Matthias Wagner

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Tongue” (1995)

      Eins der fulminantesten Debüts aller Zeiten: vulkanisch, erregend und selbstbewusst. Eine Band aus Kalifornien, ausgestattet mit Früh-70er-Furor, 90er-Härte und riesiger Zukunft. Der König lebt. In der Dornenhecke des Rocks von Mother Tongue hockt die Geige wie ein Rehkitz: geborgen und gefährdet. Und mitten im wogenden Gestrüpp finden sich kleine flaumige Nester – wie kurze Tonausfälle in einem Film genau dann, wenn sowieso niemand spricht und man nichts verpasst, dabei aber aufmerksamer wird für das, was noch kommt. Ein Satz wie „The king is dead/and the people are cryin’“ etwa. Man muss hören, wie schockierend lapidar Christian Leibfried diese Zeilen rezitiert und ihnen damit eine nihilistischen Kniff gibt. Und man muss hören, wie er wenig später „Burn motherfucker burn!“ herauskotzt, um zu begreifen, dass wir es hier mit einem ganz Großen zu tun haben – auch als Gitarrist. Bei ihm jault die Elektrische, als hätten seit Hendrix’ Tod nicht Legionen von Saitenwichsern ihre eklen Feedbackeiterbeulen öffentlich ausgedrückt. Bei Mother Tongue bricht der Lärm über Leibfrieds begnadete Soli herein wie ein Orkan – und immer wieder macht der Sturm kleine Pausen, um einem lyrischen Saitenflüstern Raum zu geben. Mother Tongue sind Debütanten, aber schon die dynamischte Band der Welt, die vehementeste seit Cream; Drummer Geoff Haba gurgelt mit Dynamit, und Leibfried wird der Rattenkönig des Rock.

      Neil Young

      „Mirrorball” (1995)

      Zweimal greift Young zur Orgel. Für den Rest der Zeit lässt er die Bestie frei. Der Godfather des Grunge hat seine Kinder Pearl Jam herzitiert, und sie zeigen mit glühendem Eifer, wie man die typische Crazy-Horse-Rhythmusmaschine ölt, damit Youngs verschmierte Zerrsoli auch die richtige Unterlage haben. Bei gnadenlosen Garagensongs wie „I am the Ocean“ oder „Big green Country“ beweist vor allem der Drummer Jack Irons manisches Durchhaltevermögen. Die Band spielt am Limit, fügt sich der Dominanz des Meisters – gar Eddie Vedder singt nur im Hintergrund –, und schafft ein Rockmonument. Hoffentlich hält die wilde, wunderbare Freundschaft lang.

      No Oil No Dust

      „Crazy Walking” (1995)

      Lu Lafayette raunt mehr, als er singt. Abnutzungserscheinung eines Altgedienten (Wolfsmond, Rattles)? Nein, Stilwille. Mit seinen Bremer Mitmusikern (zwei Gitarren, zwei Keyboards, Bass, Drums) ist er dem Schlafmützencharme von J. J. Cale oder Tony Joe White verfallen. Wenn es rockt, dann verhalten, wenn es bluest, dann wie ZZ Top während einer Siesta im Death Valley. Ihre Haltung ist entschieden laidback, doch die Lässigkeit ist keine Pose, sondern offenkundige Demonstration von Abgeklärtheit – zumal die zehn Songs unglaublich stark sind. Ein Debüt, wie man es selten zu hören kriegt und aus Deutschland noch seltener. Vielleicht wegen Lu, dem Altgedienten.

      Oasis

      „Morning Glory” (1995)

      In jenen Splatterfilmen, wo stets ein Monster aus dem Bauch früh ausscheidender Protagonisten hervorbricht, machen diese kurz davor immer Geräusche, die sich anhören wie „Blööörrh“. Ob die Londoner Band Blur sich darüber klar ist? Ihr aparter Britpop jedenfalls ist dem Splatter so fern wie Mutter Theresa der Callgirlkarriere. In einem Duell, das ganz Britannien fesselt, kabbeln sie sich mit den Prollpoppern Oasis aus Manchester, und das tut der Szene gut. Oasis vs. Blur, das heißt Bauch gegen Kopf, bratzende Gitarren gegen perlendes Piano, Arroganz gegen Nonchalance. Und wenn zwei solche Alben dabei herauskommen – roh und großmäulig zwischen Bowie und Glitter (Oasis) oder dandyhaft-süffig zwischen Bryan Ferry und den Kursaal Flyers (Blur) –, lebt der Britpop noch. Am Ende siegen Oasis 4:3.

      Pavement

      „Wowee Zowee” (1995)

      Sie klingen wie verirrt in der Wüste ohne Wasserkanister. Dinosaur-Jr.-Boss J. Mascis wird diese Platte lieben, weil er merkt, wie sein verschlafener Singsang Schule macht. Pavement kleiden diesen Vokalstil in ein sympathisches Gewusel, in dem verzerrte Stromklampfen ebenso ihren Platz haben wie Pedalsteel oder Cello. Aus Ungeordnetem dämmern dabei grandiose Songs herauf – vielleicht zu kurz, zu hingekritzelt, als dass die Band den Geheimtippstatus je verlassen könnte. Doch gilt diese Eklektik nicht jetzt als Hoffnung des Rock’n’Roll? Sicher ist, dass Neues gut auf Altem gedeiht und es manchmal nötig ist, das Alte mit Füßen zu treten. Das tun Pavement, ob sie nun schrägen Wüstenfolk oder neopsychedelischen Rock spielen: Sie verachten Grunger und Slacker. „Fight this generation“, singt Stephen Malkmus. Dafür wird ihn Mascis lieben.

      Pearl Jam

      „Vitalogy” (1995)

      Als hätte sich Phil Glass in eine Seattler Spelunke verirrt und versuchte besoffen, den delirierenden Ziehharmonikaspieler zu einem Kinderlied zu überreden: So klingt der Song „Bugs“. Der Rest klingt anders. Aggressiv und zornig und zerrissen vor Trauer. Es ist eine Platte, über der Kurt Cobain schwebt wie der Grunge-Christus am Kreuz. „Vitalogy“ verhält sich zu den bisherigen Pearl-Jam-CDs wie „In Utero“ zu „Nevermind“: sperrig, störrisch, widerspenstig. Ohne Zweifel hat der Selbstmord Cobains Eddie Vedder & Co. auf diesen steinigen Pfad gezwungen. Cobain musste seine Weigerung, sich und seine Kunst (aus)zu verkaufen, mit dem Leben bezahlen. Pearl Jam versuchen, die Widersprüche hörbar zu machen – und mit dem Leben davonzukommen. „He who forgets will be destined to remember“, heißt es in „Nothingman“; ein Motto, eine Warnung, die die Band sich selbst mit auf den Weg gibt, so steinig er auch ist.

      Pete Droge

      „Necktie Second” (1995)

      Ihr lieben Hiatt/Petty/Mellencamp-Fans, kommt mal her, ich muss euch was flüstern. Ihr könnt doch den Hals nie voll kriegen von urtümlichem US-Songwriterrock, seid aber angewiesen auf erwähntes Triumvirat und vielleicht zwei, drei andere Leute dieser Liga. Aber dann? Ende Gelände. Jetzt aber, Freunde, naht die Rettung, der Messias ist da. Er ist ein junger Mann von 25 Lenzen, der von Liebe und Tod singt und dabei grinst, und sein Name sei Pete Droge. Er kommt aus Seattle, wo ihn der Pearl-Jam-Gitarrist Mike McGready entdeckte, lebt jetzt in Portland/Oregon und ist mal ein Wirbelsturm in der Wüste, mal ein Rascheln im Präriegras. Er singt wie die Niagarafälle, mit seinen Gitarren könnte man in Texas nach Öl bohren oder einer Señorita in San Diego sanft den Rücken karessieren. So, Ihr Lieben, nun gehet hin und verschafft euch dieses Album – und wenn ihr knapp bei Kasse seid, tragt die Hiatt-Sammlung ins Pfandhaus, ihr könnt sie ja später wieder auslösen, ok? Wenn ihr dann überhaupt noch wollt.

      Pink Floyd

      „P.U.L.S.E.” (1995)

      „Hätten wir damals das aufblasbare Riesenschwein nicht gehabt“, schwant David Gilmour, „hätten wir keine einzige Eintrittskarte verkauft.“ Der Verpackungspomp der Livedoublette „P.U.L.S.E.“ soll ebenso funktionieren. Das Booklet ist ein Hardcoverbuch, der Rücken des Pappschubers blinkt. „Sollte Sie das Blinken verrückt machen“, heißt es, „legen Sie die Hülle ins Auto, damit’s aussieht wie eine Alarmanlage.“ Die revolutionär überflüssige Coverart kaschiert nicht die althergebrachten Klänge. Das Bombasttrio spielt sich linientreu kreuz und quer durchs Repertoire, von „Astronome Domine“ über „Dark Side …” bis „Division Bell“. Man kauft eigentlich nur Verpackung. Und kriegt einen Sound dazu, der die akustische Umsetzung eines aufgeblasenen Riesenschweins darstellt – kurz bevor es platzt.

      PJ Harvey

      „To bring you my Love” (1995)

      Ihr Album schleicht sich auf den leisen Sohlen einer verzerrten Sologitarre in die Rockwelt und wird vielleicht nie mehr daraus verschwinden. So wie Polly Jean Harvey der Gitarre ihre raue Stimme beifügt, wie sie die Orgel schwellen lässt und, im Verlauf der Platte, auf John Parishs bulligen Drums die alte Patti-Smith-Nummer abzieht – das alles riecht nach einem Klassiker. Der Titel „To bring you my Love“ könnte auch ein Madonna-Album schmücken,