Katie Volckx

Mailys' Entscheidung


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      Da fiel mir plötzlich ein, dass noch ein paar Karamellbonbons in meiner Nachttischschublade lagen. Ich schlich mich also an Vincent, der inzwischen auf allen Vieren auf dem Boden kroch, da Mailys sich unter dem Bett versteckt hatte, vorbei und fühlte, wie sich meine Kehle zuschnürte. (Wann hatte ich schon mal einen Mann in meinem Schlafzimmer?) Auf den letzten Metern machte ich einen Hechtsprung an die Schublade und grapschte fieberhaft nach einem Bonbon. Ich hockte mich hin, neigte mich so weit es mir möglich war zur Seite, um einen Blick auf die Hündin zu erhaschen, und lockte sie an, indem ich auf ihrer Augenhöhe ein wenig mit dem Papier knisterte.

      Keine fünf Sekunden später und ohne Vorwarnung schoss sie unter dem Bett hervor, schnappte feinfühliger als gedacht nach dem Bonbon und fetzte durch die offene Wohnungstür wieder in den dritten Stock hoch. Vincent sah mich böse an, da er befürchtete, dass Mailys das Bonbonpapier mit herunterschlingen und daran ersticken könnte. Doch offenbar gelangte er zu dem Entschluss, seine Worte nicht an mich zu verschwenden und rannte stattdessen Mailys schreiend hinterher.

      Mein Blut geriet in Wallung. Wutentbrannt stampfte ich zur Wohnungstür und knallte sie mit aller Kraft zu. Ich konnte hören, wie dieses Geräusch durch das ganze Treppenhaus hallte und 007 kurz darauf seine Tür aufriss, um brüllend um Ruhe zu bitten.

      Vincent war mir generell recht ignorant zugewandt. Es machte keinen Unterschied, ob ich ihm ein Lächeln zuwarf oder eine ablehnende Grimasse zog, wenn ich ihm im Treppenhaus begegnete; nach Möglichkeit vermied er ja ohnehin Augenkontakt. Allerdings konnte ich mir bis heute nicht erklären – ja konnte es nicht einmal erahnen –, welches Problem ihn plagte und warum es ihm Anlass gab, mich nicht einmal anständig zu grüßen.

      Vor einigen Monaten hatte ich ein Päckchen für ihn entgegengenommen, als der Zusteller ihn nicht persönlich antreffen konnte. Und als ich es Vincent am Abend mit den Worten: »Stets zu Ihren Diensten« und einem neckischen Augenzwinkern überbracht hatte, hatte er sofort ein miesepetriges Gesicht aufgesetzt. Mit einer naiven Freundlichkeit hatte ich ihn gefragt, was für eine Laus ihm über die Leber gelaufen sei, denn mir war nicht klar gewesen, dass dieses miesepetrige Gesicht mir gegolten hatte. Daraufhin hatte er schonungslos geantwortet er hätte etwas dagegen, wenn ich für ihn Pakete entgegennehmen würde.

      Anfänglich hatte ich gedacht, Vincent wäre einfach nur ein recht verschrobener, unterkühlter Charakter, doch über die Zeit musste ich betrüblicherweise erkennen, dass sich sein unzivilisiertes Verhalten ausschließlich auf mich bezog. Beck hatte mir schon damals verklickern wollen, dass ich mir das nur einbilden würde, immerhin hätte Vincent sich in all den Jahren ihm gegenüber stets angemessen verhalten, waren gar zu Freunden geworden.

      Tja, dazu müsste ich Beck wohl noch einmal meine unbequeme Meinung geigen.

      Auf einmal wurde mein Denkvorgang von einem Geräusch unterbrochen, das ein wenig danach klang, als hätte jemand eine Schranktür geschlossen. Das Geräusch kam aus dem zu vermietenden Zimmer. Ich pirschte mich an die Tür heran, die nur einen winzigen Spalt offen stand. Dennoch erhoffte ich mir einen Einblick. Das war natürlich lächerlich.

      Mein Atem ging schneller, mein Herz ebenfalls. Ich blieb kurz stehen und verhielt mich möglichst still, um nach einem weiteren Geräusch zu lauschen. Ich meinte, leise Bewegungen wahrzunehmen, aber ich konnte mich auch irren, denn meine rote Seidenbluse raschelte bei jedem Atemzug. Ich stellte Überlegungen an, auch, ob ich nicht besser die Beine in die Hände nehmen und flüchten sollte. Aber mit einem Mal überkam mich der tiefe, innere Drang, meine Neugierde befriedigen zu wollen, und wenn es das Letzte war, was ich tun würde. Also ging ich weiter, hielt den Atem an und stieß die Tür mit dem Fuß auf.

      Eine gefühlte Minute am Stück schrie ich. Der Schreck saß tief, wollte und wollte nicht vergehen, obwohl ich zuvor ja das Allerschlimmste erwartet hatte. Ich zitterte am ganzen Leib, meine Knie fühlten sich taub an, musste mich erst einmal irgendwo hinsetzen. Mir wurde ganz übel, deshalb knetete ich meinen Hals.

      Ein Typ, jungenhaft, mittelgroß, brit-poppiger Shag mit einem unordentlichen Seitenscheitel (wenn ich sonst keine Ahnung von solchen Dingen hatte, kannte seit Justin Bieber wohl ausnahmslos jeder diese Frisur), glotzte mich mit großen eisblauen Augen an, als wäre meine Anwesenheit in dieser Wohnung nicht normal. Eigentlich glotzten wir uns gegenseitig an, einer geschockter als der andere.

      Bis ich allmählich wieder zu mir kam und begriff, was hier vor sich ging. Und schlagartig überkam mich die Wut. Vincent hatte Glück: er wurde gerade von diesem wildfremden Typ getoppt!

      Er las mir meine miese Laune von den Augen ab. Und ehe ich das Hühnchen mit ihm rupfen konnte, kam er mir zuvor: »Hallöchen, ich bin Philipp Söderqvest«, stellte er sich vor und versuchte, möglichst beschwingt dabei zu klingen. Er kam zu mir herübergeeilt und begrüßte mich mit weit ausgestrecktem Arm. Es schien, als wolle er mich mit dieser Geste auf Distanz halten. »Machste einen auf Bruce Lee?«

      »Wer zum Teufel sind Sie?«, ließ ich seine freche Bemerkung unberücksichtigt und ging in Förmlichkeit über, obwohl er augenscheinlich jünger war als ich.

      »Sie waren mit dem Hund beschäftigt«, erklärte er hastig. »Hab Sie angesprochen, aber Sie haben mich nicht registriert.«

      Dem Anschein nach hatte mich der Vorfall mit Mailys und Vincent derart aus dem Konzept gebracht, dass ich ganz vergessen hatte, warum ich die Wohnungstür ursprünglich geöffnet hatte.

      »Ach so, und da dachten Sie, Sie könnten derweil in der Wohnung herumschleichen und mir einen Heidenschreck einjagen, statt an der Tür stehenzubleiben, bis ich bei Ihnen bin?«

      Er nickte. »Ja, das war der Plan – Sie zu erschrecken.« Jetzt mutierte er auch noch zu einem spitzzüngigen Komiker.

      »Wir brauchen uns gar nicht weiter zu unterhalten. Ich vermiete das Zimmer nicht an ein männliches Geschöpf.« Ich erhob mich vom Stuhl und bat ihn mit einer Handbewegung, mich zur Wohnungstür zu begleiten.

      Er folgte mir nur widerwillig.

      Ich war im Begriff die Türklinke hinunterzudrücken, als er seine Hand auf meine legte und mich bat, ihm eine Chance zu geben. Ich lachte kurz, hell und ein bisschen schäbig auf. Doch er meinte es wirklich ernst. Sein Blick war durchdringend und flehend zugleich.

      Er war beklagenswert. Das führte immerhin dazu, dass ich meine Grundsätze noch einmal überdachte. Waren diese überhaupt stichhaltig? Es sah zwar nicht danach aus, dass er zurzeit unter einer Kanalbrücke dahinvegetierte, doch er wirkte durchaus wie jemand, der auf dem schnellsten Wege ein neues schützendes Dach über dem Kopf brauchte.

      Was genau sprach eigentlich dagegen, das Zimmer einem Mann zu überlassen? Dass er ein Mann war? Diese Begründung fand selbst ich in diesem Moment etwas dünn. Ja, was sprach schon dagegen, diesem Philipp Söderqvest (sein Name klang verdächtig schwedisch) das Zimmer zu vermieten, wenn mir doch die weiblichen Geschöpfe partout nicht zusagten? Vielleicht konnte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, mit einer Frau in einer Gemeinschaft zu leben, weil ich es leid war, mein Leben mit Frauen zu teilen, nachdem ich es neun lange Jahre im Kloster getan hatte? Vielleicht hatte das Jahr, das ich mit meinem Bruder und dessen Lebensgefährten Hugo verbracht hatte, mich und meine Ansichten mehr verändert als gedacht?

      Er erkannte mein Zögern, wusste das auch sofort für sich zu nutzen, indem er mich mit einer sanften Geste dazu bewegte, zum Sofa hinüberzugehen. »Lassen Sie uns nur kurz darüber sprechen, in Ordnung?« Er lächelte zuckersüß. Auf einmal wirkte er noch viel jungenhafter, so dass ich seine Volljährigkeit allen Ernstes infrage stellen musste. Jedenfalls fühlte ich mich schlagartig steinalt.

      Ich war gespannt, mit welchen Argumenten er mich umstimmen wollte.

      »Also, erst einmal möchte ich mich aufrichtig dafür entschuldigen, dass ich Sie hier so überfalle. Aber nachdem Sie mich am Telefon nur abgefertigt haben, war ich der Auffassung, ein persönlicher Kontakt könnte viel mehr für mich sprechen.«

      Siezte er mich nur der Manieren wegen oder war ich ihm zu reif? Genau das ging mir gerade durch den Kopf, während er sich an Erklärungen versuchte.

      »Ich suche einen Mitbewohner und keinen