Einmarsch der Roten Armee mussten alle Rundfunkgeräte abgeliefert werden. Die Radiobastelei wurde eingestellt, das obere Stockwerk unseres Hauses, in dem ich mein Quartier hatte, wurde vorübergehend mit befreiten Ostarbeitern belegt. Aber das Interesse an der Radiotechnik blieb wach und half später sogar eine Zeitlang beim Aufbessern unserer kärglichen Lebensmittelrationen.
Acht geschenkte Jahre 1945
Es war das Frühjahr 1945, der Krieg näherte sich seinem Ende. Die Russen standen an der Oder, die Amerikaner und ihre Verbündeten hatten den Rhein überschritten, der Krieg aus der Luft hatte ein unvorstellbares Ausmaß angenommen. Keine größere Stadt war von Bombenangriffen verschont geblieben. Die Zentren der Großstädte waren schon weitgehend zerstört.
Dabei hatte 1939 alles so glorreich angefangen. Deutsche Truppen hatten die überraschten Polen in weniger als drei Wochen überrannt, Frankreich wurde in nicht einmal zwei Monate besiegt und dabei waren Holland, Belgien und Luxemburg gleich mit eingenommen worden. Mit Dänemark und Norwegen wurde kurzer Prozess gemacht, auf dem Balkan und in Griechenland standen deutsche Truppen und die Panzerarmeen des Generalfeldmarschalls Rommel jagten die Engländer durch den nordafrikanischen Wüstensand. Siege allenthalben. Hermann Göring, der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, erklärte, er wolle Meier heißen, wenn auch nur ein feindliches Flugzeug in den deutschen Luftraum eindringen sollte. Er schickte dafür seine Bomber nach Holland und England, um Rotterdam und Coventry auszuradieren, wobei Tausende Zivilisten ums Leben kamen.
Doch als die größenwahnsinnigen deutschen Führer 1941 auch noch Russland überfielen und den fernen Vereinigten Staaten den Krieg erklärten, wendete sich das Blatt. Göring wünschte, er hätte sein großmäuliges Versprechen nie gegeben. Denn jetzt nahmen die Alliierten blutige Rache für Coventry. Ihre Bombergeschwader luden Tonnen um Tonnen ihrer tödlichen Fracht auf deutsche Städte ab. Zunächst nur bei Nacht und deshalb galt in Deutschland ein striktes Verdunkelungsgebot. Alle Fenster mussten lichtdichte Läden oder Jalousien haben. Die Straßenlampen wurden gelöscht. Die Autos bekamen schwarze Hauben mit schmalen Schlitzen über die Scheinwerfer gestülpt, durch die nur ein schwacher Lichtschimmer auf die Fahrbahn fiel. Sehr populär wurden Leuchtplaketten zum Anstecken, die ein ganz schwaches Licht verbreiteten und vor unbeabsichtigtem Anrempeln auf den unbeleuchteten Straßen einigermaßen schützten.
Die alliierten Bomber fanden ihren Weg auch ohne Lichter vom Boden mit Hilfe von Funk- und Radar-Signalen. Die deutsche Luftabwehr versuchte sich ihrer mit Jagdflugzeugen und Flugabwehrkanonen zu erwehren. Doch die Übermacht war zu groß. Ab 1944 gab es kaum noch Jagdflugzeuge, und die Flak-Geschütze konnten nicht mehr viel ausrichten. Sie wurden von sechzehn- bis siebzehnjährigen Jungen bedient, weil die erfahrenen Kanoniere an der Front gebraucht wurden.
Es gab ein ausgeklügeltes Warnsystem, dem man folgen musste, um vor den Bomben einigermaßen geschützt zu sein. Zunächst kamen über Drahtfunk Luftlageberichte. Eine monotone Stimme verkündete im Radio, dass zum Beispiel feindliche Verbände im Anflug auf Berlin seien. Nach einer Weile gab es Voralarm, drei lang gezogene Sirenentöne. Wenn das während der Schulzeit passierte, wurde der Unterricht abgebrochen und wir mussten nach Hause rennen. In den Fabriken liefen nur noch die wichtigsten Maschinen, die Menschen flüchteten von den Straßen in die Häuser. Beim Hauptalarm, ein an- und abschwellendes Sirenengeheul, mussten die Schutzräume aufgesucht werden, die in jedem Haus eingerichtet waren. Wenn die Gefahr vorüber war, gab es Entwarnung, drei Minuten lang ein hoher Sirenenton.
Finsterwalde ist bis zum Frühjahr 1945 nie aus der Luft angegriffen worden, aber es gab oft Alarm. Manchmal waren wir neugierig und wagten uns trotz strenger Verbote an die Fenster oder sogar ins Freie. Ich habe die Bomber in den letzten Kriegsmonaten oft gesehen, wie sie in großer Höhe über unsere Stadt flogen, um eine chemische Fabrik im Süden von Finsterwalde zu bombardieren, in der aus Braunkohle Flugbenzin gemacht wurde. In den letzten Kriegswochen griffen tagsüber allerdings nicht nur Bomber die deutschen Städte an, sondern auch schnelle, tieffliegende, einsitzige Kampfflugzeuge. Sie kamen wie der Blitz vom Himmel, schossen auf alles, was sich auf Straßen und Feldern bewegte und donnerten wieder davon.
Im März 1945, kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, standen meine Schwester Anneliese und ich an einem Sonntagmorgen im Garten vor unserem Haus. Plötzlich hörten wir weit in der Ferne Maschinengewehrfeuer. Es kam von Norden, und wir suchten verwundert nach der Ursache, als ein winziges silberglänzendes Ding am fernen Himmel auftauchte. Anneliese rief: „Tiefflieger!“ und riss mich um die Hausecke. Das Ding war wenige Sekunden später schon bei uns und raste in etwa fünfzig Meter Höhe über unser Hausdach. Auf der Wiese, auf der wir gestanden hatten, sprang eine Erdfontäne hoch, dann hörte man nur noch das leiser werdende Geräusch des Fliegers. Im hölzernen Rahmen eines Fensters im ersten Stock unseres Hauses fanden wir später einen Metallsplitter, der stammte von der kleinen Granate, die aus der Bordkanone des Tieffliegers auf uns abgeschossen worden war.
Am 19. April, wenige Tage vor dem Einmarsch der Russen in Finsterwalde, gab es noch einmal Luftalarm. Ich erinnere mich noch genau an den sonnigen Frühlingstag. Bäume und Büsche blühten, die Vögel zwitscherten friedlich. Es war um die Mittagszeit, als meine Schwester und mich Motorengeräusche aus dem Haus lockten. Es kam aus nördlicher Richtung. Und dann sahen wir sie: zehn, zwanzig, fünfzig, vielleicht noch mehr silberne Flugzeuge, die in penibler Ordnung, ohne von Flak oder Jägern gestört zu werden, in großer Höhe über unsere Stadt flogen.
Sie flogen Richtung Südsüdwest, also nicht wie sonst zur Brabag (Braunkohle-Benzin-AG ). Das monotone Geräusch ihrer Motoren wurde immer stärker. Bis plötzlich in der Nähe Bomben einschlugen. Wie sich später herausstellte, riss eine einen gewaltigen Trichter in das Straßenpflaster. Eine Bombe explodierte unterhalb der Gleisböschung und richtete Dach- und Fensterschäden an. Ein Treffer zerstörte das Wohnhaus eines Malermeisters und tötete eine Umsiedlerin. Es blieb bei ein paar Krachern. Offenbar handelte es sich bei diesem Bombardement um einen Irrtum. Gemeint waren Bahnhof und Bahnanlagen im 20 km entfernten Elsterwerda, aber ein eifriger Bombenschütze hatte wohl, als er den Bahnhof von Finsterwalde unter sich sah, ein bisschen zu früh auf den Auslöseknopf gedrückt. Ich habe in Elsterwerda mit Leuten gesprochen, die sich noch nach über fünfzig Jahren mit Schaudern an diesen 19. April erinnern.
1945 ging der Krieg zu Ende, der ganz Europa ins Unglück gestürzt hatte. Die damaligen Führer Deutschlands hatten ihr Volk mit einer teuflischen Propaganda, mit Versprechungen und Drohungen dazu gebracht, gegen die halbe Welt zu Felde zu ziehen. Anfangs recht erfolgreich, aber als der Krieg dann in sein sechstes Jahr ging, standen die Armeen der Alliierten an der Oder und am Rhein. Das Ende war vorgezeichnet. Trotzdem trieben die Regierung und ihre verantwortungslosen Parteigänger die Bevölkerung in einen letzten verzweifelten Widerstand.
Ich war damals gerade fünfzehn Jahre alt geworden und gehörte, wie alle meine Altersgenossen, der Hitlerjugend an. Ende März 1945 wurde auch in Finsterwalde eine kleine Gruppe Hitlerjungen dazu abkommandiert, die Verteidigung des Reiches gegen die anrückenden Feinde und letztlich wohl auch eine Art Partisanenkrieg nach der Besetzung, vorzubereiten. Zu den Auserwählten in unserer Stadt gehörten außer mir noch etwa 20 Jungen im Alter von 14 bis 16 Jahren, worauf ich zu Anfang sogar noch stolz war. Diese Aktion lief allgemein unter der Bezeichnung Werwolf. Mein Vater sah unserem Treiben deutlich missbilligend aber vorerst schweigend zu.
Dieses Treiben bestand darin, dass wir uns nach Schulschluss mit unseren Fahrrädern in einem Waldstück etwa 6 km westlich von Finsterwalde trafen. Später, als die Schule sowieso geschlossen war (etwa ab dem 11. April) trafen wir uns ganztägig, um dort einen Bunker zu bauen, ein Erdloch, vielleicht 4 x 8 Meter groß und 2 m tief, das mit Baumstämmen und Dachpappe überdeckt und mit Waldboden getarnt wurde. Im Loch wurden aus Brettern Schlafgelegenheiten eingerichtet und Essensvorräte angelegt.
Unsere Bewaffnung war, angesichts der uns gestellten Aufgabe, eher dürftig. Unser Führer Theo besaß zwei Pistolen, Kaliber 7.65 und 6.35. Außerdem hatten wir einige ausgediente italienische Gewehre mit etwa 100 Schuss Munition, einige Handgranaten und ein paar Panzerfäuste. Ab und zu ballerte Theo nach Wildwestmanier mit dem einen oder anderen seiner beiden Schießeisen durch die Gegend. „Um zu üben“, sagte er. Er ließ uns aber nicht an sein Spielzeug, dazu sei die Munition zu knapp. Das Abdrücken