Marion Hein

Überlebt


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manchmal mit den italienischen Gewehren auf Kaninchen, wobei ernsthafte mechanische Defekte zutage traten. Öfter blieb dabei der Schlagbolzen, der das Zündhütchen aufschlagen sollte, auf halbem Wege stecken - zum Glück für die Kaninchen. Wahrscheinlich hätte man die Gewehrschlösser mal ölen müssen. Zu allerletzt, aber das habe ich nicht mehr miterlebt, brachte Theo noch von irgendwoher eine Maschinenpistole und die zugehörige Munition mit.

      Theo war Mitte zwanzig und aufgrund einer Verwundung für die Wehrmacht untauglich. Was ihn nicht daran hinderte, ein großer HJ-Führer und fanatischer Nazi zu werden. Wir als seine Untergebenen betrachteten dagegen die ganze Aktion eher als die Fortsetzung eines aufregenden Räuber- und Gendarm-Spiels und nahmen auch seine Durchhalte- und Endsieg-Sprüche nicht allzu ernst. Keiner von den zwanzig Jungen war sich der Tragweite seines Tuns bewusst.

      In den allerletzten Kriegstagen durften wir unsere Waffen mit nach Haus nehmen, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Ich band mir eines Abends eine Panzerfaust an mein Fahrrad und radelte stolz heim, an staunenden Nachbarn vorbei. In der Ferne hörte man schon den Geschützdonner der nahen Front, es konnte sich also nur noch um einen oder zwei Tage handeln, bis die Russen da waren.

      Jetzt hielt mein Vater den Zeitpunkt für gekommen, mir zu erklären, dass unser Unternehmen dumm, wahnsinnig und selbstmörderisch sei. Er meinte, dass eine Million (in Wirklichkeit waren es viel mehr) Rotarmisten in wenigen Tagen das Land besetzen würden, dass die deutschen Verbände auseinander fielen, dass ganze Armeen der Wehrmacht in Gefangenschaft gerieten, dass die Naziführer aus Berlin längst getürmt seien und dass die Hoffnung, die anrückenden Westalliierten würden plötzlich Front gegen die Sowjets machen, jeder Grundlage entbehrte.

      Ich widersprach heftig. Ich wollte wieder zu meinen Kumpels zurück. Weniger aus Vaterlandsliebe als aus Kameradschaft. Ich wurde mit sanftem Zwang im Keller versteckt und später sogar eingeschlossen. Die mitgebrachte Panzerfaust hat mein Vater in der Nacht beseitigt, ich weiß nicht wie. Was er da getan hat, war Wehrkraftzersetzung und darauf stand die Todestrafe!

      Als wir am nächsten Morgen in unserer Straße, direkt vor unserer Haustür, Maschinengewehrfeuer und das Pfeifen von Granaten hörten, hatten wir alle fürchterliche Angst. Meine Begeisterung für einen Waffeneinsatz zur Verteidigung des Reiches gegen die bösen Russen war plötzlich verschwunden. So beschloss ich, nicht ohne schlechtes Gewissen meinen Mitstreitern gegenüber, dem väterlichen Rat zu folgen und daheim zu bleiben.

      Ich erfuhr erst nach Jahren, dass meine Kameraden tatsächlich in Gefechte mit den Russen verwickelt wurden und dass es dabei Tote und Verwundete gegeben hatte. Auch Theo musste seinen Durchhalte-Fanatismus mit dem Leben bezahlen. Die Überlebenden wurden ungeachtet ihrer Jugend vor ein sowjetisches Militärgericht gestellt und zu unmenschlich langen Haftstrafen verurteilt. Sie verbrachten mehr als acht Jahre in verschiedenen Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion und kamen erst im Frühsommer 1953 wieder nach Deutschland zurück.

      Es hat nicht viel gefehlt, dann hätte ich ihr Schicksal teilen müssen. Für diese geschenkten acht Jahre bin ich meinem Vater bis heute dankbar.

      Kapustin 1945

      Mein Vater hatte in seiner Jugend in Russland gelebt. Nicht immer ganz freiwillig, aber das ist eine andere Geschichte. In Russland hatte er natürlich Russisch gelernt und er beherrschte damals diese Sprache wie seine eigene. Als Fünfundzwanzigjähriger kehrte er nach Deutschland zurück. Hier ließ er sich in Finsterwalde nieder, heiratete, wurde Vater zweier Kinder, bewohnte ein schönes Haus mit einem großen Garten und ging fast fünfundzwanzig Jahre lang seinem Beruf nach. Er arbeitete als kaufmännischer Angestellter in einer großen Tuchfabrik. An Russland hatte er in dieser Zeit kaum noch gedacht und sein Russisch verlernte er wieder. In unserer Heimatstadt Finsterwalde gab es keine Russen, mit denen er in ihrer Sprache sprechen hätte können. Das änderte sich erst 1945 wieder, als der zweite Weltkrieg zu Ende ging.

      Meinem Vater war es gelungen, die Volkssturmoberen davon zu überzeugen, dass er sich nicht zum Krieger eignete. Er hatte einige Leiden und Wehwehchen, die ihn kampfuntauglich machten. So saßen wir denn in den allerletzten Kriegstagen ängstlich im Keller unseres Hauses: mein Vater, meine Stiefmutter (Tante Lotte), deren achtzigjährige Mutter, meine Schwester Anneliese und ich. Der Kanonendonner, den man einige Tage lang in der Ferne gehört hatte, kam immer näher. Eines Morgens schlugen dicht bei unserem Haus Granaten ein, dann folgte Maschinengewehrfeuer und immer wieder das Grollen von Sprengungen, wenn die abziehenden deutschen Soldaten Brücken und wichtige Bauwerke in die Luft jagten, um sie nicht dem Feind in die Hände fallen zu lassen.

      Dazu knurrte uns allen der Magen, mir besonders, wie mir schien. Jeder bekam wöchentlich nur eine geringe, genau vorgeschriebene Menge und diese Rationen waren im Laufe des Krieges immer kleiner geworden. Butter, Brot, Milch, Zucker, Mehl und Fleisch waren seit Jahren rationiert. Seit Tagen gab es überhaupt keine Lebensmittel mehr zu kaufen, es sei denn gelegentlich bei umsichtigen Ladenbesitzern, die ihre Vorräte vorschriftswidrig unter die Leute brachten, um sie nicht den anrückenden Russen in die Hände fallen zu lassen. Natürlich hatten wir Vorräte angelegt, aber die durften nicht angegriffen werden, denn wir wussten ja nicht, ob und wie wir in den nächsten Wochen und Monaten versorgt wurden.

      Der Strom war abgeschaltet, weil das Elektrizitätswerk beschossen und getroffen worden war. Das Wasser rieselte nur noch spärlich aus den Wasserhähnen. Wir hatten Angst. Man hatte uns schreckliche Sachen über die anrückenden russischen Soldaten erzählt, vor denen auch die Zivilisten nicht sicher waren. Ich hatte deshalb im Garten hinter unserem Haus eine Grube ausgehoben und mit einem Dach aus dicken Baumstämmen zugedeckt. Dort versteckten wir uns und waren auch besser geschützt, falls das Haus von einer Bombe oder einer Granate getroffen wurde.

      Die Russen hatten offensichtlich die Stadt besetzt. Das Schießen ließ nach und hörte dann ganz auf. Wir sahen keine Soldaten. Deshalb kletterten wir aus unserm Erdloch und gingen wieder zurück ins Haus in den Keller. Es wurde Nacht. Nichts geschah. Dann wurde es wieder Tag - Sonntag, der 22. April 1945. Es war noch früh am Morgen, da hörten wir plötzlich Schritte vor dem Haus. Es wurde geklopft. Erst mäßig, dann immer stärker. Schließlich polterte ein Gewehrkolben mit aller Gewalt gegen die Haustür. Wir waren starr vor Angst. Mein Vater, kreidebleich, stand auf, ging langsam die Kellertreppe hinauf und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein russischer Soldat.

      Irgendwo, ganz hinten in seinem Kopf passierte dann etwas, was er sich nicht erklären konnte. Nach achtundzwanzig Jahren, in denen er meinte, die Sprache vergessen zu haben, konnte er auf einmal wieder Russisch! Er trat dem Rotarmisten entgegen und begrüßte ihn freundlich in dessen Sprache: „Guten Tag mein Herr. Was kann ich für Sie tun?“ Der war ob diese unerwarteten Empfanges erst einmal verblüfft. Dann fing er sich, drückte meinem Vater auf jede Backe einen Kuss und sagte: „Genosse, wir haben gesiegt. Der Krieg ist vorbei!“ Er schob Vater beiseite, drängte ins Haus, setzte sich an unsern Esstisch und verlangte, dass die ganze Familie sich um ihn versammelte. Wir kamen zögernd und ängstlich aus unserm Keller: Tante Lotte, Anneliese, ich, zum Schluss die alte Mutter.

      Kapustin, so oder so ähnlich hieß unser merkwürdiger Gast, holte eine Flasche Schnaps, den er irgendwo erbeutet hatte, aus der einen Hosentasche und eine Handvoll Zwiebeln aus der andern. Tante Lotte musste Gläser bringen. Die wurden randvoll gemacht und wir mussten alle anstoßen auf den sowjetischen Sieg, auf die glorreiche Sowjetunion, auf das Ende des Krieges. Wir mussten Schnaps trinken und Zwiebeln dazu essen, bis wir nicht mehr konnten.

      Es dauerte dann noch ein paar Tage, bis die geschlagenen deutschen Generäle den Waffenstillstand unterzeichneten, aber für uns war der Krieg mit Kapustins Besuch zu Ende. Unser Vater hatte dafür gesorgt, dass wir das Kriegsende gesund und vorerst ohne Schaden überstanden.

      Kapustin ist noch mehrmals wiedergekommen, obwohl es den russischen Soldaten streng verboten war, mit Deutschen zu verkehren. Wahrscheinlich hat es ihm bei uns gefallen. Von ihm haben wohl auch die Männer in der Militärverwaltung erfahren, dass es einen Deutschen gibt, der Russisch spricht. Eines Tages erschienen zwei schwer bewaffnete Uniformierte und holten unsern Vater ohne Angabe von Gründen zur Kommandantura, wo man ihm eröffnete, dass er russischen Offizieren Deutschunterricht erteilen sollte, was er natürlich bereitwillig tat. Anfangs brachte er als Entgelt dunkle Brotlaibe