Stefan G. Rohr

Das geliehene Glück des Samuel Goldman


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Lage zu befreien. Sein Rad aber verharrte mit magischer Kraft und ließ sich nicht um einen einzigen Millimeter lockern. Da hörte Sam auch schon den herannahenden Zug. Er wusste, dass die Geschwindigkeit von diesem auf diesem Teil der Strecke hoch war. Er begann noch stärker am Rad zu rütteln, Verzweiflung machte sich breit, und er realisierte, dass es nur noch wenige Augenblicke dauern würde, bis ihn der rasende Zug, voran die schwere Diesellok, überrollen würde.

      Sam hörte Rufe aus der Ferne. Zwei Arbeiter, die vielleicht dreihundert Meter entfernt an einer Zaunanlage tätig waren, hatten gerade die Situation bemerkt und das herannahende Unglück erfasst. Es war zu spät für sie, Sam zur Hilfe zu eilen. Sie riefen laut, wedelten mit den Armen und versuchten Sam klar zu machen, dass er doch schnellstens von den Gleisen sollte. Es schien aber so, als sei Sams Schicksal besiegelt. Der Lokführer gab verzweifelt Signal und hatte bereits die Notbremsung eingeleitet. Es war aber klar, dass ein Halt vor der Unglücksstelle unmöglich war, und damit der Zug unausweichlich über den Jungen und sein Fahrrad rollen würde.

      Zwischen dem Zug und Sam lagen vielleicht gerade noch 50 Meter, da schlug das unter lautem Quietschen herandonnernde Ungetüm förmlich einen Haken, und rauschte mit tosendem Rattern auf dem seitlich neben Sam verlaufenden Gleis an ihm vorbei. Sams Haare und seine Kleidung flatterten durch den aufwühlenden Luftzug der Lok und der schweren Waggons. Etliche hundert Meter weiter, hinter Sam, kam der Zug zum Stehen. Die beiden Arbeiter hatten nun den Jungen erreicht, und gemeinsam konnten Sie ihn aus seiner unfreiwilligen Gefangenschaft von Rad und Gleis befreien, nicht ohne dabei kräftig zu fluchen und Sam mit Vorwürfen zu überhäufen.

      Das Besondere an diesem Vorfall erklärt sich aber nicht allein aus der Tatsache, dass Sam, gottlob, auf dem falschen Gleis eingeklemmt war. Es war nämlich das richtige. Es war das reguläre Gleis, welches der Zug nach Stellplan der Greenville & Western Railway Company befahren sollte. Doch genau dieser Stellplan war an diesem Tag, vielleicht auch nur in dieser Minute, fehlerhaft. Ein Mitarbeiter hatte die Route und Gleiszuteilung eines anderen Zuges verwendet und damit die Weiche, die sich in nur wenigen Meter vor Sams Position befand, nicht geradeaus auf Sam zu, sondern zum anderen Gleis in Richtung der Industrieanlagen gestellt. Dieser Fehler rettete Sam das Leben.

      Obendrauf brachte es ihm einen fast mystischen Ruf ein. Denn bei der Aufnahme der Fahrtunterbrechung und der sofort routinemäßig eingeleiteten Untersuchung stellten die Techniker der Greenville & Western fest, dass circa zwei Kilometer nach Sams Position ein Gleisbruch vorhanden war. Der Zugführer, der Sam fast überrollt hatte, bemerkte den Schaden ebenfalls, denn als er sich den Schweiß von der Stirn wischte und beim Verschnaufen nach links aus dem geöffneten Fenster schaute, hatte er freien Blick auf das Werk der Göttin Ate. Und seine Stirn wurde unmittelbar wieder nass. Er begriff sofort, dass die Fahrt auf dem vorgesehenen Gleis nicht nur das Leben dieses Jungen gekostet hätte, der donnernde Zug wäre zudem direkt auf den Gleisbruch zugerast, und es wäre zu einer fürchterlichen Katastrophe gekommen. Neben diesem unverschämten Glück des Bürschchens, war das eigentliche Glück bei weitem größer. Sam, dem nun unbestreitbar der Ruf als Liebling der Götter, zumindest der freundlich gesonnenen, und als Magier des Glücks anhaftete, wurde für eine kurze Zeit eine echte Berühmtheit in Greenville und Umgebung. Zudem Ehrenlokführer der Western Railway, was ihm ein paar Jahre kostenlose Fahrkarten sicherte.

      Wäre er auf regulärer Strecke zur Schule gefahren, wäre er andernfalls vielleicht einfach nicht auf den Gleisen ausgerutscht, hätte er nur sein Fahrrad anders getragen, hätte sich das Rad nicht derart verklemmt, dann wären viele Menschen in den Tod gerast. Ja, natürlich, der Stellwärter hatte das mit seinem Fehler bereits verhindert. Der Zug wäre dann aber ungebremst mit Höchstgeschwindigkeit in die Industrieanlage gerauscht, was sicher ein noch größeres Destaster angerichtet hätte. Und eines Gedankens konnte man sich nicht erwehren: Hingen alle diese Zufälle nicht am Ende zusammen? Schicksalsfügung? Das Glück von Sam zugleich die Abwendung einer Katastrophe? Man mag als Realist und Pragmatiker nach kurzer Überlegung zu einfachen, sich selbst erklärenden und logischen Lösungen in dieser Sache gekommen sein. Der Nimbus Sams aber fand in jenen Tagen seine Grundsteinlegung. Gottlob, so empfand es vor allem auch die Familie Goldman, verblasste der Ansatz eines Mythos wieder schnell. Es wuchs reichlich Gras über der Angelegenheit, und Sam konnte sich für eine längere Zeit wieder ungestört seinem Heranwachsen widmen.

      Wie an einer Perlenkette aufgeknüpft erlebte Sam fast schon regelmäßiger Weise Dinge, für deren glücklichen Ausgang man im Nachgang keine logische Erklärung fand. Man bemühte sich dann gerne der Physik und eher technischen Faktoren, die Ursachen der Fügung, Zusammenhänge und begünstigende Zufälle, anzuführen. Eine Korrelation der einzelnen Perlen miteinander, die auf Sams Glückfallkette nach und nach aufzuziehen waren, wurde nie in Erwägung gezogen. Nie wurde ein Gedanke daran verschwendet, dass nur in der Betrachtung des Ganzen die Sinnhaftigkeit erkennbar wird.

      Und von diesen Perlen gab es viele. Ein weiteres Beispiel für eine solche lieferte Sam bei einer winterlichen Klassenreise zu den Rocky Mountains. Gemeinsam lernten sie das Skifahren, und am Tag vor der Abreise konnten alle in seiner Klasse, somit auch Sam, bereits ganz passabel fahren. Sam geriet auf der letzten Abfahrt, ganz ohne eigenes Zutun, leicht von der Piste ab und ehe er sich versah, verlor er die Kontrolle. Immer weiter entfernte er sich von seiner Gruppe, die bereits schon einige hundert Meter weiter abgefahren war. Der Schnee unter seinen Brettern wurde tief und das Manövrieren ihm unmöglich. Das Gelände wurde steiler. Die Geschwindigkeit erhöhte sich. Und mit einem Mal löste sich der Schnee unter ihm vom Hang, und Sam ritt für einen kurzen Moment auf einer abgehenden Lawine in einen Talkessel. Die Lawine war nicht allzu groß – gottlob – doch sie reichte, um Sam, der schnell sein Gleichgewicht verloren hatte, an die fünfzig Meter mitzuschleifen und unter einer Schneedecke zu begraben.

      Bis Sams Fehlen bemerkt, die Suche eingeleitet und der Unglücksort gefunden wurde, vergingen über drei Stunden. Und es bedurfte nochmals dreißig Minuten, bis die Retter ihn unter dem Schnee entdeckten. Die Bergwacht und der anwesende Notarzt hatten jeder Hoffnung auf Sams Überleben eine Absage erteilt. Eine Chance, unter einer zentnerschweren Schneelast, ohne lange Sauerstoffzufuhr, in Eiseskälte, lebend zu überstehen, gab es ihrer Ansicht nicht. Doch Sam wurde nach fast vier Stunden nahezu unbeschadet, von einer leichten Unterkühlung abgesehen, quicklebendig aus der Lawine geborgen.

      Dass das ein unverschämtes Glück war, bestritt natürlich niemand. Man suchte aber vielmehr nach der Logik, nach physikalischen Zusammenhängen, der zufälligen Konstellation von Faktoren und Einwirkungen, die das Überleben Sams erklären würden. Man kam zu dem Schluss, dass der Schnee ungewöhnlich locker war, und dadurch die Sauerstoffzufuhr möglich machte. Man ging zudem davon aus, dass Sam nicht ganz vom Schnee umgeben war, und sie konstatierten einen noch ausreichend vorhandenen Raum für Bewegung, der die Körperwärme des Verunglückten auffing und Sam vor dem Erfrieren bewahrte. Und schließlich war die abgegangene Lawine eine eher kleine, so dass in diesem Fall nicht alle, sonst stets tödlichen Größenordnungen zu verzeichnen waren. Alles glückliche Umstände? Sicher, aber ein Wunder mitnichten. Denn Physik galt ja auch für die, die sie nicht verstehen. Die Freude über das gute Ende dieses Vorfalls war dennoch groß, aber es kam erneut niemand in den Sinn, dieses neuerliche Geschehen mit Sams gesamtem bisherigem Glück zu korrelieren.

      Aber man hätte es eigentlich bemerken müssen. Von diesen Perlen gab es in Samuel Goldmans Leben eine weit mehr als ungewöhnliche Anzahl. Einen Vorwurf hieraus zu formulieren wäre dennoch ungerecht. An Sams Glück hatte sich sein Umfeld längst ebenso gewöhnt, wie er selbst. Wer Zeit seines Lebens an den sonnigen und warmen Ufern Maledivens, unter Palmen und vor der Kulisse türkisfarbenen Wassers, an einem weißen Sandstrand lebte, dem käme kaum in den Sinn, dieses als ungerechte Vorteilsgabe zu verstehen. Der Feriengast aus London aber, dessen Jahreszeitwechsel sich lediglich dadurch auszeichnen, dass der Regen eben nur einmal kälter oder wieder wärmer ist, bemerkt hingegen sofort, dass es glücklichere Umstände gibt, als im dauerhaften Einflussbereich nordatlantischen Klimas zu leben. Vielleicht entwickelte sich ja auch genau aus diesem Grund der Wunsch des Empires nach fernen Kolonien in warmen, tropischen Regionen.

      Sam war ein Kind der Sonne. Gedanken an Regen waren ihm fern. Die Sonne schien für ihn jeden Tag und so hatte sich, bei ihm gleichermaßen wie bei den anderen, nach und nach ein unbekümmertes