Marion Hein

Überlebt


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Arbeiten gelernt, wollte aber trotzdem nie Landwirt werden.

      Im Laufe des November 1945 bekam ich die erste Post von meiner Mutter aus Finsterwalde. Sie teilte mir mit, dass mein Vater am 8. November verstorben war. Ich versuchte, nun bald nach Hause zu kommen. Die Angst vor den Verhältnissen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone war immer noch vorhanden. Trotz allem trat ich am 27. November 1945 die Heimreise vom Bahnhof Homberg mit der Bahn über Leipzig nach Finsterwalde an. Die Bahn fuhr damals in diese Richtung nicht sehr häufig. Mit dem Pferdefuhrwerk brachte man mich zum Bahnhof. Bauer Büttner, bei dem ich die ganze Zeit tätig war, gab mir ausreichend Verpflegung für unterwegs und als Geschenk für daheim mit.

      In Finsterwalde bin ich gut angekommen, trotz der Kontrollen durch die Russen an der Grenze zur Zone. Die Freude bei meiner Mutter und den Verwandten war groß. Von dem Mitgebrachten konnten sich alle mal richtig satt essen. Am 1. Dezember 1945 begann meine Lehrzeit als Bau- und Möbeltischler beim Tischlermeister Karl Marx.

      Eigentlich kannte ich meinen Vater nicht

      Irene Hein *1930 Hausfrau

      1936 bis 1946

      Am 1. September 1930 wurden ich und mein Bruder Harry in Doberlug-Kirchhain geboren. Bis zu meinem 6. Lebensjahr wohnten wir in einem für damalige Verhältnisse schönen Zweifamilienhaus im 1. Stock. Mit ungefähr 4 Jahren kam ich gemeinsam mit meinem Zwillingsbruder in den Kindergarten. In Erinnerung ist mir geblieben, dass der Kakao immer angebrannt war, aber er musste getrunken werden.

      1936 wurde ich eingeschult, ein halbes Jahr später zogen wir nach Finsterwalde. Mein Vater war als Postbeamter nach dort versetzt worden. In Finsterwalde ging ich bis 1945 in die Mädchenschule, ein für damalige Verhältnisse modernes Schulgebäude. Meine Klassenlehrerin war erst Fräulein Engelbrecht, in weiteren Schuljahren dann Fräulein Hoffmann. Sie war etwas korpulent und steckte ihre Hände immer zwischen Gürtel und Bauch. Handarbeitslehrerin war Frl. Bartsch. Bei schlechtem Benehmen oder Abgucken wurde man in die Ecke gestellt. Ich war eine gute Schülerin und hatte mit den Lehrern keine Probleme. Trotzdem war der Besuch einer höheren Schule nie ein Thema, da wir uns das nicht leisten konnten. Im letzten Kriegsjahr fiel oft der Unterricht aus, weil viele Lehrer an der Front waren. Der Pausenhof war mit vielen Bäumen bewachsen und sehr schön. Zur Schule gehörte eine große einstöckige Turnhalle, im Obergeschoss sogar mit einer kleinen Bühne. Turngeräte waren reichlich vorhanden. Neben der Turnhalle war ein großer, freier Platz, eingezäunt wie die ganze Schule. Er wurde als 2. Pausenhof genutzt oder für Turnübungen im Freien.

      Mein Vater war seit 1940 in Dresden und später in Aussig (Sudetenland) bei der Post. Ich bin mit meiner Mutter und meinem Bruder in Finsterwalde geblieben und habe meinen Vater kaum gesehen. Er kam nur alle 2 Monate für ein Wochenende nach Hause. Meine einziger Urlaub war 1942 eine Bahnfahrt, um ihn in Aussig zu besuchen. Wir sind an der Elbe entlang gefahren und ich habe es sehr genossen. Mein Bruder durfte im Jahr zuvor diese Fahrt machen. Meine Mutter fuhr während des gesamten Krieges fast täglich etwa 15 km auf den Bauernhof Ihres Bruder in Krausnick. Ihr Bruder war als Soldat früh eingezogen worden und sie fühlte sich verpflichtet, in der Landwirtschaft zu helfen. Wir waren also tagsüber auf uns alleine gestellt. Sie brachte immer was zu essen mit und wenn es belegte Brote waren. Der Vorteil war also ein gute Verpflegung auch während der späteren Kriegswochen. Außerdem ging ich 2 Mal die Woche zu Studienrat Lemke, um im Haushalt zu helfen und mir ein bisschen Taschengeld zu verdienen.

      Ab meinem 9. Lebensjahr war ich bei den Jungmädchen, einer Naziorganisation. Ich bin gerne hingegangen, weil wir schöne Ausflüge gemacht haben und gerne zusammen waren. Ein Bewusstsein über die Folgen des Krieges bekam ich eigentlich erst in den letzten Monaten des Krieges. Es gab häufiger Luftangriffe und über Berlin konnte man nachts die Christbäume (Brandbomben) sehen. Während der Luftangriffe mussten wir in der Schule in Gänge gehen, die sich unter dem Pausenhof befanden. Zu Hause sind wir in den Luftschutzkeller gegangen. Wir hatten immer Angst getroffen zu werden, denn dann wären wir verschüttet worden.

      Mein Vater war noch im Januar 1945 eingezogen worden und befand sich an der Front. Anfang März 1945 feierten wir meine Konfirmation. Die Lebensmittel kamen von der Verwandtschaft aus Krausnick. Meine Mutter hatte ein wunderschönes Kleid für mich genäht. Im März 1945 kamen die Russen. Wir saßen im Keller und hatten ein weißes Tuch zum Fenster rausgehängt, ein Zeichen, dass wir uns ergeben wollten. Es passierte uns nichts. Die Uniform meines Vaters, der bei der SA war, hatten wir vorsorglich schon vorher im Garten vergraben. Im Mai 1945 mussten wir für unbestimmte Zeit unsere Wohnung den Russen überlassen. Wir sind dann 2 Straßen weiter bei einem Stiefbruder meiner Mutter untergekommen. Nach einigen Wochen konnten wir in unserer Wohnung zurück. Die Wohnung war verwüstet, alles war zerstört, nicht nur die Toilette war verschmutzt. Es sah aus, als wäre nach einem wüsten Gelage nichts aufgeräumt worden.

      In dieser Zeit versteckte mich meine Mutter für einige Wochen gemeinsam mit 2 Nachbarsmädchen bei einem Kommunisten. Sie wollte mich vor Vergewaltigungen schützen. Die Kommunisten wurden von den Russen weitestgehend in Ruhe gelassen. Wir saßen in einem Stallgebäude unterm Dach und die Eltern brachten uns heimlich etwas zu essen. Wie wir das durchgehalten haben und wo wir auf die Toilette gegangen sind, weiß ich nicht mehr.

      Viele arbeitsfähige Bürger von Finsterwalde mussten sich jeden Morgen auf dem Marktplatz einfinden und wurden einer Arbeit zugeteilt. Ich fuhr in einem zugigen, offenen Lastwagen einige Orte weiter. Dort mussten wir beim Abbau der Bahnschienen helfen, immer unter Aufsicht der Russen. Die Arbeit war sehr hart und schwer und ich hatte schnell Blasen an den Fußsohlen. Eines Tages wollte ich gemeinsam mit ein paar anderen Mädchen heimlich weglaufen. Wir kamen aber nicht weit, denn es wurde schnell bemerkt. Gemeinsam mit meiner Freundin Gerda konnte ich mich unerkannt wieder unter die Arbeitenden mischen. Alle, die erwischt wurden, wurden bestraft und mussten anschließend noch härter arbeiten.

      Wenige Wochen später wurde ich einer kinderreichen Familie im Nachbarort als Haushaltshilfe und zur Kinderbetreuung zugeteilt. Der Vater war Kommunist, deshalb erhielt die Familie Unterstützung. 6 Monaten lang habe ich mit 5 Kindern gemeinsam in einer Kammer geschlafen. Es war für mich ganz schrecklich, die Unterkunft und das Essen waren sehr einfach. Freie Zeiten gab es nicht. Alle 14 Tage durfte ich am Sonntag einen halben Tag nach Hause, das war jedesmal ein Fußmarsch von 1 Stunde. Einmal hatte ich beim Einkauf die Zuckermarken der Familie verloren und meine Mutter musste unsere Marken für die Leute opfern. Das habe ich bis heute nicht vergessen.

      Mein Vater war nach Kriegsende in russischer Gefangenschaft. Im Frühjahr 1946 kam er nach Hause. Er war für mich ein fremder Mann, da er im Krieg in Aussig und später an der Front war. Im Juni 1946 wurde meine Mutter von einem Auto angefahren und verstarb an den Folgen des Unfalls. Für mich und meinen Bruder brach eine sehr schwere Zeit an. Meine Vater holte eine frühere Arbeitskollegin aus der Tschechei, die ihm den Haushalt führte. Mein Bruder kam mit meinem Vater nicht zurecht und zog zu den Verwandten nach Krausnick. Auch die Haushaltshilfe verließ uns bald wieder. Also musste ich ab jetzt den Haushalt führen. Eigentlich wollte ich Kindergärtnerin werden, aber diesen Wunsch durfte ich nicht äußern, das hat meinen Vater nicht interessiert. Mein Vater durfte nicht mehr bei der Post arbeiten, weil er Beamter gewesen war. Er fand aber eine Stelle bei den Wasserwerken.

      1947 bis 1951

      Zwischenzeitlich hat meine Kusine Ausschau nach einer passenden Frau für meinen Vater gehalten. 1948 kam Gertrud zu uns und es klappte gut mit den beiden, da sie sich aus ihrer Kindheit kannten. Gertrud war Witwe und 1949 heirateten sie. Damit war ich im Haushalt entlastet.

      1947 lernte ich Gerhard, meinen späteren Mann, kennen. Durch ihn kam ich an eine Arbeitsstelle, verdiente das erste Mal eigenes Geld und lernte nebenbei Stenografie und Schreibmaschine. Bis zu meiner Heirat 1952 lebte ich noch bei meinem Vater, fühlte mich aber nicht mehr wohl. Meinem Vater war mein Wohlergehen egal, ich fühlte mich in dieser Zeit bei Gerhard und seiner Mutter heimisch und aufgehoben. Ich habe bis zu meinem Umzug in den Westen 1956 bei der Kreisverwaltung in Finsterwalde im Amt für Jugendhilfe und Heimerziehung gearbeitet.

      Acht geschenkte Jahre

      Hans-Eberhard Weiss *1930 Dr. re r. nat. Physiker

      Finsterwalder