Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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solifreier Jazz, magische Rhythmen und ein pochender Funk. Sie werfen den Anker im Jazzrock und Funkjazz der 70er, revitalisieren ihn und zitieren die Vorbilder: von Roland Rahsaan Kirk bis Little Richard, von Sun Ra bis Papa John Creach. Poesie und Jazz kennen sich schon lange; mit dem deutsch-amerikanisch-englischen Projekt SCJ wachsen sie sich neu ans Herz, und ihr Enkel, der Groove, tritt selbstbewusst dazu. Ein Album mit sieben langen, uneitlen Stücken und einem Dialog a cappella, für das man sich nehmen sollte, was es verdient: Zeit.

      The Beatles

      „Live at the BBC” (1995)

      „… I’m Paul, I play the … eeeh … the BASS, hohoho!“ O wie jung sie waren, wie schnodderig, vergesslich und vorlaut! „And I’m John, I play the guitar, and sometimes the fool …”. So witzeln und lästern sie zwischendurch und wissen noch nicht, dass sie in wenigen Jahren berühmter sein werden als Jesus, dass sie die Queen, Drogen, Indien und hysterische Menschenmassen kennenlernen werden. Dieser vorbildlich mit allen Produktionsdaten und prächtigen Fotos ausgestattete Doppelpack in Mono versammelt 67 (!) bislang ungehörte Beatles-Aufnahmen, die 1963/64 in den BBC-Studios entstanden, darunter viele Rhythm’n’Blues-Standards, frühe Singles und sogar ein neuer Song! Produziert hat George „Sgt. Pepper“ Martin persönlich; manches, wie das scheppernd-dumpfe „Keep your hands off my Baby“, war wohl nicht zu retten, vieles aber hat Maestro Martin sorgsam entstaubt, ohne den Beattouch der heutigen Bassverliebtheit zu opfern. Denn flach muss er sein, der Beat, blechern und gut. Technisch waren die designierten Fab Four damals nicht die besten, aber so viel Spaß am Spielen und Albern hatten sie später selten. Ein pophistorisches Dokument sondergleichen – und als Beatles-Liveaufnahme eh konkurrenzlos, weil hier endlich mal kein Publikum derart loskreischt, dass es Paule wirklich wurscht sein kann, welche Klampfe er spielt.

      The Connells

      „Ring” (1995)

      Achtung, gewagte Vergleiche: Sie stehen zwischen Jayhawks und Jethro Tull, zwischen Hiatt und Hollies, zwischen Runrig und R.E.M. Die Connells aus Georgia haben jedenfalls von allen etwas; sie geografisch einzuordnen, fällt daher schwer. Doch man kann sich auch ganz unverortet diesen wunderschönen, vom beständigen Fluss aus angezerrten Gitarrentönen getriebenen Songs hingeben. Und diese Songs sind stark – Folge des Überangebots von Schreibern in der Band. Und wie berauschend wäre diese Platte erst, hätten die Connells einen ausdrucksstärkeren Sänger! Denn so schöne Lieder Mike Connell auch schreibt, als Vokalist ist er Durchschnitt. Einziges Manko eines hier noch zu entdeckenden Albums, das in den USA binnen 22 Monaten Stücker 150.000 absetzen konnte – vor allem wegen der traumhaften Dreampopballade „'74-'75“.

      The Shamen

      „Axis mutatis” (1995)

      Vor zehn Jahren als Gitarrenband gestartet, forcierten The Shamen bald den Raveboom und mieden danach zunehmend das Erdige. „Axis mutatis“ ist das Endprodukt dieser Entwicklung: elektronischer Housepop, der mehr mit sequenzieller deutscher Synthetik der 70er zu tun hat als mit den Gewitterbässen aktueller Tanzmusik. Ergo pulsen ausschweifende Tranceinstrumentals auch schon mal zwölf Minuten lang munter vor sich hin. Eine verführerisch atmosphärische Mischung – als spielten Tangerine Dream 10CCs Oldie „I’m not in Love“. Und das dürfte in den Clubs, in den Charts und auch im Reich der Kopf-Hörer auf offene Ohren stoßen.

      Tindersticks

      „Second Album” (1995)

      Er stiert vom Cover wie Kafka, der Max Brod auf dem Weg zum Verleger ertappt hat. Der Welten Schwere drückt auf Stuart Staples’ Schultern, gepresst nur entweichen seinem Mund die Worte, und die Combo hinter ihm quetscht scheu verstimmte Instrumente, auf dass verlorene Bläser, krummes Gegeige und Geplinker und eine greinende Hammond des Sängers Elegie in kratzige Wolldecken hüllen. Ein abgerissener, hoffnungsloser Haufen, diese Briten. Die Gastsängerin Carla Torgerson (Walkabouts) schafft es kaum, das Häuflein Elend aufzurichten. Nein, die Band zerbröselt lieber weiter Folk, Rock, Kirmesklänge und Barjazz, sammelt die Bröckchen auf und setzt sie geistesabwesend wieder aneinander – unnachahmlich. Das zweite Album ist noch skurriler als das Sensationsdebüt, noch langsamer, verwirrter, stiller. So viel entschlossener Pessimismus steckt in dieser britischen Band, dass man ihr eine große Zukunft prophezeien muss.

      Tricky

      „Maxinquaye” (1995)

      Portisheads einzigartiges Album „Dummy“ markierte 1994 den Beginn eines neuen Genres, das die Tiefe dem Ambient entlehnt, die (gebremste) Rhythmik dem House und Samples und Spreche dem HipHop. Tricky kommt aus Bristol; seine Erfahrungen bei der Rapband Fresh 4 verbanden sich trefflich mit seinem Wirken bei Massive Attack. Und nun liefert er den zweiten Höhepunkt dieses Genres, das noch keinen Namen hat. Es sind langsame, düstere Songs: Grooves für die Jahrtausendwende, gefüllt mit dem Lärm und dem Müll des 20. Jahrhunderts, voller Stimmen, Geräusche und bedrohlicher Unbeweglichkeit. Ein Brückenschlag zum avantgardistischen Housestil der Japaner um DJ Krush.

      Two Remarks

      „Two Remarks” (1995)

      Schmusepop aus Deutschland gibt’s doch gar nicht. Jetzt schon. Two Remarks sind zwei fußgängerzonengeschulte Holsteiner, die Süßes und Süßliches singen, und zwar himmlisch. Eine Boygroup für Twens sozusagen. Und ein perfekt ungleiches Paar. Denn was der eine zu viel hat, hat der andere zu wenig. Haare zum Beispiel. Oder Leibesfülle. Nur beim Stimmvolumen nehmen sie sich nichts. Und deshalb könnte sich schon bald manches Fußgängerzonenfußvolk wundern, die Schmusepopper vom letzten Sommer – weißte noch, Vadder, vor Aldi im Aujust: Wat ham die schön jesungen! – in den Charts wiederzufinden. (Nachtrag 2016: Das Album wurde nie veröffentlicht.)

      Urge Overkill

      „Exit the Dragon” (1995)

      Trotz der Eckpunkte Easybeats und Deep Purple spielen Urge Overkill keinen Crossover. Die Zutaten und Stilmittel ihres Gänsehautrocks scheinen so authentisch wie frisch erfunden – eine wunderliche, trickreiche Harmonie der Gegensätze. „Digital black Epilogue“ etwa schraubt sich hoch zur orchestralen Hymne, aber die drohende Dekadenz löst sich in großartigem Chaos auf. Und dem Flower-Power-Song „Somebody else’s Body“ fahren plötzlich Bläsermesser ins Mark. Grandios, wie stimmig sie Klangfarben mischen. Auf „The Mistake“, einem schleppenden Geistersong, ist es ein synthetischer Klageschrei, der an eine elektrische Harmonika erinnert. Und stetig röhrt die Strat, scheppern die Teller, findet das US-Trio Riffs und Refrains, die reif sind für die Rockannalen. Dass dies noch möglich ist nach dem Antiformalismus der letzten Dekade, der die Genreplatte scheute wie Zappa den Collins – ein Wunder. Rock für die Ewigkeit. Und für die Charts.

      Verschiedene Künstler

      „A Means to an End. The Music of Joy Division” (1995)

      1980, kurz nachdem Ian Curtis sich erhängt hatte, war ich in England. Damals wechselten die Teens gerade die Kleiderfarbe. Sie trugen jetzt Schwarz und lächelten nicht mehr und waren kurz angebunden. Curtis, Sänger von Joy Division und König der Hoffnungslosigkeit, hatte ihnen die Hoffnung genommen. Damals schien das respekteinflößend konsequent: vom Tod nicht nur zu singen, sondern ihn auch zu suchen. No future. Das hätte die Poseure des Rock, die koketten Hohlköpfe der großen Geste zum Schweigen bringen müssen für immer. Hat es aber nicht. Egal: Poseure kriegen Hits, aber nicht solche Tributes. Joy Division kriegt eins. Codeine errichten „Atmosphere“ kontrapunktisch zum Original als dürres Gerüst unter grauem Himmel, Stanton-Miranda geben „Love will tear us apart“ (der postumen JD-Single) Tempo und Tiefe. Viele, die hier kondolieren, verzichten auf Keyboards, zitieren aber die geslappten, schleppenden Wavebässe und jene schmutzigen Rhythmusgitarren von 1980, die in kühle Kurzriffs verliebt waren und so was wie Soli bourgeois fanden. Viel Verzerrtes, Schattiges ist auf diesem Tributesampler, und wenn man ihn hört, wechseln die Kleider wieder die