Marion Hein

Überlebt


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Kaserne. Wir wurden morgens um 7.00 Uhr mit Fanfarensignalen geweckt. Alles stürzte in den Waschraum, um noch ein Becken zu bekommen. Wer Pech hatte, musste Anstehen. Das kostete Zeit und ging vom Bettenbauen und Spindherrichten ab. Oft ergab die Überprüfung Mängel und man musste Bettzeug und Wäsche noch einmal sorgfältig aufschichten. Dann ging es zum morgendlichen Appell mit Antreten auf dem Pausenhof und anschließend im Marschschritt zur Kantine, die sich in einem besonderen Gebäude befand. Die erste Zeit bin ich nie satt geworden, da ich zu Hause nicht gelernt hatte, mit Messer und Gabel zu essen. Besonders schlimm war es, wenn ich Tischdienst hatte. Zum Toilettengebäude ging es etwa 50 Meter über den Hof. Das wirkte sich nachteilig für die Schüler aus, die nachts mal raus mussten. Erst über die langen Gänge vom Schlafsaal und dann über den mit Bäumen bestandenen Pausenhof. Vormittags fand der Unterricht nach Lehrplan statt, nach dem Mittagessen wurden die Hausaufgaben erledigt, dann kam die Hitlerjugend zu ihrem Recht. So ging das täglich. Ein besonders Ereignis war für uns ein Besuch in Lagow, der angeblich kleinsten Stadt Deutschlands. Ich kann mich noch an die schöne Landschaft mit dem Städtchen am See erinnern. Hier trafen wir auf den Boxer Leo Pinetzki in Wehrmachtsuniform. Den sportlichen Vergleich pflegten wir mit den Schülern einer NAPOLA. Ich denke, dass die in Meseritz war. Ein Handballspiel gewannen wir damals. Ich war froh als die großen Ferien Ende Juli begannen. So einen Drill und Stress war ich nicht gewöhnt.

      Nach den großen Ferien Ende August 1944 konnten wir nicht mehr ins Kloster zurück, weil es als Militärmagazin gebraucht wurde. Wir wurden dafür zum Schippeinsatz nach Jordan geschickt. Dort mussten wir nach Anweisung von Wehrmachtsoffizieren mit Schaufel und Spaten Lauf- und Panzergräben ausheben. In einer zugigen Bauernscheune, auf Stroh und mit entsprechenden Decken, fanden wir unser Nachtlager. Ich hatte das Pech, einen Schlafplatz in der Nähe der Scheunentür zu bekommen, wo immer ein leichter Windzug zu spüren war. Dadurch und durch die ungewohnten Bewegungen beim Schippen bekam ich schon nach kurzer Zeit einen Hexenschuss. Ich wurde in das einfache Lazarett von Jordan, eine ungenutzte Volksschule, gebracht. Kaum dort bekam ich auch noch eine doppelseitige Mittelohr-Endzündung. Ich konnte nichts mehr hören und man musste sich mit Hilfe von Handzeichen mit mir verständigen. Diese Krankheit hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. Als man mir in dem provisorischen Lazarett nicht mehr helfen konnte, sollte ich mit einem anderen Kranken zur weiteren Behandlung nach Meseritz. Wir wurden beide zum Bahnhof geschickt, um mit dem nächsten Zug zu fahren. Auf dem Bahnsteig war es unheimlich kalt. Der Zug hatte unbestimmte Verspätung, also gingen wir in das Bahnhofsgebäude. Das war ein Fehler, denn als wir wieder nach draußen kamen, waren von unserm Zug nur noch die Schlusslichter zusehen. Also wieder zurück ins Lazarett. Hier bekamen wir einen gehörigen Anschiss. Da wir nichts hörten, konnten wir nur an den Gebärden unserer Vorgesetzten erkennen, dass sie mit uns nicht zufrieden waren. Am nächsten Tag ging ein Aufpasser mit, der dafür sorgte, dass nichts mehr schief lief. Im Lazarett wurden mir beide Ohren mit Rotlicht bestrahlt. Die Verständigung ging anfangs auch hier nur über Gesten und entsprechende Fingerzeige. Nach etwa 14 Tagen lösten sich die Vereiterungen in beiden Ohren. Ich konnte wieder hören. Anfang Oktober bin ich mit der Bahn nach Finsterwalde zurückgefahren. Damit war für mich der Schippeinsatz 1944 beendet.

      Zu Hause lag schon ein Bescheid, dass die Ausbildung an der LBA Paradies vorübergehend in Streckenthin in Pommern weitergehen soll. Im Oktober 1944 fuhren wir mit der Bahn nach Latzig/Thuno. Von hier aus ging es im Fußmarsch zum Schloss Streckenthin. Im Schloss des Ritterguts wurden wir zusammen mit nur noch 2 Jahrgängen mit etwa 120 bis 150 Kameraden untergebracht. Das Schloss und auch das dazugehörige Herrschaftshaus lagen landschaftlich sehr schön an einem See. Das Gut mit den Ställen war etwas abseits. Das Schlossgebäude war eigentlich für eine LBA wenig geeignet. In den Schlafräumen waren Doppel-Stockbetten aufgestellt. Die täglichen Streiche in den schmalen Gängen nahmen kein Ende. Häufig flog der obere Schläfer auf den unteren oder auf den Gang, weil jemand heimlich die Auflagebretter entfernt hatte. Und das alles beim Abendappell. Täter wurden gesucht, aber nie gefunden. Die Toiletten hielten der neuen Belastung nicht stand. Verstopfungen der Rohrleitungen und der Beckenabläufe waren an der Tagesordnung. Sehr bald mussten im nahe liegenden Wald Gruben ausgehoben und sogenannte Donnerbalken eingerichtet werden. In den Monaten November und Dezember keine angenehme Angelegenheit. Der Weg war noch länger als in Paradies. Die Räume für nur noch 4 Klassen waren notdürftig für den Unterricht hergerichtet worden. Da es jetzt auch an Lehrkräften mangelte, konnten nicht mehr alle Fächer unterrichtet werden. Außerdem fehlte Lehrmaterial. An den Hitlerjugend-Übungen hatte sich gegenüber Paradies nichts geändert. Die Versorgung mit Lebensmitteln erfolgte aus dem in der Nähe liegenden Gut des Schloss Streckenthin.

      Kurz vor Weihnachten 1944 fuhr ich mit der Bahn heim nach Finsterwalde. In Stettin konnte ich noch weiße Finnland-Ski ergattern. Das war sozusagen mein Weihnachtsgeschenk. So konnte ich das letzte Mal vor Kriegsende Weihnachten zu Hause bei meinen Eltern verbringen. Dabei war es mir das erste Mal in meinem Leben möglich mit eigenen primitiven Brettern Ski zu fahren.

      Wegen Fahnenflucht erhängt 1945

      Am 5. Januar 1945 ging es wieder mit der Bahn und zu Fuß nach Streckenthin. Die Bahn fuhr noch einigermaßen regelmäßig. Im Januar und Februar hatten wir noch Unterricht und den üblichen Hitlerjugend-Drill. Am 31. Januar bekamen wir sogar noch ein Zeugnis für das 1. Halbjahr 44/45.

      Jeden Abend wurden die Wehrmachtsberichte über den Verlauf der Kämpfe und die Lage der Frontlinie von einem Schüler im Gemeinschaftsraum verlesen. Ende Februar erreichte die russische Armee die Oder. Am 1 März 1945 teilte uns der Direktor in einer Versammlung mit, dass die gesamte Schule die Flucht antreten muss, um nicht vom Rückweg abgeschnitten zu werden.Zunächst ging es zu Fuß in Richtung Bahnhof Latzig/Thuno. Die Hoffnung auf einen Zug mussten wir aufgeben. Hier trennte ich mich schweren Herzens von einem Holzkoffer, den mein Vater angefertigt hatte. Er war mir einfach zu schwer geworden. Wichtige Sachen wie Zeugnisse, Ausweis, Decke, Zeltplane und etwas zu essen kamen in den mitgeführten Tornister. Wir kamen am 3. März zu Fuß in Kolberg an. Ich sah um die Stadt herum Schützengräben mit wenigen Soldaten. Hier einen Platz auf einem Schiff zu ergattern war ebenso aussichtslos wie das Fortkommen mit der Bahn. Was blieb uns weiter übrig, als den Fußmarsch in Kolonne fortzusetzen. Kolberg wurde am 18.03.1945 von den Russen eingenommen.

      Von Kolberg ging es zunächst nach Treptow in eine Lehrerbildungsanstalt. Es gab ein letztes gemeinsames warmes Essen. Beim Essen teilte uns der Direktor mit, dass es keinen Sinn mehr mache, geschlossen weiter zu marschieren. Jeder sollte sich alleine durchschlagen. Nächster Treffpunkt war eine Pension im Kurbad Bansin auf Usedom. Mit einem Kameraden machte ich mich auf den Weg in Richtung Westen. Auf dem Bahnhof Treptow stand ein Eisenbahnzug mit Verwundeten, der nicht weiterfahren konnte. Wir konnten noch sehen, wie hinter uns der Kirchturm zerschossen wurde. Unterwegs hatten wir das große Glück, dass uns ein Tanklaster ein großes Stück mitnahm. Krankenschwestern vom Verwundetenzug rannten um ihr Leben und kamen mit uns. Wir fuhren vorbei an einem endlosen Treck flüchtender Menschen mit Pferdefuhrwerken, Handwagen, auf Fahrrädern und zu Fuß. Später mussten wir von unserm Laster absteigen und zu Fuß oder mit requirierten Fahrrädern weiterkommen. In einem verlassenen Bauernhof konnte ich meinen Proviantvorrat durch einen geräucherten Schinken aufbessern, was mir später noch sehr helfen sollte. In einer Kleinstadt sahen wir zwei aufgehängte Wehrmachtsangehörige. Sie hatten ein Schild um den Hals hängen mit der Aufschrift Wegen Fahnenflucht erhängt.

      Über Wollin und Swinemünde kamen wir am 6. März 1945 in Bansin in der Pension an, die als Treffpunkt ausgemacht war. Hier waren schon einige von unsern Mitschülern eingetroffen. Andere habe ich nie mehr wieder gesehen. Es gab nur sparsame Verpflegung. Mein Schinken half mir übers Gröbste hinweg. Es war klar, dass wir weiter mussten. Schon vor dem großen Bombenangriff auf Swinemünde am Mittag des 12. März wurden wir in einem Güterwaggon über Umwege nach Celle bei Hannover verfrachtet. Die Fahrt hat mindestens 2 Tage gedauert. In Celle angekommen gingen wir zur dortigen LBA. Hier wurden wir auf Privatquartiere verteilt. Mit meinem Kameraden wurde uns ein Zimmer im Dachstock eines mehrgeschossigen Wohnhauses in der Nähe vom Bahnhof zugewiesen. Ordentlicher Unterricht fand nicht mehr statt. Verpflegung gab es in der Anstalt. Reguläre Schüler dieser Anstalt haben wir nicht mehr kennengelernt. Die waren wohl schon beurlaubt als wir ankamen.

      Am 8. April 1945 in der Mittagszeit ertönten die Sirenen. Wir gingen sofort in den Luftschutzkeller