Martyn blieb der personifizierte Geheimtip, seine Lorbeeren ernteten andere – etwa Eric Clapton für „May you never“. Bis jetzt. Diese CD könnte alles ändern. Seine schönsten Balladen hat er, unterstützt von Fans wie Phil Collins oder David Gilmour, neu eingespielt, sie gekleidet in Blue-eyed-Soul-Arrangements von sanfter Tiefe, die sich durch Martyns inbrünstigen Gesang und eine filigrane Instrumentierung (incl. Es-ist-3-Uhr-früh-und-die-traurige-Whiskey-Bar-macht-gleich-zu-Saxofon) erst gar nicht in den Ruch der Seichtheit bringen. 15 olle Kamellen, die nunmehr auch dem soulsensiblen Publikum der 90er vorzüglich munden dürften. Die Zeit Martyns als unbekanntester Superstar der westlichen Hemisphäre muss jetzt vorüber sein. Ein für alle Mal.
Leonard Cohen
„The Future” (1993)
Letztmals 1979 traf der Dichter aus Montreal mit „Recent Songs“ einen musikalisch originären Ton. Seither lässt er sich von Streichern umschmeicheln, von Gospelchören anschmachten und von Sequenzern rhythmisieren – wie viele andere auch. Brummbär Cohen trifft ihn nicht mehr, den Ton, der eine Platte einmalig macht. Musikalisch ist er zum Barry White für Akademiker degeneriert. Doch so seicht wie die Musik, so düster die Botschaft: „I’ve seen the future, brother, and it’s murder“. Wir in Deutschland ahnen, was das heißen mag. Und spüren den Drang, mal wieder den jüdischen Poeten Cohen zu lesen. Dazu aber braucht es diese CD weniger als ihr Booklet.
Marla Glen
„This is Marla Glen” (1993)
Dereinst, im Rückblick auf eine große Karriere, wird es heißen: Das Erste, was man auf ihrem Debüt von ihr hörte, war ein kleiner, kehliger Schrei, impulsiv und bebend vor Vorfreude. Glen, in Chicago geboren und Wahlpariserin, versteckt ihre androgyne Stimme gern hinter rauem Ächzen, Hecheln, Keuchen, Bassgebrumm und unriskanten Soul-, Gospel- und Poparrangements. Sie traktiert die Songs mit ihrem erstaunlichen Organ, sie tut viel, fast zu viel – vor allem aber genug, um jene Gänsehaut hervorzurufen, die uns immer dann überläuft, wenn wir bei der Geburt eines Stars zugegen sind. Es träfe die Sache nicht, sie Tom Waits’ Schwester zu nennen oder die Enkelin von Nina Simone oder Joan Armatradings Bruder. Nein: This is Marla Glen. Das wird genügen für lange. Sagt die Gänsehaut.
Negativland
„The Letter U And The Numeral 2” (1993)
Ein verlorener Prozess war Geburtshelfer dieser Kombination aus CD und Magazin: Gegen eine U2-Parodie der Satirecombo Negativland hatte die Plattenfirma Island erfolgreich geklagt – was sowohl das damalige Negativland-Label SST als auch die Gruppe selbst praktisch ruinierte. Island verhielt sich wie ein Elefant, der eine Ameise zermatscht, weil sie es wagte, sich ein Rüsselchen überzuziehen. Das 100-seitige Magazin rollt die ganze (so amüsante wie traurige) Chose anhand von Faksimiles der Originaldokumente auf – inklusive eines erschlichenen Interviews von Negativland mit dem völlig unvorbereiteten U2-Gitarristen The Edge, der am Ende, sichtlich überfordert, finanzielle (!) Hilfe zusagt. Ein Versprechen, das er nie hielt. Auf der beiliegenden Kurz-CD sind Monologe und Sketche aus der Radioshow von Negativland zu hören. Wer das limitierte Kombipaket ersteht, erfährt einiges über korrumpierte, realitätsferne Supergroups (U2), den verbissenen Überlebenskampf kleiner Underdogs und die Macht des Geldes über die Kunst.
Neil Young
„Harvest Moon” (1993)
Jahrelang hat er im Feedbackfegefeuer Mr. Hyde gespielt, jetzt taucht er wieder auf, um als Dr. Jekyll gelassen auf Landpartie zu gehen. Wen das noch überrascht, der ist mit Youngs Œuvre nicht vertraut. Schließlich ist er der Schizoking des Folkrock, und dazu gehört es eben auch, mit Feengestalten wie Nicolette Larson sanfte Duette zu singen, während er auf einem medium dahintrabenden Countrygaul die Akustische zupft. Voll Scheiße, werden seine jungen Indiefans blöken – doch die alten Anhänger, die noch immer nicht zurück sind von der Suche nach dem Herz aus Gold, dürften mächtig gerührt sein. Und dass er Schwesterlein Astrid mitsingen lässt, die mit meinem Freund Brian weiland in Toronto die Schulbank gedrückt hat, finde sogar ich ziemlich rührend.
Neil Young
„Lucky thirteen” (1993)
Neil Young hat im Archiv gekramt, Unveröffentlichtes und Sonichtbekanntes ausgebuddelt und Videoclips auf CD gezogen. Gewichtig ist dabei der Anteil seiner Synthesizerphase (die sich jetzt, zehn Jahre später, immerhin als prophetische Vorwegnahme des Technotrends entpuppt). Doch der Kanadier erspart uns auch zuckrige Steelgitarren nicht, was das Album so heterogen macht wie Youngs ganze Karriere in den 80ern. Höhepunkt: das live eingespielte „Don’t take your Love away from me“. Neben geglückten Songs wie der Wavenummer „Pressure“ oder der atmosphärischen Krisengebietsballade „Mideast Vacation“ findet sich jedoch einiges, das im Tiefkühlfach besser aufgehoben wäre.
Nick Cave & The Bad Seeds
„Live Seeds” (1993)
Der Australier ist der König aller morbiden Romantiker. Und die Durchschlagskraft seiner hypnotischen, vor unterschwelliger Gewalt zitternden Songs erweist sich live als noch größer. Nick Cave lebt das ganze Spektrum zwischen Passion und Pose, zwischen Schluchzen und blanker Wut – und Tausende folgen ihm auf seiner Reise ans dunkle Ende aller Straßen, wo die Blaue Blume sich als schwarz erweist. Ein vor Kraft und Wildheit bebendes Livealbum mit allen Cave’schen Gossenhauern der letzten Jahre, inklusive „Weeping Song“ und „Mercy Seat“. Die CD erscheint in limitierter Auflage mit Hardcoverfotobuch.
Nirvana
„In Utero” (1993)
Aufatmen: Statt sich „an die Industrie zu verkaufen“, gebärden sich Nirvana noch roher und wilder als auf dem Erstling „Nevermind“. Eine Reaktion, die nicht selbstverständlich ist, wenn man das erfolgreichste Debüt der Rockgeschichte hingelegt hat. Doch „In Utero“ platzt vor urwüchsiger Kraft, vor Punk, Schweiß und Melodie; der typisch basslastige Garagensound hat auch die Bedingungen einer Majorproduktion überlebt. Und was sagen die Charts dazu? Eine Frage, die einen Haufen bibbernder Manager bei MCA, Geffen und BMG wohl zur Zeit schlaflose Nächte bereitet. Nach menschlichem Ermessen KANN so ein unbehauener Brocken Rock nicht die Massen begeistern. Aber wie oft schon ging das menschliche Ermessen irr.
Ozzy Osbourne
„Live & Loud” (1993)
Beißt er oder beißt er nicht? Schändet er niedere Lebensformen? Osbourne wird gern auf solche rituellen Bühnenexzesse reduziert – und tut hier alles, damit das so bleibt. Getreu seiner Entdeckung „I am Ozzy, I am crazy“ trippelt er zähnebleckend halbnackt über die Bühne, löscht den Feuereifer der Fans mit Wasser, kokettiert mit Satanismus und reckt den Nacktarsch in jede verfügbare Kamera. Zwischendurch, im Hotel, darf er hundert Mal „fuck“ sagen. Problem: Je älter einer wird, desto komischer wirken solche Bad-Boy-Attitüden. Doch Ozzy, mit blecherner, nun auch zunehmend wackliger Stimme geschlagen, kann sich auf eine solide Band und das gläubige Singalong des (jungen) Publikums verlassen. Mal schauen, wie lange noch.
Paul McCartney
„Off the Ground” (1993)
Paule, ich strecke die Waffen. Vergeben und vergessen, was du mit den Wings alles verbockt hast, sogar „Mull of Kintyre“ werde ich versuchen zu verdrängen. Denn für dieses grandiose Popalbum muss man dich einfach lieben. Global gesehen hast du als einer von drei Menschen das Recht, im Beatles-Fundus zu wühlen – und wie du das tust, hat nichts Obszönes, sondern schlicht Klasse: im Hier und Jetzt einen Popsong („Hope of Deliverance“) mit akustischen Gitarren, Rasseln und Hall auf der Stimme so hinzubekommen, dass er nicht nur nach 1965 riecht, sondern auch garantiert zum Klassiker wird – unübertrefflich. Deine Melodienseligkeit macht dir keiner nach, an der richtigen Stelle wirst du zum Rock’n’Roller,