Alice anno 67 von Frank Zappa entdeckt wurde, geriert er sich als Bürgerschreck, der sein Teeniepublikum mit gezielten Tabubrüchen fasziniert. Mittlerweile ist der 49-Jährige selbst der älteste Teen der Welt; um seine juvenilen Themen glaubhaft an die Jungs und Mädels zu bringen, muss er schon ein „Konzeptalbum“ vorlegen, auf dem er in die Rolle des Sandmännchens schlüpft. Flankiert wird die CD konsequenterweise von Comic und Computerspiel. Alice artikuliert zu Fräsriffs und eingängigen Refrains uramerikanische Kausalketten: „I can’t get a girl ’cause I ain’t got a car/I can’t get a car ’cause I ain’t got a job/I can’t get a job ’cause I ain’t got a car/So I’m looking for a girl with a job and a car.“ Und was zunächst als fatalistische Ironie durchgeht, wird unversehens bitter realistisch: „I can’t go to school cause I ain’t got a gun.“ Alice hat die Kniffe eben drauf. Und deshalb hat sein wirklich guter Hardrock eine eingebaute Chartsgarantie – nicht nur im Land der fatalen Kausalketten.
Archie Roach
„Charcoal Lane” (1994)
Vor zwei Jahren brachte ein Freund aus Australien einen Song mit, der jene Schlichtheit aufwies, die Meisterwerken immer eigen ist. Archie Roach sang die Suffballade „Charcoal Lane“ sanft und rau, mit der schlaffen Melancholie eines Mannes, der dem Tod nah gewesen war. Wie viele Aboriginies wurde er früh der Familie entrissen und in Pflegefamilien herumgereicht. Mit 13 war Archie ein Hobo auf Alkohol – Abschaum, der in der Gosse aufs Delirium wartete. Ihn rettete ein Lied: Jemand sang Bibelverse zu einer Hank-Williams-Melodie; Archie wurde Songwriter. Noch heute klingen seine Songs wie Hanks simple Countryweisen, doch sie handeln nicht von Erlösung, sondern von Straßendreck, von gesprengten Familien und Rassenjustiz. Und von Liebe, gefasst in naive Bilder, die so klar sind wie wahr: „Sitting here in a lonely old guest house/I’m sure that my life is all through/Scratching fleas and watching a grey mouse/I’m making love to the memory of you“. Roach ist ein flügelloser Phoenix aus der Asche, ein Mann jenseits des Hasses. Seine Songs brauchten vier Jahre von Australien bis Europa. Jetzt sind sie da.
Chainsaw Hollies
„Bob” (1994)
Vermelde: die Geburt einer großen Rockband! Mit feurigen Herzen jagen sie durch einen Haufen wunderbarer Gitarrensongs, mit naiver, rührender Emphase für Wildheit und Schönheit umarmen sie zwischen Chuck Berry und Bad Religion alle, denen der Rock’n’Roll Lebenselixier ist. Die Chainsaw Hollies lassen sich durch nichts und niemand davon abbringen, das Medium selbst als Botschaft, Lebenssinn und Spaßmittel zu begreifen. Überwältigend sind die krachenden Gitarren, das Drumgeprügel und die paradiesischen Melodien nicht für sich; es ist die überwältigende Freude der Band an all dem. Eine Platte wie ein Teststreifen: Wer darauf nicht reagiert, ist dem Rock verloren für immer. Und wen es packt, der hat seine Droge gefunden für lange. Und sie kommt – aus Dortmund.
Chrash Test Dummies
„God shuffled his Feet” (1994)
Seit ihrer einfühlsamen Ballade über die Probleme, mit denen der Alltag Supermans gespickt ist, gehören die Chrash Test Dummies zu Amerikas hoffnungsvollsten Folkpopbands. Nun legen sie zwölf Songs von erlesener Schönheit nach: harmonisch und poetisch, dabei so behutsam und transparent, dass die Schmalzgefahr klein bleibt. Größtes Plus der Band: Brad Roberts. Der Mann singt, wie andere Kaugummi kauen. Seine kehlig aufsteigenden Baritöne werden auf dem Weg ins Freie von Zähnen und Zunge zerknetet und zermahlen, werden hin und hergerollt und liebevoll geherzt, ehe sie endlich sonor davongleiten dürfen – ein schöner Kontrast zum hellen Sopran von Ellen Reid, die nebenbei noch an zarten Keyboardschleiern webt.
Das Weeth Experience
„Power of Love” (1994)
Feedbackorgien per Fender-Amps: Dieses Hamburger Trio hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Crazy-Horse-Überdosis abgekriegt und muss nun die Zerrklampfenbecquerel wieder abstrahlen – Halbwertzeit: bis zum Jüngsten Tag. Und dabei gehen sie höchst gefühlvoll vor, der Lärm gebiert die Schönheit, das Sägewerk wird mühelos zum Sumpfblütentreibhaus. In „Power of Love“ kriegen sie die Countrykurve, zerpflügen aber Sekunden später wieder den Rock-’n’-Roll-Acker, und zwischen Noiseattacken und kleinen naiven Rohdiamanten scheint es, als hätten wir – also Deutschland – endlich unsere eigenen Velvet Underground gefunden. Das Equipment jedenfalls stammt definitiv aus legendären VU-Tagen. Mindestalter: 30 Jahre.
Drive A British Car
„A Clash In The Park” (1994)
Es ist der dritte Versuch, endlich so bekannt zu werden, wie man gut ist. Und diesmal versucht es die hessische Gitarrenband live – mit 13 neuen Songs, in denen es, dank des komponierenden Frontmanns Jürgen Peters, um die essenziellen Dinge des Lebens geht – also um Kontaktanzeigen, Rassismus, Liebe und Serienmörder. Musikalisch indes fehlt alles Brachiale; DABC lieben melodiösen Gitarrenrock, den Drummer Werner Etling zum Grooven bringt. Sie bedienen sich vor allem US-amerikanischer Traditionen und verweben sie geschickt mit europäischer Melodik und Verspieltheit. Liveatmosphäre kommt nicht auf, der Beifall ist gekappt; um so mehr stehen die fein arrangierten Songs für sich selbst, und Jörg Sebald (mit Stehbass) oder Ralf Rossbach (mit pointierten, nie selbstverliebten Gitarrensoli) steuern aparte Klangfarben bei. Eine kompakte Band mit eigenständigem Stil – gut genug, um endlich bekannt zu werden.
Future Sound Of London
„ISDN” (1994)
Reizvoll an Konzerten ist stets das Unwägbare: Wie reagieren Band und Fans aufeinander? Das ist vorbei, sollte sich die Idee dieses Album durchsetzen. Es präsentiert ein Konzert, das nicht im Saal, sondern im Telefonnetz stattfand. Via ISDN-Leitung wurde es aus einem Londoner Studio nach Holland transferiert, wo es im Radio ausgestrahlt wurde. Das Publikum war anonym, die Künstler isoliert. Die einen hörten Musik ohne Livecharakter, die anderen hatten keinen Schimmer, wie sie ankam. Kein Kontakt, keine Veränderung des Ablaufs. „Live“: eine Schimäre. Vielleicht sind vorproduzierte Bänder abgelaufen, und die Musiker haben, als die Leitung stand, auf Kurzwelle Radio Amsterdam reingeholt, um sich selber zu hören. Wenn ja, hörten sie hochintelligente Computermusik mit gewitzten Samples und raffinierter Rhythmik. Aber kein Livekonzert.
Grant Lee Buffalo
„Mighty Joe Moon” (1994)
Mehr noch als auf ihrem herausragenden Debüt gestalten GLB ihre Songs zu Minidramen. Zitternd vor Ernst durchmessen sie die Gefilde von Folk, Rock und rauer Psychedelia. Was ihnen an Humor fehlt, gleichen sie aus mit kraftvollen, einprägsamen Melodien in Moll. Ihre Songs illustrieren einen spezifisch „weißen“ Zweifel am Lebenswert des Molochs Los Angeles – eine Grundstimmung wie in Lawrence Kasdans Film „Grand Canyon“, nur ohne dessen versöhnlerisches Ende. Grant Lee Buffalo haben sich arrangiert mit der kleinen, harmlosen Schwester der Depression: der Melancholie. Und die liebt den Klang des Plektrums, wenn es über die Saiten einer Akustikgitarre rutscht, sie liebt den sägenden Ton der Elektrischen, liebt die aus dem Abgrund heraufwehende Pedalsteel und die Wehmut des Cellos und die angerauten Stimmbänder von Grant Lee Phillips, einem der größten Americanasänger seit Erfindung des Mississippi.
Hamid Baroudi
„City no mad” (1994)
Der Dissidenten-Sänger desertierte in die Solokarriere und schuf einen fulminanten Mix aus nordafrikanischem Pop und westlichen Dancefloorsounds. Baroudi, in Kassel lebender Algerier, erweist sich dabei nicht nur als quirliger Gitarrist und sensationeller Sänger, sondern auch als Integrationsfigur verschiedenster Kulturen und Klänge. Wo immer jemand herkommt: So er Rhythmus hat und Gefühl oder Congas, Oud und Synthesizer und keine Dünkel, darf er mittun beim großen globalen Groove. So kamen sie herbei, die Leute aus Jemen, USA, Deutschland, Ägypten, Türkei und Mali, um ein weltumspannendes Musikkonzept zu schaffen, das von Genrecharts kaum