Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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Land, das die Kaurismäkis hervorgebracht hat, ist alles zuzutrauen. Auch dass vier junge Cellisten sich abends nach der Musikhochschule hinsetzen, um Songs der Speedmetalband Metallica zu Celloquartetten umzuarrangieren – auf Instrumenten, die bis zu 250 Jahren alt sind. Das Ergebnis ist unglaublich aggressiv, aufregend und hochmelodiös. Denn manch schöne Melodie und feinkomponierte Wendung, die im Metallica-Gewitter unterging, erstrahlt hier in glitzernder Pracht – die Finnen haben Rohdiamanten feingeschliffen. So viel Kraft und Explosivität entlockte dem Cello noch niemand. Tschaikowski würde tanzen. Und Lars Ulrich wird baff sein.

      Beth Orton

      „Trailer Park” (1996)

      Seit Pentangles „Basket of Light“ hat niemand mehr die Formensprache des englischen Folk so radikal, so traumhaft sicher erweitert wie Beth Orton. Dabei schwingt in ihrem Timbre noch die Melancholie einer großen Schwester im Geiste mit: Sandy Denny. Beth aber singt kühler, wir spüren eine Härte, die dem euphorischen Folk der Gründerzeit noch abging. Und wir hören Klangräume, bei denen Jacqui McShee die Stirn gerzunzelt hätte: Unter den Akustikgitarren pochen oft dürre Grooves und raffiniert arrangierte elektronische Klagelaute. In Beth Ortons Musik steckt die ganze Prämilleniumverlorenheit der 90er, die sich auch abseits der Städte breitmacht – eben auch im Folk. Und dass Beth auch die Tradition beherrscht, zeigt ein Lied wie „I wish I never saw the Sunshine“. Seit Dylans lyrischem Ringen im „Wedding Song“ hat niemand mehr so bewegend um seine Liebe gekämpft wie sie. „If I never saw the sunshine“, singt sie im Refrain, „maybe I wouldn’t mind the rain.“ Wer da nicht schluckt, der ist aus Stein. „Trailer Park“ ist ein wegweisendes Album. Verwurzelt in der Geschichte, doch modern wie eines nur sein kann, das diese Wurzeln kennt.

      Blind Melon

      „Nico” (1996)

      Wir hören die Stimme eines Toten. Shannon Hoon, 28, Sänger von Blind Melon, trat unlängst ein in den Club der toten Drogenrocker. Dieses Album dokumentiert Konzerte und das, was unveröffentlicht übrig blieb. Es erinnert an den schmutzigen akustischen Bluesrock der frühen Led Zeppelin; Hoon singt sogar in Robert Plants Tonlage. Doch die Musik von Blind Melon ist introvertierter, sie richtet ihren Blick nach innen – und liefert den Soundtrack einer Isolation. In einem Stück singt Hoon zur Akustikgitarre, während draußen teilnahmslos der Verkehr braust. Eine Stimmung, als wäre er alleine auf der Welt.

      Bruce Springsteen

      „The Ghost of Tom Joad” (1996)

      Von Steinbeck hat er die Titelfigur, von sich selber die Idee: „Tom Joad“ ist Springsteens zweiter Rückzug ins Private nach dem dunklen Folkalbum „Nebraska“ (1982). Doch deutlicher als je verrät das nur mit Akustikgitarre, Harmonika und Keyboards eingespielte Album Springsteens Melodiegefängnis. Er variiert immer diesselbe Weise, und der Synthieschlier, der schon den Soundtracksong „Philadelphia“ zum (adäquaten) Rührstück formte, liegt unter der gepressten Stimme. Man soll meinen, in Bruce’ Schlafzimmer zu blicken, doch zu sehen ist nur die Dekoration eines Möbelhauses. Nichts aber gegen die songgewordenen Kurzgeschichten; sie sind auf proletarische Weise kraftvoll. Wie bei Steinbeck.

      Cocteau Twins

      „Milk and Kisses” (1996)

      Auf der Suche nach dem Sinn in Trance und schönen Stimmen dürfte bald eine neue Generation den Ätherpop der Schotten entdecken. Seit 14 Jahren füllen sie ein Klangmeer von so gewaltiger Ausdehnung, dass im Lauf der Zeit viele Gefolgsleute darauf in See stachen. Die Tiefe dieses vor allem mit Robin Guthries Hallgitarren ausgehobenen Marianengrabens erreichten manche mühsam, doch Elizabeth Frasers vokale Vollbäder vermochte niemand nachzuahmen. So bleibt es auch jetzt: Wir tauchen ein und halluzinieren von James Camerons Film „Abyss“, wo die lichte Erlösung aus der Tiefe kommt. Und dass die Twins die Melodie von „Half-gifts“ heimlich beim Tiefgründler Leonhard Cohen borgten, passt auch irgendwie.

      Counting Crows

      „Recovering the Satellites” (1996)

      Schon beim Sensationsdebüt vor vier Jahren war klar: Diese Band hat das Zeug zur Größe, Vergleiche muss man hoch ansetzen. Jetzt, beim zweiten Album, sehen wir: Sie ist groß. Und das liegt wesentlich an der Persönlichkeit des Texters, Komponisten und Sängers Adam F. Duritz. Seine Scheu sieht wie Miesepetrigkeit aus. Er versteckt sich gern in übergroßen Strickpullis und unter Rastalocken, die aus der Stirn zu streichen ihm selten in den Sinn kommt. Wenn er aber singt, ist der Mann ein vor Kraft berstender Songpoet mit der Gnade der rauen, brüchigen Stimme und dem Wunder ihres richtigen Gebrauchs. Duritz singt zu klassischer, manchmal um kreischende Streicher ergänzter Rockbesetzung von Zwischenzuständen, vom Warten, von der Schwebe. In seiner Welt ist nichts richtig an seinem Platz, alles ist gerade verloren, noch nicht gewonnen oder im Begriff zu verschwinden. Nur im Schlaf ist selbst das Irreparable umkehrbar; deshalb ist „Recovering the Satellites“ ein Album voller Morpheus’scher Metaphern – und übervoll mit hinreißender Emotionalität und fern jeder Besinnlichkeit. Ein aufgewühltes Werk. Und ein aufwühlendes.

      Cowboy Junkies

      „Lay it down/200 More Miles – Live 1985-95” (1996)

      Es war eine lange Reise ins Herz der Folkrockfinsternis. Dort im Dunkel aber fand sich nur Schönheit. Eine bisweilen herbe zwar, eine in flackerndes Kerzenlicht getauchte – aber Schönheit. Zehn Jahre sind die Kanadier nun auf Bühnen unterwegs; eine Dekade, die sich auf der Livedoublette „200 More Miles“ wie aus einem Guss präsentiert. Die Cowboy Junkies versuchten nie, ihr Spektrum – verschattete Traumgespinste mit Frauenstimme – zu erweitern. Die lange Reise hatte stets nur ein Ziel, und das haben sie auch auf der neuen Studioplatte „Lay it down“ im Blick: einen ätherischen Sound zu schaffen, langsam, voll und feingesponnen, um das Herz der Folkrockfinsternis zu bebildern. Und um den Mythos, die dunklen Geheimnisse und die unheimliche Aura amerikanischer Rootsmusik hinüberzuretten in eine digital dominierte Zukunft.

      David Munyon

      „Acrylic Teepees” (1996)

      John Lennon ist nicht tot. Ihm geht es gut, und er rockt durchs neue Jerusalem. Behauptet zumindest David Munyon, ein US-amerikanischer Singer/Songwriter vom Typus Wüstenkoyote: rau, bärbeißig und seelenverwandt mit Vic Chesnutt. Auch Munyon arrangiert seine Songs spröde und karg, nur mit Gitarre (elektrisch/akustisch), Bass und Drums; auch er findet im scheinbar erschlossenen Kosmos der Melodien immer noch eine, deren schlichte Schönheit unmöglich so lange übersehen werden konnte – und doch harrte sie, unentdeckt von den Dylans und Van Zandts dieser Welt, Jahrzehnte aus, bis Munyon kam. Und er soll – bitte, bitte – nie mehr gehen.

      David Torn

      „What means solid, Traveller?” (1996)

      Gleich zu Beginn liefert Torn eine zähnebleckend kalte Parodie auf Hendrix’ berühmtes „Purple Haze“-Riff. Grotesk übersteuert, fast lächerlich jaulend kratzt seine Gitarre die Erinnerung ans Vorbild frei, um unter blätternden Lackresten auf Unverhofftes zu stoßen: Groove. Torns Abgrasen der Jazzrock- und Avantgardegeschichte ist wütend und sammelwütig. Er sampelt Cannonball Adderleys Stimme und borgt sich Drumloops aus allen Ecken. Ein Album von unglaublicher Energie und Düsternis, das schon mal in Sekunden vom lyrischen Slideplinkern zum Metalriff rast. Für Gitarrenfetischisten, natürlich. Aber nicht nur.

      Ed Kuepper

      „Sings his greatest Hits for you” (1996)

      In einem Paralleluniversum nach meinem Gusto wäre Kuepper Kaiser. Seine Lieder, die die Welt braucht, aber zu missachten vorzieht, sind perfekte Popsongs mit makellosen Melodien und Pfiff. Stets zaubert das einstige Mitglied der Saints eine hübsche Arrangieridee aus dem Ärmel, die jedem Stück den besonderen Dreh gibt – ob’s