Francisco J. Jacob

TOD IN DEN KLIPPEN


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      »Die Tote ist da oben«, erklärte er und zeigte hinauf.

      »Das ist nicht dein Ernst«, gab sie erstaunt von sich, als sie auf die Klippe sah.

      Nach kurzer Zeit kam sie wieder zurück und schüttelte den Kopf. Der Comisario wartete bereits ungeduldig.

      »Und, was gibt‘s?«

      »Sowas habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, sagte sie. »Der wuchtige Aufprall hat ihr den Kopf und das Gesicht zerschmettert. Genick, Rippen, Arme und Beine sind gebrochen. Und schwanger war sie auch. Ich schätze, im fünften Monat.«

      »Das reicht«, sagte er gedrückt. (...) »Weißt du, wer sie ist?«

      »Nein, wieso?«

      »Sie ist die Tochter von meinem Freund Mateo. Am Samstag wollte die heiraten.«

      »Fernando, das tut mir aber sehr leid«, sagte die Medizinerin und nahm ihn in die Arme.

      »Schon gut, Cata.«

      »Da ist noch was«, bemerkte sie. »Am rechten Zeigefinger hat sie ein Tattoo, einen Rosenkranz. Meinen Bericht bekommst du morgen.«

      Der Comisario nickte, aber mir schien es, als hätte er es nicht zur Kenntnis genommen. Von der sonstigen Aufforderung, die Untersuchung der Leiche so schnell wie möglich durchzuführen, hörte ich nichts. Der Schock saß tief in ihm.

      Mittlerweile kam Iker Bosco vom Felsen heruntergeklettert.

      »Comisario, ausnahmsweise haben Sie Mal Recht« sagte er mit anteilloser Mimik. »Nichts, bist auf ein Stück graue Plastikfolie, das sich in einem kleinen Felsspalt neben der Leiche eingeklemmt hatte. Es könnte ein Stück von einem Müllsack sein. Ach ja. Und ein nasser Zigarrenstummel, der hier unten lag.«

      Der Spurensicherer roch intensiv an dem Stummel.

      »Honigsüß, würde ich sagen. Und wenn ich mich nicht täusche, ist es eine Havanna.«

      »Die ist garantiert angeschwemmt worden. Wie alles hier.«

      »Comisario, die Schlussfolgerungen überlasse ich Ihnen.«

      »Kein Ausweis? Kein Schlüssel?«, fragte er unzufrieden.

      »Nein, nichts dergleichen.«

      »¡Cojones!«, fluchte er. »Wer geht denn schon bloß mit dem Scheißregenmantel auf die Straße und hat sonst nichts dabei?!«

      Der Regen hatte aufgehört. Die Leiche wurde in einem Zinnsarg abtransportiert und der Comisario schüttelte mehrfach den Kopf. Lola fror, als sie unvermittelt mit Aufwärmübungen begann.

      »Señor Lesemann, mir ist kalt. Ich werde jetzt nach Hause laufen«, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen.

      »¡Adíos!«, erwiderte ich und gab ihr die Hand.

      Mit federleichten Schritten schien sie lautlos in ihrer pfirsichfarbenen Sportkleidung über den Kiesstrand hinweg zu schweben. Mein Blick folgte ihr, bis sie hinter einer Klippe verschwand.

      Diese Situation machte mir deutlich, wie kontrovers die Dinge des Lebens sein können: einerseits das blühende Leben Lolas und andererseits der Tod in den Klippen.

      Ich dachte über den Leichenfund nach und konnte mir nicht erklären, weswegen ich erneut in einer solchen Lage war.

      »Warum passiert dir denn immer so‘n Scheiß?!«, fragte mich der Comisario, der unverhofft neben mir stand. »Letztes Jahr der tote Sohn von Alonso, und kaum bist du wieder hier, findest du die Leiche von Mateos Tochter. Jedes Mal wenn du herkommst, findest du irgendeine Leiche von unseren Freunden.«

      Es beschlich mich das Gefühl, dass ich in seinen Augen eine gewisse Schuld an diesen Tragödien hatte.

      »Ich weiß es nicht, Fernando«, gab ich ihm ehrlich zur Antwort. »Glaubst du an Vorsehung?«

      »Was soll denn die blöde Frage?«, gab er verunsichert zurück.

      »Wenn du daran glaubst, dann soll es wohl so sein, und wenn nicht, dann ist es Zufall.«

      Er sah mich verwirrt an.

      »Egal!«, sagte er sauer und ging los. »Ich muss jetzt zu Mateo und ihm die Scheißnachricht bringen, dass seine Tochter tot ist.«

      »Ich verstehe, dass es sehr unangenehm ist. Ich gehe mit dir.«

      »Brauchst du aber nicht!«, sagte er salopp.

      »Fernando, das ist nicht dein Ernst. Mateo und Ana sind ebenso meine Freunde und ich habe dazu noch die Leiche gefunden.«

      »¡Joder! Deswegen ja!«

      »Was soll das heißen?!«, fragte ich mit lauter Stimme und blieb stehen. »Glaubst du ernsthaft, dass ich irgendeine Schuld an dem Unfall habe?«

      »Das hab ich nicht gesagt«, wiegelte er ab.

      »Was soll ich deiner Meinung nach tun?! Soll ich mich etwa aus dieser Situation heraushalten und heimlich Ribadés verlassen?!«

      »Diego, so war‘s nicht gemeint. Du steckst in einer Scheißlage.«

      »Es ist doch wohl so, dass die Situation generell vertrackt ist – für mich und für dich! Und wenn ich weiterdenke, sollte ich Hellen anrufen, damit sie ihren Flug storniert!«

      Dem Comisario wurde es unangenehm. Er spitzte den Mund und dachte nach.

      »Weißt du was?«, sagte er entschlossen. »Wir fahren erstmal in die Sidrería. Lass uns die Sache in Ruhe verdauen, bevor wir zu Mateo und Ana gehen.«

      Wir stiegen in seinen Dienstwagen ein. Es war noch immer der alte Seat, den er fuhr. Beim Anfahren ließ er wie gewohnt die Reifen quietschen, dann rasten wir los. Glücklicherweise kannte ich seinen Fahrstil, sodass ich mir als erstes den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Er benützte lediglich den ersten und den zweiten Gang, wobei er die Kupplung jedes Mal über die Maßen hinaus schleifen ließ. In den Kurven oder beim Abbiegen stützte ich mich vorsorglich ab und hielt mich zusätzlich am Haltegriff fest, in der Hoffnung, dass dieser stabil genug war. In kürzester Zeit und mit einer Vollbremsung standen wir schließlich vor der Sidrería.

      »¡Vámonos!«, sagte der Comisario und rieb sich die Hände. »Ein bisschen Hunger hab ich auch schon.«

      Wie konnte er nach einem solch schrecklichen Vormittag jetzt ans Essen denken, dachte ich mir. Aber das lag sicher daran, dass er es in seinem Beruf so gewohnt war.

      Wir stiegen aus dem Wagen, als eine Stimme hinter mir rief.

      »Diego?«

      Ich drehte mich um und sah Ángel Montés, meinen ehemaligen Schulfreund und Priester der Kleinstadt, in schwarzer Soutane auf mich zukommen. Er war schlank und hatte einen aufrechten Gang, so wie sein Charakter. Er hatte sich nicht verändert.

      »Der hat mir jetzt grade noch gefehlt«, sagte der Comisario und verzog das Gesicht.

      »¡Hola Diego!«, begrüßte er mich freundlich. »Ich habe dich schon erwartet.«

      »¿Hola Ángel, wie geht es dir?«

      »Ich bin zufrieden und glücklich, dich wiederzusehen«, dann umarmte er mich wie einen Bruder. »Wo ist deine Frau?«

      »Hellen ist noch in München. Sie hat mit ihrer Fotoausstellung zu tun, kommt aber morgen nach.«

      »Schön! Ich würde mich nämlich sehr freuen, euch am Samstag vollzählig bei der Trauung zu sehen.«

      Mit großen Augen sah der Comisario zu mir.

      »Ich hab´s doch gewusst!«, donnerte er sogleich los.

      Ángel schaute ihn zweifelnd an.

      »Hab ich etwas Falsches gesagt?«

      »¡Joder, no!«, gab der Comisario zurück. »Du hast uns nur zur falschen Zeit erwischt.«