Marion Hein

Überlebt


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auf den Bahnhof und die schöne Altstadt fielen. Es gab mächtige Erschütterungen. Alle hofften, hier wieder lebendig herauszukommen. Nach kurzer Zeit kamen 2 Häftlinge in blau gestreifter Kleidung zu uns in den Keller, wenig später ein Angehöriger der SS-Wachmannschaft. Er verprügelte die beiden mit seinem Gewehrkolben und alle sahen sprachlos zu. Das war für mich ein Erlebnis, das ich nie vergessen habe. Später erfuhren wir, dass es Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme waren, die zum KZ Bergen-Belsen gebracht werden sollten. Der Zug stand auf einem Abstellgleis des Güterbahnhofs. Zu allem Überfluss standen auch noch Züge mit Munition und Verwundeten im Bahnhof. Man kann sich vorstellen, was da los war. Von den 4000 KZ-Häftlingen sollen nur etwa 400 überlebt haben. Nach dem Angriff stellten wir fest, dass unser Wohnhaus noch stand, aber auf meinem Kopfkissen lag ein zentnerschwerer Stein. Mein Leben wäre da sicher zu Ende gewesen. So schnell wie möglich verließ ich mit meinem Kameraden Celle. Wir wollten auf jeden Fall nach Hause.

      Wir machten uns zunächst zu Fuß auf den Weg in Richtung Potsdam. Die Straßen waren in allen Richtungen voll von Flüchtlingen. Als wir noch nicht richtig von Celle weg waren, kamen Jagdbomber und beschossen die Straße. Vor lauter Angst schmissen wir uns sofort in den Straßengraben. Der Angriff dauerte Gott sei Dank nicht lange. Tote und Verwundete haben wir nicht gesehen. Am 10. April kamen wir in Potsdam an. Unser Weg führte uns natürlich in die dortige LBA. Da fand tatsächlich noch Unterricht statt. Hier mussten wir beide berichten, wo wir herkamen und was uns so alles widerfahren war. Der Aufenthalt war nur kurz, wir wollten einfach heim. Unsere Wege trennten sich nun. Ich zog weiter in Richtung Finsterwalde, mein Kamerad wollte nach Frankfurt/Oder.

      Ich hatte das große Glück, von einem Wehrmachtslastwagen mitgenommen zu werden. In Torgau war unsere Fahrt zu Ende. Hier hörte ich, dass die Russen Finsterwalde schon eingenommen hätten. Ich wollte keinesfalls den Russen in die Hände fallen. So entschloss ich mich, in Richtung Gera zu marschieren. Da wohnte eine Schwester meiner Mutter. Zwischen Elbe und Mulde war damals ein militärisch freier Raum und ich kam ohne Schwierigkeiten bis an die Mulde. Auf der Westseite waren zu der Zeit schon die Amerikaner. Südlich von Wurzen wollte ich dann über die Mulde. Die Amerikaner müssen mich auf der anderen Seite beobachtet haben. Ich wurde gleich in Empfang genommen. Mein Tornister wurde sofort auseinander genommen. Die Uhr wurde mir abgenommen, obwohl die meisten schon den Arm voller Uhren hatten. Die dreieckigen Zeltplanen und eine Decke durfte ich behalten.

      Jetzt ging es über verschiedene amerikanische Armeestellen in privaten Wohnhäusern in Richtung Westen. Hierbei stand ich unter dauernder Bewachung eines Soldaten. Hin und wieder bekam ich die typische amerikanische Militärverpflegung in Büchsen. An einer Stelle musste ich eine Grube für Abfall ausheben. Von einer Sammelstelle aus kam ich zusammen mit anderen Gefangenen in ein großes Gefangenenlager bei Bad Hersfeld. Die Fahrer der LKWs waren Farbige, die wie verrückt fuhren. Wir hatten immer Angst, dass der Wagen umkippte. Es wurde, je nachdem wie die Kurve war, immer geschrien: „Nach rechts legen, nach links legen!“

      In dem Gefangenenlager waren tausende von Männern versammelt. Die meisten waren Wehrmachtsangehörige, aber auch Jungen mit der Einkaufstasche landeten hier. Gegen Ende April 1945 wurden alle mit der Bahn von Bad Hersfeld nach Bad Kreuznach transportiert. Vom Bahnhof Bad Kreuznach mussten wir durch die Stadt mit amerikanischen Wachleuten links und rechts der Kolonne zum Lager Bretzenheim marschieren. Von weitem sah man schon die Toten, die wie Sandsäcke aufgestapelt am Eingang lagen. Wenn es zu langsam voran ging, riefen die Amerikaner: „Come on, boys, Come on boys!“ Ich höre sie noch heute manchmal schreien. Das Gefangenenlager bestand aus mit Doppelzäunen umgebenen Ackerflächen unter freiem Himmel. Die Äcker waren zum Teil noch mit Gründüngung bestellt oder auch gepflügt. Das ganze Lager hatte vielleicht 20 Camps. Es waren auch Frauencamps darunter. Der gesamte Transport eines Zuges wurde in einem neuen Camp untergebracht. Hier bekamen wir die typische amerikanische Wehrmachtsverpflegung, jeder einen Karton mit Büchsen, Schokolade, Zigaretten und vieles mehr. In den folgenden Tagen wurden alle Gefangenen auf SS-Zugehörigkeit, ein eingebranntes Zeichen unter dem rechten Arm, untersucht. Danach erfolgte eine Aussortierung.

      Das Schlimmste war das Campieren unter freien Himmel. Wenn es regnete, war das Lager eine Schlammwüste, alles klebte an den Füßen. Schlimmes spielte sich um die hastig ausgeschaufelten offenen Gruben zur Verrichtung der Notdurft ab. Fast jeden Tag mussten Tote aus den mit Fäkalien gefüllten Löchern geholt werden. Später wurden Holzkästen drüber gestellt, so dass keiner mehr hineinfallen konnte. Andere starben in ihren mit der Hand ausgebuddelten Erdhöhlen. Ich hatte das große Glück, noch die dreieckigen Zeltplanen und eine Decke zu besitzen. Die Suche nach ähnlichen Planen war erfolgreich. Mit zwei anderen Lagerinsassen, für mich völlig fremden Menschen, konnten wir jetzt ein Zelt bauen. Ein Stock wurde noch irgendwie organisiert. Jetzt waren wir wenigstens etwas geschützt und konnten nachts einigermaßen schlafen. Hier lernte ich erstmals Kleiderläuse kennen. Sie setzten sich besonders in Stricksachen fest, Jucken und Striemen auf der Haut waren die Folge. Man war den ganzen Tag mit Knacken beschäftigt. Eines schönen, trockenen Tages mussten wir uns alles ausziehen und auf die Erde legen. Anschließend wurden unsere Körper und die gesamte Kleidung mit einem weißen, staubförmigen Pulver eingenebelt. Wir sahen aus wie Mehlmänner.

      Ende Juni 1945 übernahmen die Franzosen das Lager. Die Verpflegung wurde wesentlich schlechter, z.B. erhielten 20 Mann ein Vierpfund-Brot. Die Aufteilung mit einer gebastelten Waage führte zu unvorstellbaren Streitigkeiten. Außerdem fand jetzt auch eine weitere Selektierung der Insassen in den einzelnen Camps statt. Die über 16jährigen kamen nach Frankreich oder auch nach Belgien zur Zwangsarbeit in Kohlengruben oder in die Landwirtschaft.

      Am 25. Juli 1945 wurde ich als 15jähriger entlassen. Nach Aushändigung des Entlassungsscheins konnte ich zu Fuß das Lager verlassen. Mit einem Kameraden machte ich mich auf den Weg. Mit dem Entlassungsschein konnte man alle Verkehrsmittel frei benutzen. Transporte in die damalige sowjetische Besatzungszone waren allerdings nicht möglich. Als wir aus dem Lager kamen, wurden wir von der Bevölkerung herzlich empfangen. Ich weiß noch, dass wir zu essen bekamen und jede Menge Wein direkt vom Fass. Das war unser Untergang. Völlig betrunken haben wir die erste Nacht im Straßengraben zugebracht. Wir sahen, wie deutsche Kriegsgefangene aus Norwegen in Marschkolonne auf der Straße vorbeigeführt und in das Gefangenenlager gebracht wurden. Die Wehrmachtsangehörigen schrien immerzu den am Straßenrand stehenden Frauen zu: „Poussiert ihr auch mit Negern?“ Wie wir später erfuhren, wurden die meisten von ihnen zu Zwangsarbeiten nach Belgien und Frankreich gebracht.

      Vom Bahnhof Bretzenheim fuhren mein Kamerad und ich am 27. Juli 1945 mit der Bahn zunächst nach Frankfurt/Main. Da wir beide aus der besetzten Sowjetzone stammten, versuchten wir einen Zug nach Leipzig zu bekommen. Das war aber nicht möglich. Wir kamen nur bis Homberg in Hessen. Hier standen junge Mädchen am Bahnhof, die uns baten, ihnen bei der Ernte zu helfen. So kamen wir nach Appenrod. Zunächst war ich beim Bauer Leihmeister, später dann aber bei Bauer Büttner. Deren Söhne waren noch nicht heimgekehrt oder im Krieg gefallen.

      Hier lernte ich erstmals das Leben und Arbeiten auf einem Bauernhof kennen. Als erstes kam die Getreideernte. Da wurden auf den Feldern sogenannte Puppen, bestehend aus 8-10 Garben, aufgestellt. Wegen ungünstigen Wetters verzögerte sich die Abfuhr zum Bansen in der Scheune. Manche Ähren waren schon grün geworden und schlugen aus. Dann kam Grummet-Ernte. Mit Gabeln wurde das Heu auf Leiterwagen aufgeladen. Anschließend musste mit großen Rechen die Wiese geharkt werden. Es durfte nichts liegen bleiben. Dann ging es auf den Rübenacker. Die schwarzen Hände waren über Wochen nicht mehr sauber zu kriegen. In den Monaten Oktober/November wurden die in der Scheune liegenden Garben gedroschen. Hierzu wurde die von einer Dampfmaschine angetriebene Dreschmaschine von Bauernhof zu Bauernhof gefahren. Für das Dreschen wurden die Garben von Hand in Etappen zur Dreschmaschine befördert und eingegeben. Die angehängten Säcke an der Dreschmaschine, die jetzt voll mit Getreide waren, mussten auf den Boden des Wohnhauses getragen werden. Das war Schwerstarbeit. Das anfallende Stroh wurde zu Ballen gepresst und in der Scheune gestapelt. Bei dieser Drescharbeit gab es eine unheimliche Staubentwicklung. Für das Dreschen waren bis zu 25 Leute nötig, wobei sich die Bauern gegenseitig halfen. Beim Bauern Büttner war ich während der gesamten Zeit von September bis zu meiner Rückkehr Ende November nach Finsterwalde neben der Hilfe bei der Ernte für die Betreuung seiner etwa 15 Kühe und mehrerer Stück Jungvieh zuständig. Hierzu gehörten das Misten,