(1995)
So spröde sind die Streicher, so flach die Drums, so zittrig die Beatorgel, dass man folgern muss: Die High Llamas wollen ihr mildes Desinteresse am eigenen Material erst gar nicht verbergen. Die auf Akustikgitarren fußenden Stücke der Britpopper sind so schläfrig-schludrig wie die des American Music Club. Echte Geniestreiche wie „Checking in, checking out“ – eine künftige Popikone von Kinks’scher Klasse – stehen neben verträumten Trödeleien („The Goat looks on“), und starke Songeinfälle werden nach drei Pflichtminuten schon mal zu vergähnten Endlosoutros, die dann zehn Minuten lang versanden („Track goes by“). They might be giants, möchte man ausrufen, doch sie ziehen es vor, tall dwarfs zu bleiben. Auch gut, Jungs.
Hootie & The Blowfish
„Cracked Rear View” (1995)
Rock ist Mathematik. Weezer sind die Wurzel aus den 60ern, potenziert mit Punk, und Hootie & The Blowfish sind Spin Doctors minus Allman Brothers plus Elton John. Die USA schmieden immer wieder Gitarrenrocktalente, die auf dem Feld der Ahnen einen Touchdown nach dem andern landen, aber die Regeln ein wenig ändern. Das macht die alte Sache aufregend. Weezer wirken auf ihrem titellosen Debüt wie verspielte Jungs, die im Sandkasten toben und mit jedem Klötzchen was anstellen. Da gibt es Krachgitarren, Akustikgeplinker, Harmonikas, Harmoniegesänge und die simpelsten, großartigsten Popmelodien seit den frühen Stranglers. Die anderen tollen Debütanten des Monats, Hootie & The Blowfish, arbeiten sich ernst und pathetisch am Folkrock ab, ehren Vater und Mutter und bleiben dabei locker. Weezer sind aus Kalifornien, Hootie & The Blowfish aus South Carolina. Rock ist Mathematik. Und guter Rock ist manchmal der Quotient aus Südstaatensonne, Stromgitarre und einem Marshall-Verstärker.
Iain Matthews
„Pure & crooked” (1995)
Iain Matthews Songs haben etwas Strahlendes und – bei aller Melancholie – Sauberes. Etwas, das auf eine Art pathetisch ist, wie es (eigentlich) nur Anfang der 70er möglich war. Kurz zuvor hatte der britische Grünschnabel den Song „Woodstock“ geschrieben, die wie in einem Zwischenreich schwebende Hommage ans verlorene Eden der Hippies: „We are stardust, we are golden/And we got to get ourselves back to the garden.“ Solche Nostalgie war bei Matthews nie sentimental, und er rettete diese reine Folksongschönheit über die Zeiten, auch hinüber in die 90er – aber wie er das macht, bleibt sein Geheimnis. Die 16 Songs auf „Pure & crooked“ ergeben ein zeitloses Album: ohne eine Spur Rock’n’Roll (trotz Lou-Reed-Pose auf dem Cover), doch voll strahlender Wehmut.
Jayhawks
„Tomorrow the green Grass” (1995)
Diese Songs haben ihre Traurigkeit von klaren Nächten, nicht von staubigen Alleen. Sie erinnern an jenen Hund, der sich immer am Rand des Friedhofs herumtrieb. Sie kriechen in deinen Wandschrank und bleiben da bis nächsten Herbst. – Diese Sätze stehen auf der CD-Rückseite. Sie sind wahr, weil sie die lyrische Melancholie des Albums genau treffen. Der Jayhawks-Countryrock verhält sich zu Nashville wie Jack London zum Marlboro-Mann. Diese Band macht alles richtig, wozu auch der betont schlampige Harmoniegesang gehört. Ihr Song „Miss Williams Guitar“ sollte zum „Runaway Train“ von 1995 werden. Dass die geehrte Victoria Williams auf einem anderen Stück dann mitspielen darf, ist ehrenwert. Die Jayhawks machen eben alles richtig.
Kevin Salem
„Soma City” (1995)
Soma ist die Droge aus Huxleys „Brave new World“, dank der jeder seinen gesellschaftlichen Platz als bestmöglichen, glücklichsten empfindet – ob Müllmann oder Manager. Soma verhindert die Voraussetzung für Konflikte und Revolutionen, und erst von außen erschienen die Süchtigen als beklagenswerte Sklaven. Gottfried Benns Glücksdefinition „Dumm sein und Arbeit haben“ geistert durch diesen Roman, aber sie geistert nicht durch Salems Soma-Stadt New York. Die Versuche, sich zu betäuben, sich per Droge mit einem ärmlichen Schicksal auszusöhnen, scheitern allesamt, und Salems großstädtischer Gitarrenrock handelt von diesem Scheitern. Er ist düster und kräftig, man stellt sich Neil Young mit Sonnenbrille vor. Oder Lou Reed als Replikanten in „Blade Runner“. Musik für Zeiten und Städte, in denen man abends nach acht nicht mehr U-Bahn fahren sollte.
Lassie Singers
„Stadt, Land, Verbrechen” (1995)
Vom Pippi-Langstrumpf-Teenierockabilly zum Funpop mit Niveau – die Lassie Singers verlassen die Wunderwelt der Pubertät und kokettieren nun mit dem Erwachsensein. Erwachsene nämlich dürfen ihre Gitarren unter Strom setzen, sie dürfen gar verzerrte Töne spielen. Erwachsene dürfen eine Glatze haben (wie Neu-Lassie und Ex-Ideal-Schrammler F. J. Krüger), Kinder kriegen (wie Almut Schummel) und Examen machen (Glückwunsch, Christiane Hügelsheim!). Erwachsene dürfen sagen: So, Connie Froboess, du trägst jetzt Leder. All das tun die Lassies, ganz wie richtige Erwachsene. Und für einen anständig swingenden Barjazz verraten sie quick den Traum der kleinen Mädchen. Ihre Arrangements unter Wortungetümen wie „unvorteilhafteste Frisur“ haben Speckröllchen gekriegt, aber es ist kein Babyspeck mehr. Sie dürfen jetzt endlich mit den Großen spielen.
Little Axe
„The Wolf that House built” (1995)
So einen bizarren, schleppenden Mix aus Blues, Dub, Gospel, Weltmusik und Psychedelia hat noch niemand gemacht. Die Gitarren hängen wie sirrende Drähte im Wind, die Stimmen irren durchs Dickicht des Mischpults, und Tablas pochen von sagenhafter Ferne. Wir haben hier eine originäre Stilverbindung, einen Psychogospelblues. Kreiert hat ihn Skip McDonald, der den Zwölftakter seit drei Dekaden mit der Postmoderne versöhnen will, zuletzt im Projekt Tackhead. Nun ist es geschafft. Man höre die sinistre Geisterreiterversion von Alan Lomax’ „Never turn back“, um zu wissen, dass trotz aller Beschwörungen, trotz aller Gebete auf dieser Platte die Erlösung fern ist. Von Gott redet McDonald oft, doch in seinem schläfrigen Delirium hat dieses Konzept keinen wirklichen Platz mehr; die Heilandfiktion verliert sich. Am Ende ist nur noch von einem König die Rede, vom König der Klänge und des Blues. „Each sound around you carries you deeper“, heißt es schließlich, „and deeper and sounder.“ Und das ist so unübersetzbar wie wahr.
Lloyd Cole
„Love Story” (1995)
Lloyd Cole sucht den perfekten Popsong. Vielleicht hörte er auf zu schreiben, wähnte er sich am Ziel. Deshalb müssen wir ihm steten Misserfolg wünschen, denn was auf dem Weg ins Cole’sche Paradies an Liedern abfällt, ist von balsamischer Schönheit: Folksongs in winterwarmen Gewändern, gewebt aus plektrumgestreichelten Gitarren, Harmonika hie und weichem E-Bass da. Mitten drin natürlich Coles Melancholikertimbre, das uns kleine, unendlich wichtige Privatheiten zuraunt. Eine Platte, die Grant McLennans berückendes Meisterwerk „Horsebreaker Star“ noch übertrifft. Aber in den Augen des Schotten, der in den 80ern mit seinen Commotions sehr berühmt war, ist es hoffentlich nicht gut genug – denn das bewöge ihn vielleicht zum Rückzug. Nein, Lloyd: bitte scheitere weiter.
Michael Jackson
„History” (1995)
Jacksons Stimme ist dünn. Als er ein Kind war, war sie noch voll. Wenn er heute tremoliert, möchte man ihn mit Krücken stützen. Aus der Not wurde Tugend, er erhöhte den Atemanteil des Gesangs, baute perkussives Keuchen ein. Die erste Hälfte von „HIStory“ blickt zurück auf die größten Hits, und so eng beisammen wird deutlich, welch hohen Anteil Jacksons Stakkatohecheln am Erfolg hat, wie eigen sein Ächzstil ist. Er entspricht Jacksons abgehacktem Tanzstil und passt genau zu Quincy Jones’ genialen Arrangements der 80er. Die zweite CD verarbeitet das Katastrophenjahr 94. Die musikalischen Muster sind ähnlich bis zum Selbstplagiat, ohne dass die Hitmaschine brummt, und leider ist der Balladenanteil hoch. Ohne die Atemgeräusche aber ist die Stimme wieder nackt und dünn; Balladen werden zu Schmachtern. Dennoch