Höhle und die bewaldeten Schluchten, zu unserer natürlichen Umgebung. Dies war eine Art Abenteuerspielplatz.

      Ich wollte zurückgehen, da überraschten mich drei Gestalten.

      »Was suchen Sie hier?!«, fragte der Wichtigere von ihnen mit finsterer Mine.

      Es war Capitán Sabál von der Guardia Civil, der paramilitärischen Polizei, der mit zwei seiner Untergebenen mir gegenüberstand. Der mittelgroße und untersetzte Hauptmann stand in einer dunkelgrünen Uniform breitbeinig und mit verschränkten Armen vor mir. Mit einem kräftigen Oberlippenbart und einem Tricornio, dem Dreieckshut, strahlte er eine gewisse Bedrohung aus.

      »¡Buenas tardes!«, begrüßte ich ihn.

      »Ich habe Sie was gefragt!«, gab er laut und mit einschüchternder Mimik zurück. Dann stemmte er die Hände in die Hüften.

      Ich kannte ihn und wusste, wie grob er mit Menschen umgehen konnte. Andererseits war er gänzlich kooperativ und folgsam, wenn er von höherer Stelle seine Anweisungen bekam.

      »Ich gehe spazieren«, antwortete ich.

      »Bei dem Wetter hier in den Acantilados?«, brummte er voller misstrauen. »Wollen Sie mich ...?«

      Plötzlich stockte er und sah mich genauer an.

      »Ich kenne Sie doch. Sie sind der deutsche Tourist, der letztes Jahr die Toten in der Höhle gefunden hat.«

      »Sie haben Recht.«

      Ihm schien etwas zu dämmern.

      »Dann haben Sie heute Morgen die Leiche in den Klippen gefunden«, sagte er zu meiner Verwunderung.

      Überrascht sah ich ihn an. Wie konnte er diese Information so schnell bekommen haben? Waren die Policía Nacional und die Guardia Civil so gut vernetzt? Ich wusste von dem Kompetenzgerangel wegen der unterschiedlichen Befugnisse und Aufgaben beider Polizei-Organen.

      »Das stimmt ebenfalls«, sagte ich.

      »Haben Sie wieder Fotos gemacht?«, fragte er grimmig. »So wie letztes Jahr?«

      Ich verneinte die Frage. Schließlich hatte ich bisher nichts Nennenswertes auf den Bildern entdeckt. Mit einem Knurren nahm er es hin.

      »Auf jeden Fall brauchen wir Ihre Aussage«, sagte er und winkte einen seiner Untergebenen zu sich.

      Ein schlanker Polizist fragte mich nach meinem Pass, dann nahm er die Daten auf. Trotz der Tatsache, dass ich bereits bei der Policía National ausgesagt hatte, musste ich vor der Guardia Civil ebenso meine Erlebnisse zu Protokoll geben. Ich kannte dieses doppelte Vorgehen. Anschließend beschrieb ich ihm, wie ich die Tote gefunden hatte. Er schrieb alles sorgsam auf und sagte mir schließlich, ich solle erreichbar bleiben. Capitán Sabál unterhielt sich währenddessen lautstark und mit großer Gestik mit dem anderen Polizisten.

      »¡Estos turistas!« (Diese Touristen!), fluchte er.

      Offenbar hatte er noch immer etwas gegen Reisende.

      Es war bereits dunkel geworden und es regnete erneut, als ich nachdenklich ins Hotel zurückging. Im grellen Licht der Straßenlaternen wurde deutlich, wie der Regen durch den Wind in die Schräglage geweht wurde. Feucht erreichte ich meine Unterkunft. In der Halle begrüßte mich der Concierge aufs Freundlichste, und nach ein paar Worten über das verregnete Novemberwetter ging ich aufs Zimmer, um die Kleidung zu wechseln.

      Ich ging in die Hotelbar, um mich etwas aufzuwärmen. Mit einem behaglichen Wollpullover bekleidet genoss ich den Duft eines Café con leche. Ich klappte mein MacBook auf, das ich mitgenommen hatte, und war auf die Auflösung der Fotos gespannt. Während der Rechner hochfuhr, dachte ich an die Ereignisse des Tages. Es war recht viel für einen Tag gewesen. Unerwartet rief mich Hellen an.

      »Hallo Diego«, meldete sie sich.

      »Hellen, wie geht es dir?«

      »Sehr gut. Ich habe sehr nette Gäste und viele Interessenten. Mittlerweile habe ich vier weitere Fotoaufträge vereinbart«, gab sie hocherfreut von sich.

      »Gratuliere.«

      »Ich vermisse dich«, sagte sie liebevoll.

      »Ich dich auch, aber nur noch bis morgen, dann hole ich dich in Santander ab.«

      »Ich freue mich. Und was machst du? Langweilst du dich ohne mich?«

      Zunächst zögerte ich. Schließlich wollte ich ihr schonend beibringen, dass ich erneut eine Leiche gefunden hatte.

      »Nein, das kann ich nicht sagen«, fing ich langsam an.

      »Und deine Schulfreunde? Hast du sie schon getroffen?«

      »Ja. Mateo hat mich gleich am ersten Tag zu sich nach Hause eingeladen, Ángel bin ich zufällig auf der Straße begegnet und mit Fernando habe ich schon mehrmals gesprochen.«

      »Ich hoffe privat«, sagte sie mit einem leichten Lachen.

      »Zuerst ja, aber dann ...«

      »Diego! Was soll das heißen?«

      »Nun ja, ...«

      »Willst du mir sagen, dass du schon wieder ...«

      »Ich werde es dir erklären. Es war der reinste Zufall. Bei einem Spaziergang zur Ermita ...«

      So erzählte ich