Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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      „Frozen” (1994)

      Der Drummer von Vic Chesnutt, schrieb die ZEIT, sei der langsamste der Welt. Irrtum. Es ist Scott Lucas, auf „Frozen“ Gast beim somnambulen Trio Souled American. Er setzt die Schläge so, dass man den letzten vergessen hat, ehe der nächste kommt. Manchmal ist er so langsam, dass er das ganze Stück verpasst. Dann zupfen Chris Grigoroff, Scott Tuma und Joe Adducci eben ohne ihn Saite für Saite, tupfen Ton für Ton, patschen Orgeltaste für Orgeltaste. Ihre Gitarren konnten sie nicht zu Ende stimmen, dafür war die Zeit – unsere Zeit – zu kurz. Gegenüber dem Valiumfolk der letzten Platte, deren sedativer Stil Maßstäbe setzte, bedeutet „Frozen“ eine Vollbremsung. Schräg und träg kriechen neun Songs durch die Membrane und schauen sich antriebslos nach Ohren um, die lange genug stillhalten – Schneckencountry mit Schönberg-Touch. Ploingg. Schrabch. Eine Platte, die in 30 Jahren als skurrile Rarität ein Vermögen kosten wird.

      The Cruel Sea

      „This is not the Way home” (1994)

      Nachdem Anfang des Jahres nur eine Handvoll Importexemplare der australischen Ausgabe in Deutschland auftauchten, ist das Debüt von The Cruel Sea nun regulär zu haben – leider in der üblichen Plastikbox, nicht mehr im hübschen Digipak. Das Konzept: Eine auf Gitarrenbasis agierende Instrumentalcombo tut sich mit einem Shouter zusammen. In den besten Momenten klingt das nach Shadows meets Tom Waits. Oder nach Spotnicks vs. Tony Joe White. The Cruel Sea aber haben sich Tex Perkins geschnappt, den Sänger der Beasts Of Bourbon. Weil die komplette Truppe im popmusikalischen Schmelztiegel Australien zu Hause ist, haben wir Highwaysongs, haben Sumpfrockslides, Mississippi-R’n’B, verschrobenen Reggae, haben dahingleitende 50er-Hommagen im augenzwinkernd-traurigen Stil Chris Isaaks. Und einen Sänger, der alle möglichen Assoziationen mit des Bellens und Brummens fähigen Säugetieren auslöst. Das alles ist ein Vergnügen, dem man sich dank der kristallinen, räumlichen Produktion von Tony Cohen gänzlich ungetrübt hingeben darf. Ein Album ohne die geringste Schwäche. Das reinste Wunder.

      The Moon Seven Times

      „The Moon Seven Times” (1994)

      Gut, wir wollen uns ergeben. Wir wollen widerstandslos auf Reisen gehen. Weil eine flüsternde Fee namens Lynn uns inständig bittet, weil eine elektrische Gitarre uns lockt mit hallendem Sirenenton, weil selbstvergessene Trommeln uns sachte den Takt vorgeben. Mühelos halten wir Schritt, unser Atem bleibt ruhig. Wir nicken im Vorübergehen den Cocteau Twins zu. Es ist noch Winter, doch die Stürme sind verebbt. Alles wird gut. Und so lange der Mond nicht sieben Mal den nächtlichen Himmel abgeschritten hat, werden wir nicht aufhören zu wandern durch den silbrigen Zauberwald. Doch was wird danach sein? WAS?

      The Rolling Stones

      „Voodoo Lounge” (1994)

      Gut, man sollte 50-jährigen Männern, die seit 1960 Songs schreiben, von denen viele für immer einsanken ins kollektive Gedächtnis des Rock, diesen Männern sollte man das Recht zugestehen, allmählich auszubrennen. Aber sie tun es nicht. Zwar höhepunktarm aufs erste Hören, aber mit sanfter Durchschlagskraft servieren sie die Essenz eines 30-jährigen Schaffens. Alle Stones-Phasen klingen an: von Rock’n’Roll bis Country. Und Jagger singt das Wort „Raaaainbough“ wie einst in den wilden Jahren, als solche Balladen das Bad-Boys-Image kräftig beschädigten. Dank Don Was’ straffer Produktion hat „Voodoo Lounge“ sogar einige Minuten, die irgendwann auf dem „Ultimative Best of“-Sampler auftauchen werden – etwa „Sparks will fly“. Saubere, ehrliche Routine zwischen knackigem Rhythm’n’Blues, haufenweise Edelschnulzen und einem lahmen Langweiler („Thru and thru“).

      Thin White Rope

      „When Worlds collide” (1994)

      Eine Zeitmaschine schickte die Byrds durchs Punk- und Wavefegefeuer. Als sie ankamen, trugen sie einen neuen Namen: Thin White Rope. Sie hörten sich manchmal an, als spülten sie Countrysongs durchs Klo. Mitten im Krach, den sie entfesselten, prangten Hooklines von unvergesslicher Reinheit; den abgespeckten Kohlenkellerklang durchzuckten urplötzlich surrealistische Bläserblitze. Die hohe Kunst des rohen Riffs ist erst dann wirklich groß, wenn sie in Lumpen gehüllt daherkommt, und Thin White Rope verstanden es wie keine andere Band der 80er-Jahre, eine großartige Klarheit des Ausdrucks mit dreckigen Akkorden zu erreichen. Dieser posthume Sampler ist randvoll mit den besten Beweisen.

      Townes Van Zandt

      „No deeper Blue” (1994)

      Ein Titel wie dieser verheißt beim geübten Trauerkloß Van Zandt alles erdenklich Gute, will sagen: Depressionen, Tränen, Trauer. Die Abgründe der menschlichen Leidensfähigkeit auszuloten, gelingt keinem anderen Songwriter so ergreifend. Und allenfalls manch zu glattes Arrangement hat in der Vergangenheit die Wirkung seiner traurigen Balladen gedämpft. Auf „No deeper Blue“, seinem 15. Album seit 1969, gibt er seinem Stil nun mit ungewohnter Instrumentierung einen neuen Dreh. Seine flexible Band ist gut auf des Texaners Liedgut eingestellt. Sie rockt bei Bedarf, schickt die Pedalsteel in himmelhohes Gewimmer, bringt die Harmonika zum Heulen (Donovan!) oder lässt Van Zandt mit seiner Gitarre allein, wenn der einen Seelenstriptease plant. Dazu erzählt Townes seine zerbrechlichen Storys – und ist einmal gar lustig verspielt, wenn er ein Feuerwerk von Allegorien und Stabreimen abbrennt. Ein Album so schön wie die untergehende Sonne – nicht zuletzt dank des live längst bekannten, aber als Studioeinspielung lange überfälligen „Marie“.

      Van Morrison

      „A Night in San Francisco” (1994)

      Wahrscheinlich gäbe es keinen Künstler auf der Welt, der nicht käme, wenn Van the Man ihn auf die Bühne bäte. Seiner Bitte folgten die Großväter (Hooker, Wells, Witherspoon) wie die Enkelinnen (Kate St. John, Candy Dulfer). Morrison und seine Band sind live atemberaubend, und ihr kochender Mix aus Soul, Blues und Jazz gewinnt durch die Gäste noch – man höre nur das (von Dulfer gespielte?) Saxofoon für James Browns „It’s a Man’s Man’s World“. In langen Medleys schreitet der aus wolkiger Mystik wieder herabgestiegene Meister durch die Geschichte der schwarzen Musik; die Zeiten verschwimmen vor unseren Ohren, und Genres, Themen, Zeilen und Rhythmen verdichten sich zu einem Monument des ewigen Blues. Morrison ist einmalig.

      Verschiedene Künstler

      „Die schönste Platte der Welt” (1994)

      Wer unter denen, die seit 30 Jahren grübeln, welche die schönste Scheibe der Welt sei, hätte gedacht, dass sie klänge wie parodierter deutscher Schlager, wie Underground-NDW, wie ein keckes Streichquartett, wie Lindenberg und Cave zugleich – kurz: wie zehn Bands, die dieses astronomische Spektrum mit je einem eigenen und einem Coversong abdeckten? Na, keiner hätte das gedacht. Die Popwelt begann schon immer beim sympathischen Dilettantismus, diese Platte auch. Sie belässt’s dabei nicht, weil sie nämlich mehr Ideen versammelt als Mitwirkende (darunter die Merricks, Schade Schokolade, Die Busfahrer und andere Berühmtheiten). Hier geht alles – ganz im Geiste Ata-Taks, wo die CD dennoch explizit NICHT herkommt. Und fast alles macht Spaß: ein prima Klima. Nur die Nummerierung ist schludrig.

      Verschiedene Künstler

      „Funk” (1994)

      Drums hämmern auf diesem Sampler den schwarzen Funk in unschuldige Seelen, erzählen erotisierend von Sex und Liebessymbolen, schleichen sich unter die Haut. Neun bekannte Namen der Soulszene tun sich zusammen, um dem New Funk alle Ehre zu machen – auch wenn das Ergebnis sich manchmal eher gewollt als gekonnt anhört. Mächtig die Stimmen der Steeles und Mavis Staples, leidend die des Funkmeisters George Clinton, möchtegernerotisch dagegen Mayte. Die New Power Generation, diesmal ohne Genie Prince, gibt sich hier lässig cool; der Meister selbst duettiert mit Nona Gaye. Erweitert wird das Spektrum mit einer Funkjazzfusion, geführt von einem verspielten, spottenden Saxofon.

      Verschiedene