Stefan G. Rohr

Das geliehene Glück des Samuel Goldman


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und verfüge nur über mäßig ausgeprägte Phantasie. Mitnichten war dem so. Auch versteckte er keine schmutzigen Bildchen unter seiner Matratze, jedenfalls nicht für besorgniserregend lange Zeit. Er war auch auf keine andere Weise sonderbar oder skurril. Genau betrachtet war er sogar das ganze Gegenteil. Mit seinen fast 1,90 Metern, und einer von der Natur ihm mitgegebenen athletischen Figur, hätte er nicht nur einen idealen Sportler abgeben können, er wirkte so auch äußerst dynamisch.

      Er war mehr als nur nett anzuschauen, hatte schöne, leicht gewellte braune Haare und erfreute sich des Gesichtes eines altgriechischen Kriegers. Seine Nase war schmal und gerade, vielleicht nur ein ganz klein wenig zu lang. Doch sie passte zu ihm, und war wahrscheinlich einer der entscheidenden Faktoren, dass ihn sowohl Männer als auch Frauen spontan als sympathisch empfanden. Seine Ruhe und vollkommene Eitellosigkeit ließen es für Fremde so erscheinen, als stünde er besonnen über den Dingen, stets mit einer gewissen Anmutung von angenehmer Ausgeglichenheit und wohltuender Souveränität. Aber er war sich seiner Wirkung lange Zeit alles andere als bewusst, und das Spielen mit Eigenschaften war in seinem Wesen einfach nicht verankert. Überhaupt nahm er sich ohnehin nicht besonders wichtig, es mangelte ihm einfach vollkommen an überzogener Selbstdarstellung oder gar narzisstischen Attitüden. Und er empfand es eher belustigend, derlei Verhalten bei anderen zu beobachten. Bei solchen zum Beispiel, die sich bereits mit Eintritt in die Grundschule für den Beruf des Nobelpreisträgers entschieden hatten, und deren Eltern deshalb vorsorglich schon einmal die Visitenkarten drucken ließen.

      Sam war einfach mit seinem Leben, so wie es für ihn lief, völlig zufrieden. Er verspürte nie den Drang Änderungen erzwingen zu müssen, hatte keine ausufernden Karriereziele und dachte bisher nicht im Traum daran, eine Familie zu gründen. Seine Beziehungen verliefen deshalb auch nicht so, wie es den jeweiligen Damen vorschwebte. Immer, wenn eine bestimmte Zeit des Zusammenseins vergangen war, wurde er mit ihren Zukunftsplänen konfrontiert, die ihm nicht recht geeignet schienen, seine aktuell empfundene Komfortzone im Tausch für diese aufzugeben. Zudem war seiner Ansicht nach das Artenspektrum und die Population potenziell geeigneter Aspirantinnen von ihm noch lange nicht ausreichend genug erforscht. In einem Land mit immerhin über 325 Millionen Einwohnern, von denen die Hälfte das passende Geschlecht aufwies, wollte er sich nicht voreilig festlegen. Seinen weiblichen Pendants gingen dann irgendwann die Lichter auf, und sie erkannten, dass Samuel Goldman wohl nicht der Richtige sein würde. Sie entschieden sich deshalb mehrheitlich, sich nach einem geeigneteren Anwärter für Familiengründung und Lebensgestaltung umzusehen, was in der Regel auch von Erfolg gekrönt war. Sam hatte nichts dagegen einzuwenden. So richtig verliebt war er zuletzt in der achten Klasse seiner High-School, was im Übrigen für ihn ohne nachhaltige Schäden blieb.

      Auch beruflich hielt es Sam eher mit einer ausgeglichenen Gelassenheit. Eine Bank sei schließlich keine Gladiatoren-Arena, auch wenn es Kunden gab, die das anders sahen. Er war der Auffassung, nichts überstürzen zu müssen, denn mit der Zeit richtet sich alles in gewünschter Weise und Dimension. Und so kam es dann auch – wieder fast automatisch bei ihm – dass er Leiter einer kleinen Filiale der Public Bank of South Carolina wurde, mit einem hübschen, gläsernen Zwanzig-Quadratmeter-Eck-Büro, bei dem er im Bedarfsfall die Jalousien herunter lassen konnte, wenn er mit Kunden über das Hausdarlehen, ein Fondssparpaket oder die Kündigung ihrer Kreditlinie sprach.

      Nun könnte noch einmal der Eindruck aufflammen, bei Samuel Goldman handelte es sich um einen eher trivialen Menschen, temperamentreduziert und mit dem Hang dazu, Lebenshürden zu umgehen, statt über diese risikofreudig und beherzt zu springen. Und auch das mitnichten. Sein attraktives Äußeres war schon das eine, und ließ es nicht zu, ihn der Gruppe von antriebsschwachen Menschen zuzuordnen. Er war auch kein mehläugiger Schlafwandler mit Wanderdünen-Charisma. Er war durchaus lebenslustig, humorvoll und eloquent. Er bediente sich zudem einer ausgefeilten und wohlklingenden Sprache und hatte einen Sinn dafür, diese mit intellektuellen Häppchen und Kostproben seiner Allgemeinbildung anzureichern. Das geschah aber nie aufgesetzt, nie mit künstlichem Bemühen, nie mit dem Ziel, sich mittels einer überzogenen Selbstdarbietung zu erhöhen. Vielmehr war es ein ganz einfacher Teil seines Wesens, wenig kapriziös und frei von dem Verdacht der Beifallhascherei. Weder Arroganz noch Überschläue wurde jemals von seinem Gegenüber empfunden, vielmehr die angenehme Erkenntnis, dass es sich bei ihrem Gesprächspartner um einen gebildeten Mann handelte, frei von Eitelkeit, offen, ohne Niedertracht und Hintergedanken. Kurzum: Man konnte ihm spontan vertrauen. Direkt und zielsicher, mitunter leicht süffisant, nie aber beleidigend oder gar anmaßend, schaffte er es in der Gesellschaft anderer spielend als unterhaltsam und schlagfertig zu gelten. Alles zusammen genommen – Geist, Bildung, Körpermaße, Attraktivität, Humor und Eloquenz – war Samuel Goldman alles andere als vielleicht zuvor vermutet.

      *

      Als die Götter aus ihren Füllhörnern das Glück über der Menschheit verteilt haben, stand Samuel Goldman durchaus auf einem der bevorzugten Plätze. Es fehlte allerdings auf den ersten Blick ein wenig an publikumswirksamer Spektakularität, welches das bittersüße Drücken in der Magengegend verursacht, wenn vom Glück anderer Menschen Kenntnis erlangt wird. Nicht jeder Klumpen Mist, den Sam in die Hand nahm, wurde unversehens zu Gold. Nein, es war viel profaner, ja geradezu trivial. Das normale Pech, welches jedem Menschen immer wieder und in unzähligen Lebenssituationen widerfährt, welches mal größer, meist aber auf der Skala von eins bis zehn die 2,5 nicht übersteigt, dieses Pech war ihm nahezu unbekannt. Es wäre nun falsch anzunehmen, dass es Sam nicht auch passiert war, einmal eine unschöne Schicksalsfügung zu erleben. Doch derlei erfolgt bei ihm in homöopathischen Dimensionen, die vom Leben so gering verabreicht wurden, dass deren Messung nicht gelang. Zudem empfand Sam solche Momente auch nie als beklagenswert oder gar dramatisch. Er nahm sie einfach nicht als solche wahr, sie gehörten dazu und würden schon für irgendetwas gut sein. Schließlich lief bei ihm nahezu alles schlichtweg positiv und in gewohnter Eintracht mit dem auf dem Fuße folgenden Eintreten glücklicher Fügungen. So, als fiele es ihm zu, das ständige Glück.

      So begab es sich vor vielen Jahren, Sam war gerade sechs Jahre alt, als er mit anderen Jungs im nahegelegenen Park wieder einmal auf die Bäume kletterte. Und es standen dort ausgewachsene Platanen, deren Ausmaße deutlich über die dreißig Meter hinausgingen. Obwohl Sam auch beim Klettern stets bedacht vorging, geschah es, dass er für einen kurzen Augenblick unaufmerksam war. Er verlor den Halt unter seinen Füßen und stürzte, zuerst kopfüber, in die Tiefe. Dem sicheren Tod allerdings war er dennoch entgangen. Am Fuße des Baumes, direkt unter seiner Fallrichtung, wuchs ein dichter Haselnussbusch. Satte grüne Blätter rankten sich dicht an dicht um die dünnen, flexiblen Äste des Strauches. Sam krachte zwar in den Busch, doch dieser, von einer guten Vorsehung dort gepflanzte Strauch, federte Sam ab und er plumpste wie ein Waschbär auf den Sand, schaute kurz, stand auf, klopfte sich seine Hosen ab und strahlte. Nichts war passiert, alles war gut. Die Fallhöhe betrug stolze zwanzig Meter, was einem Sprung aus der sechsten Etage eines Appartementhauses entsprach. Die aufmerksam gewordenen Spaziergänger, auch der in Amerika stets zur richtigen Zeit anwesende Cop, und natürlich seine Spielkameraden staunten nicht schlecht. Das Kind musste einen sehr aufmerksamen Schutzengel haben. Oder war einfach ein riesiger Glückpilz.

      Bei weitem erstaunlicher allerdings war ein Ereignis, welches sich ereignete, als Samuel Goldman Teenager war. Diese Geschichte erzählte man sich noch lange, denn sie war nicht nur wahrhaftig eindrücklich, sondern zugleich äußerst seltsam. Sam kürzte seinen Schulweg gern dadurch ab, in dem er die bequeme Fahrradstrecke verlies und die Schienen der Greenville & Western Railway Company überquerte. Das schien ihm keine Spur riskant. Trotz mehrerer parallel verlaufender Schienenstränge, war die Strecke an dieser Stelle gut zu übersehen und er brauchte nur von seinem Fahrrad abzusteigen und dieses kurzerhand über die Schienen zu tragen. Sodann konnte er seine Fahrt fortsetzen und war gute zehn Minuten schneller am Ziel.

      Der Krug geht bekanntlich so lange zu Brunnen, bis er bricht. Und bis das so weit ist, kann es sein, dass der Teufel sich als Eichhörnchen verkleidet und uns Menschen mit Minimalismen quält. Die Crux steckte auch hier mal wieder im Detail. Sam überquerte wie immer die Schienen, sein Fahrrad behände geschultert. Doch plötzlich rutschte er inmitten eines Gleises seitlich weg und sein Fahrrad, das nun quer über ihm lag, verkantete sich unglücklich zwischen den beiden Gleisschienen. Sam wollte sich erheben, merkte aber sofort,